Kretschmer oder Berger
Auf einmal könnte ein Freier Wähler Ministerpräsident von Sachsen werden
Michael Kretschmer möchte sich heute als Ministerpräsident von Sachsen wählen lassen – doch ihm fehlt eine absolute Mehrheit. Im zweiten Wahlgang reicht zwar die relative Mehrheit – die könnte unter Umständen dann aber der einzige Freie Wähler im Landtag bekommen.
Am Mittwoch soll in Sachsen ein neuer Ministerpräsident gewählt werden. Ein riskantes Unterfangen für den derzeitigen Amtsträger Michael Kretschmer. Der CDU-Politiker tritt zwar gleich gegen zwei Kandidaten an, den AfD-Landesvorsitzenden Jörg Urban und den fraktionslosen Matthias Berger von den Freien Wählern, was die Stimmen zugunsten von Kretschmer verteilen könnte. Allerdings hat der ehemalige Bundestagsabgeordnete keine Regierungsmehrheit im Rücken: Die Koalition aus CDU und SPD kommt lediglich auf 41 und zehn, also insgesamt 51 Sitze im Landtag.
Dieser besteht aus 120 Abgeordneten. Im ersten Wahlgang ist eine absolute Mehrheit von mindestens 61 Stimmen notwendig, um sich zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen. Kretschmer fehlen also mindestens zehn Stimmen. Im zweiten Wahlgang reicht dann die Mehrheit der abgegebenen Stimmen: entscheiden sich beispielsweise nur 100 Abgeordnete für einen der Kandidaten, gewinnt derjenige mit mindestens 51 Stimmen.
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Neben der CDU und der SPD ist die AfD mit 40 Abgeordneten, das BSW mit 15, sowie Grüne und Linke mit sieben beziehungsweise sechs Abgeordneten und die Freien Wähler eben mit einem Mandatsträger im Landtag vertreten. Um den ersten Wahlgang für sich zu entscheiden, ist Kretschmer also auf Stimmen der Grünen und der Linken angewiesen – beide lehnen eine Wahl Kretschmers ab oder wollten sich noch nicht festlegen.
Die Grünen streben sogar eine Änderung des Wahlverfahrens an, sodass gegen alle Kandidaten mit Nein gestimmt werden kann und entweder neue Kandidaten aufgestellt werden oder im Falle einer fehlenden Einigung Neuwahlen ausgerufen werden müssen. Die sächsische Verfassung sieht die Wahl des Ministerpräsidenten innerhalb der vier Monate nach der Landtagswahl vor – bis zum 3. Februar muss ein neuer Amtsinhaber gewählt sein.
Die Änderung soll bezwecken, so die Grünen, dass ein Kandidat auch ohne die Stimmen der AfD gewählt werden kann. Das geschah 2020 in Thüringen: Der FDP-Politiker Thomas Kemmerich wurde in eigentlich geheimer Wahl zum Ministerpräsidenten gewählt. Weil jedoch klar war, dass dies nur durch Stimmen der AfD möglich war, stieg der öffentliche Druck und Kemmerich trat nach drei Tagen zurück.
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Dieses Szenario wollen die Grünen nach eigenen Aussagen verhindern. Möglich wäre es sowieso erst im zweiten Wahlgang. Der wiederum ist realistisch, weil sich auch das BSW, das zunächst Koalitionsverhandlungen mit CDU und SPD geführt, dann aber wegen Meinungsverschiedenheiten plötzlich verlassen hatte, nicht zu Kretschmer bekennen wollte. Vielmehr forderte die Partei Zugeständnisse der Koalition im Gegenzug für die kostbaren BSW-Stimmen – Kretschmer wiederum hielt fest, das BSW wolle nicht koalieren, also würden CDU und SPD jetzt einen anderen Weg gehen.
