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Neue Dokumente

Mehr „Furchtappelle“: Die Bundesregierung beeinflusste den Corona-Expertenrat

Weil der Corona-Expertenrat zu wenig Alarmismus verbreitete, forderte die Bundesregierung Änderungen an den Stellungnahmen des Gremiums. Das zeigen neue Dokumente. Gesundheitsminister Lauterbach sprach gar von einem „Furchtappell“ in Bezug auf Long Covid.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach scheint in eigentlich wissenschaftlich unabhängigen Gremien in der Pandemie für seine Positionen geworben zu haben – auch im Corona-Expertenrat.

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Weil der Corona-Expertenrat der Bundesregierung in seinen Ausführungen nicht alarmierend genug auftrat, veranlasste das Bundeskanzleramt Änderungen oder gar Verschärfungen der Formulierungen in den öffentlichen Stellungnahmen, die auch in den politischen Entscheidungsprozess einflossen. Das geht aus einem neuen, 500 Seiten schweren Dokument der Welt am Sonntag hervor, das auch den E-Mail-Verlauf zwischen dem Gremium und dem Kanzleramt zeigt. Demnach habe die Behörde immer wieder eingegriffen und Empfehlungen ausgesprochen, um die Ausführungen des Expertenrats zu dramatisieren.

Der Corona-Expertenrat war neben dem Krisenstab des Bundesinnenministeriums und des Bundesgesundheitsministeriums sowie dem Krisenstab des Robert-Koch-Instituts eines von drei wichtigen Gremien, das in der Pandemie Maßnahmen evaluierte und Entscheidungen über das Vorgehen gegen Covid-19 beeinflusste oder veranlasste. Auch die Protokolle des gemeinsamen Krisenstabs von BMI und BMG sowie die Protokolle des RKI-Gremiums sind bereits öffentlich einsehbar und beinhalten brisante Informationen (Apollo News berichtete hier und hier).

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Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit

Die Expertenrat-Protokolle bis Juli 2022 wurden zwar bereits Mitte dieses Jahres veröffentlicht, offenbarten bis dato aber noch nicht den Sprengstoff wie die Dokumente der anderen Gremien. Das hat sich jetzt geändert. Die von der Welt am Sonntag unter Verweis auf das Informationsfreiheitsgesetz angeforderten und veröffentlichten Dokumente von April 2022 bis April 2023 umfassen nicht nur die restlichen Protokolle, sondern auch die Kommunikation zwischen dem Bundeskanzleramt und dem Expertenrat.

Erhebliche Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit werden deutlich – dabei war das Gremium doch „mit der Beratung der Bundesregierung auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse zur COVID-19 Pandemie beauftragt“, wie es auf der eigenen Webseite heißt.

Als Beispiel führt die Welt am Sonntag eine am 15. Mai 2022 veröffentlichte Stellungnahme zu Long-Covid-Erkrankungen an. Im Original hatte der Expertenrat – dem unter anderem der damalige RKI-Präsident, Lothar Wieler, die Virologen Hendrik Streeck und Christian Drosten, aber auch die Medizinethikerin Alena Buyx sowie die Professorin für Gesundheitskommunikation, Cornelia Betsch angehörten – noch geschrieben: „Die bislang verfügbaren Daten sprechen dafür, dass die Prävalenz von ME/CFS, die präpandemisch bei 0,1 bis 0,8 % lag, in der Folge der Pandemie deutlich ansteigen wird.“

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Das Kanzleramt bat um eine Korrektur – neben dem Änderungsvorschlag fällt die Nachricht des Amtes vor allem mit einer fatalen Grammatik auf: „Für die Leihen (sic!) ist ein prozentualer Anteil von 0,1 bis 0,8 % sehr gering“, bemängelte die Behörde. Der Expertenrat entschied sich in der Folge dazu, den Satz anzupassen: „Vor der Pandemie wurde für Deutschland mit etwa 250.000 ME/CFS Betroffenen gerechnet, darunter etwa 40.000 Kinder und Jugendliche. Die Zahl der Betroffenen wird infolge der SARS-Co 2-Pandemie deutlich ansteigen“, sollte stattdessen in der Stellungnahme festgehalten sein.