Daher ist auch die Zustimmung aus dem BSW für Kretschmer ungewiss. Die BSW-Fraktionsvorsitzende Sabine Zimmermann hielt zuletzt noch fest, die Ministerpräsidentenwahl erfordere keinen Fraktionszwang, die Partei könnte auch gespalten abstimmen. Dass nach dem Fiasko um die Friedenspräambel, die das BSW unbedingt schon vor dem Beginn von Koalitionsgesprächen setzen wollte und trotz acht verschiedener Versionen und einer eigentlich angenommenen Version noch einmal ändern wollte, mindestens zehn der 15 Abgeordneten für den CDU-Kandidaten stimmen, ist eher unwahrscheinlich (Apollo News berichtete).
Auch ob Berger und Urban bereits im ersten Wahlgang antreten, ist noch nicht geklärt. Und somit könnte, bei Enthaltung von Grünen, Linken und einem großen Teil des BSW, keine Mehrheit im ersten Wahlgang für Kretschmer stimmen. Daraufhin würde ein zweiter oder mehrere Wahlgänge – die Anzahl ist nicht begrenzt – stattfinden, bei denen dann also die Mehrheit der abgegebenen Stimmen reicht. Hier könnte Berger zum ernsthaften Konkurrenten für Kretschmer werden.
Weil sich die Grünen auch hier aufgrund ihrer Ablehnung aller Kandidaten enthalten könnten und die Linke kaum mit der AfD stimmen würde, fallen theoretisch 13 Stimmen weg. Nun würde Kretschmer weiterhin auf 51 Stimmen durch CDU und SPD kommen. Sollte der AfD-Kandidat Urban auf seine Kandidatur verzichten und stattdessen mit seiner Fraktion für Berger stimmen, käme diese Option mit Bergers eigener Stimme bereits auf 41 Stimmen. Die entscheidende Partei wäre das BSW, das die Brandmauer längst eingerissen hat.
Wie auch die AfD forderte das BSW nach den Landtagswahlen einen Corona-Untersuchungsausschuss in Sachsen – ein zentrales Wahlkampfversprechen beider Akteure. Während die Wagenknecht-Partei jedoch nicht über die notwendigen 20 Prozent für die Einsetzung eines solchen Gremiums im Landtag verfügt, konnte die AfD das Vorhaben aus eigener Kraft durchwinken – das BSW stimmte dennoch ebenfalls für den Antrag, was bei den damals noch laufenden Koalitionsgesprächen zu Auseinandersetzungen mit der SPD führte.
Welche Szenarien möglich sind
Es ist also denkbar, dass das BSW oder zumindest große Teile der Partei mit der AfD für den FW-Politiker Berger stimmen. Somit könnte dieser auf 56 Stimmen kommen – fünf mehr als Kretschmer – und somit Ministerpräsident werden. Die Chancen für Berger sind schwer einzuschätzen. Einerseits, weil nicht klar ist, ob das BSW nicht doch für Kretschmer stimmt. Und andererseits, weil die AfD ankündigte, bei Urban bleiben zu wollen. Klar ist: Kretschmer hat Gespräche mit den Grünen und – wie auch Berger – mit dem BSW geführt, um deren Zustimmung zu erlangen.
In den vergangenen Wochen führten Kretschmer und andere CDU-Politiker außerdem Gespräche mit dem AfD-Kandidaten Urban – eine Zusammenarbeit kam aber nicht zustande, wenngleich einige CDU-Politiker darauf drängten (Apollo News berichtete). Berger hat gegenüber Urban und Kretschmer einen möglicherweise entscheidenden Vorteil: Seine, als einziger Freier Wähler eindeutig distanzierte Haltung ermöglicht Kompromisse. Bergers Vorschlag, eine Expertenregierung einzusetzen, dürfte vor allem beim BSW Anklang finden.
Wagenknecht selbst hatte Ende November noch erklärt, eine solche Regierungsform sollte nach der Bundestagswahl am 23. Februar eingeführt werden. Bergers Plan für Sachsen sieht eine Verschlankung des Regierungsapparates vor: Statt neun soll es sechs oder sieben Minister geben. Diese wiederum sollten nicht aktive Abgeordnete, sondern Experten mit Berufserfahrung von mehr als zehn Jahren sein. Vor allem günstige Energie, die allgemeine Senkung der Lebenshaltungskosten und die Digitalisierung des Verwaltungsapparates sollen dann angegangen werden. Die Regierung solle auf Integration statt Migration setzen – eine Stationierung von Angriffswaffen soll abgelehnt werden. Ein Punkt, mit dem Berger einmal mehr bei BSW-Abgeordneten punkten dürfte.
Im ersten Wahlgang dürfte sich das weitere Verfahren also vermutlich an den Stimmen des BSW entscheiden. Selbst wenn die Linke für Kretschmer stimmen würde, fehlten dem CDU-Politiker noch vier Stimmen. Kommt es zum zweiten Wahlgang, dürfte zumindest seitens des BSW klar sein, dass Berger als favorisierter Kandidat gilt. Dann ist jedoch die Frage, ob die AfD von Urban ablässt. Stimmt die Fraktion für den parteieigenen Kandidaten, werden 40 Stimmen in den Ring geworfen, Kretschmer wäre mit den 51 Abgeordneten von CDU und SPD also sicher.
Stimmen AfD und BSW geschlossen und vollzählig für Berger, erlangt der die angesprochenen 56 Stimmen, wäre damit fünf Stimmen vor Kretschmer. Dieses Szenario könnte verhindert werden, indem drei BSW-Abgeordnete für Kretschmer stimmen oder die Linken-Fraktion doch noch ihre Zustimmung erklärt und den CDU-Kandidaten wählt. Die größten Chancen sind also Kretschmer einzuräumen, wenngleich im Falle eines zweiten Wahlgangs Bergers deutlich steigen dürften. Urban gilt währenddessen als abgeschlagen – es sei denn, Berger verzichtet auf seine Kandidatur und stimmt mit dem BSW für den AfD-Politiker.
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Ich kann ihn nur die Daumen drücken, damit die Spirale endlich durchbrochen wird, und die ganzen „Brandmauern“ zum Teufel geschickt werden. Viel, viel Glück
Alles Gute Herr Berger! Eine Klatsche für Kretsche würde dem Taurus-Fritz sicher nicht gefallen.
Wenn Sachsen das erste Bundesland wird, in dem ein Brandmaurer seinen Posten verliert, weil er sich bei den Linken anbiedert, mache ich ein Fass auf. -Hoffentlich haben genug CDU-Direktkandidaten Angst, bei der nächsten Wahl durch einen AfD-Kandidaten ersetzt zu werden, und wählen ihren Chef ab, der sie in eine Sackgasse führt.
Was sich wie in roter Faden durch den politischen Zirkus zieht: Es geht nicht um die Interessen des Volkes, Landes, der Bürger und Wähler, es geht um Machtkalkül, Intrigen und Pakt mit dem Teufel, wenn es sein muss. Vielleicht kann sich Herr Berger mal mit Herr Urban zusammensetzen und eine gemeinsame Lösung finden? Wer von beiden das Rennen macht ist gemäß m.M. sekundär, primär wäre eine Abwahl der CDU schon ein Erfolg.
Dieses permanente geklüngel, dass sie es irgendwann mal begreifen, hoffe ich auf Berger auch wenn er ebenso zum System gehört…
Und die Grünen entlarven sich einmal mehr als eine keinesfalls „demokratische“ Partei. Regeln nach belieben zu ändern um eigene Positionen zu stärken – das hat mit „meiner“ Ansicht zur Demokratie so gar nichts gemeinsam.
Das ist spannend. Geschichten die das Leben schreibt.
Sollte es zum zweiten Wahlgang kommen und die AfD verzichtet zu Gunsten Bergers, Hut ab. Dann zeigt die Parzei, dass es ihr tatsächlich an Sachsens und Deutschlands wohlergehen gelegen ist.
Bergers Argumente klingen überaus vernünftig und ja, so sollte ein Land geführt werden.