Der Expertenrat hatte während seines Bestehens zwischen Dezember 2021 und April 2023 in 33 Sitzungen zwölf Stellungnahmen erarbeitet, die eine wissenschaftliche Position zur politischen Herangehensweise an Covid-19 darlegen sollten – unter anderem eben auch zu Long Covid, das Markenthema von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, der auch an den Sitzungen teilnahm. Auf Anfrage der Welt am Sonntag behauptete das Bundeskanzleramt, es seien maximal „Stellungnahmen, falls gewünscht, redaktionell (auf Tippfehler, Redundanzen, Ausdrücke und Verständlichkeit) geprüft“ worden – die Dokumente beweisen das Gegenteil.

Angstmacherei als Regierungslinie: Lauterbachs „Furchtappell“

Der Versuch einer politischen Einflussnahme zeigt sich auch in der Sitzung vom 29. August 2022, als der SPD-Politiker gemeinsam mit dem Expertenrat evaluierte, wie man verschiedene Altersgruppen für Impfungen gewinnen könne – immerhin hatte das Bundesgesundheitsministerium 80 Millionen Impfdosen für den kommenden Winter bestellt. Das Problem nur: Ende August 2022 waren bereits rund 65 Millionen Menschen in Deutschland mindestens einmal gegen Covid-19 geimpft, die Sommerwelle schien gerade gebrochen, das Thema interessierte die Bevölkerung nicht mehr.

Lauterbach drängte deshalb auf einen „Furchtappell“, um vor allem Jugendliche für eine Aufklärung über die „Folgen einer Long-COVID Infektion“ zu sensibilisieren. Ein nebulöser Ausdruck, war über Long Covid zu diesem Zeitpunkt doch verhältnismäßig wenig bekannt. Am selben Tag veröffentlichte Lauterbach zudem einen Beitrag auf X, in dem er behauptete: „Viele 20-50-Jährige werden im Herbst, bei steigenden Corona-Fallzahlen, eine Entzündung ihres Gehirngewebes als Folge von Long-Covid erleben“ – auch wenn das nicht stimmte. Zuvor hatte der SPD-Politiker das Thema auch im RKI-Krisenstab in die Debatte gebracht (Apollo News berichtete).

Auszug aus den Protokollen des Corona-Expertenrats der Bundesregierung vom 29. August 2022. Quelle: Welt.

Ähnlich wie im RKI-Krisenstab stieß Lauterbach auch im Corona-Expertenrat auf Widerworte: „Der Einsatz eines Furchtappells bzgl. einer potenziellen Gefahr von Long COVID wird vom ExpertInnenrat kritisiert“, heißt es in dem Protokoll. Lauterbach rückte dennoch bis heute nicht von seiner Position zu Long-Covid ab. Bis heute ist Long-Covid Lauterbachs Steckenpferd. Derzeit investiert die Bundesregierung 150 Millionen Euro in die Forschung der Langzeiterkrankung. Währenddessen berichtet der Gesundheitsminister regelmäßig von einer halben Million Long-Covid-Patienten allein in Deutschland – verlässliche Daten gibt es dazu aufgrund der uneindeutigen Symptomatik aber nicht.

Kritische Medien werden intern bemängelt

Aus den von der Welt am Sonntag veröffentlichten E-Mail-Verläufen geht auch hervor, dass sich der Expertenrat mit der medialen Wahrnehmung der erarbeiteten Stellungnahmen auseinandersetzte. In einer internen E-Mail an zwei Mitglieder des Rates vom 12. Juli 2022 wird festgehalten, dass die meisten „Berichte sehr sachlich gehalten“ sind und „die Empfehlungen des Expertenrats als Information“ weitergegeben haben. Doch es gebe auch „einzelne Medienbeiträge, die wertend berichten“, heißt es in der E-Mail. Übermäßig willkommen war eine hinterfragende Berichterstattung offenbar nicht, der Wortlaut lässt vermuten, dass der Expertenrat die eigenen Stellungnahmen medial hofiert sehen wollte. Aber: „Besonders kritisch bzw. wertend berichten BILD und Welt.“

Was „besonders kritisch“ heißen sollte, wurde im Mail-Anhang erläutert. Hier finden sich exemplarisch jeweils drei Artikel der Welt sowie der Bild. In diesen Beiträgen wurde fehlende Transparenz bemängelt, Kritik an der Auswahl des Expertenrates geübt, weil dieser von der Bundesregierung unter Olaf Scholz ins Leben gerufen und kuratiert wurde, sowie kritische Stimmen aus dem Parlament sowie dem Expertenrat selbst, wie es beispielsweise bei Hendrik Streeck geschah, übernommen. Vor allem die Welt fiel mit hinterfragenden Positionen auf – wirklich in die Mangel wurde der Expertenrat aber auch hier nicht genommen.

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