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Wen wir dieses Jahr verloren haben

Geschenke bleiben verpackt, Plätze am Weihnachtstisch leer - über zehn Menschen, die viel zu früh aus dem Leben gerissen wurden. Zehn Menschen, die in diesem Jahr Opfer von sinnlosem Terror und Mord wurden in Mannheim, Solingen, Magdeburg.

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„Ihr Kinderlein, kommet, o kommet doch all“ – für mich gibt es kein Lied, das ich so sehr mit Weihnachten verbinde wie dieses. Als ich klein war, musste ich es meiner Familie jedes Jahr auf der Blockflöte vorspielen, bevor ich an die leckeren Lebkuchen und Schokoladenherzen durfte, die meine Mutter liebevoll auf dem Festtisch drapiert hatte. Ich habe gespielt, meine Schwester hat gesungen – erst danach klingelte irgendwann das Glöckchen vom Weihnachtsmann (das er komischerweise jedes Jahr bei uns Zuhause vergaß). Erst dann konnte ich endlich ins Wohnzimmer kommen und meine Geschenke auspacken. Damals war ich ungefähr neun Jahre alt. So alt wie André.

Der kleine Junge mit den großen braunen Augen, den lustigen Segelohren und dem sympathischen Lächeln wird dieses Jahr an Weihnachten fehlen. Seine vier großen Geschwister werden alleine mit ihrer Mutter Désirée am Weihnachtstisch sitzen. Andrés Platz bleibt leer, seine Geschenke werden nie ausgepackt – er wird nie wieder singen, lachen, mit einem seiner drei Brüder raufen oder seine Schwester in den Arm nehmen. Denn André ist tot. 

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Er wurde vier Tage vor Weihnachten ermordet. Die Behörden wussten von den irren Gedanken des Taleb Al-Abdulmohsen, von seinen zahllosen Drohungen, er kündigte einen Anschlag öffentlich an. Trotzdem geschah nichts – er kam nicht in die Psychiatrie, nicht ins Gefängnis, wurde nicht abgeschoben. 

Ihr Versagen ist der Grund dafür, dass Andrés Mutter an Weihnachten eine Beerdigung organisieren muss. Sie sind verantwortlich dafür, dass das Letzte, was Désirée für ihren „kleinen Teddybär“ tun konnte, ist, ihn „nochmal um die Welt fliegen“ zu lassen – sein Bild und ihre herzzerreißenden Abschiedsworte mit uns allen zu teilen. Andrés Mutter ist jedoch nicht die einzige, die an diesem Tag jemanden verloren hat. Neben ihrem neunjährigen Sohn wurden vier Frauen im Alter von 45, 52, 67 und 75 Jahren bei dem Terroranschlag in Magdeburg getötet – auch ihr Leben und das ihrer Angehörigen wurde für immer zerstört. 

Wir wissen nicht, wie sie heißen, ob sie Kinder, Geschwister oder Ehemänner hatten. Doch wir wissen die Namen der drei Menschen, die vor vier Monaten in Solingen auf einem „Festival der Vielfalt“ von einem syrischen Islamisten hingerichtet wurden. Einer von ihnen ist Ines W., eine Apothekerin aus Waldersee. Vor drei Tagen wäre sie 57 Jahre alt geworden. Statt diesen Tag mit ihr zu feiern, mussten ihr Ehemann und ihr erwachsener Sohn so kurz vor Weihnachten Blumen auf ihrem Grab niederlegen. Sie wird nie wieder Kanufahren oder sich ehrenamtlich für Integration engagieren – all das tun, was sie liebte. 

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Ihr Sohn wird den Abschluss seines Studiums ohne sie feiern, genau wie Weihnachten. Ines ist weg, für immer – ohne dass sich jemand von ihr verabschieden konnte. Sie starb in den Armen ihres schwer verletzten Mannes, unweit von Florian H. aus Düsseldorf. Der 56-Jährige wollte an diesem Tag einfach die Musik der Festband genießen – das war eine seiner Leidenschaften. Und vielleicht war es auch ein Ausgleich dafür, dass er sich bis zuletzt aufopferungsvoll um seine kranke Mutter gekümmert hat – so beschreiben es seine Kollegen von der Webtechnologie-Firma ab.data in einem Nachruf. Florian war in dem Team der Mann, der mit „Erfahrung, Umsicht, Ausgeglichenheit und Sozialkompetenz“ den „ruhenden Pol“ bildete. Er sei ein Mensch gewesen, „wie man sich ihn als guten Freund wünscht“.

Der quälende Wunsch, ihn wiederzusehen und die Hoffnung, dass er nun an einem besseren Ort ist, sind das Letzte, was seiner Schwester, ihrem Mann und Florians Mutter bleibt – genau wie den Angehörigen von Stefan S., der seinen Ruhestand nur drei Jahre genießen konnte, bevor ihn Issa al Hasan brutal aus dem Leben riss. Stefan liebte Billard, Straßenbahnen und Frachtschiffe. Bevor er sich seinen Traum verwirklichen konnte, mit ihnen um die Welt zu reisen, hatte er 30 Jahre in den Kalkwerken Oetelshofen in Wuppertal gearbeitet. Seine Arbeit und seine Kollegen hatte er offenbar so geschätzt, dass er ihnen auch nach der Rente noch Kuchen vorbeibrachte. 

Dieses Jahr können sie ihm nicht mehr danken – nur noch eine Kerze anzünden oder ein Gebet für ihn sprechen. Das werden wohl zumindest die Eltern von Philippos tun – dem 20-Jährigen, der nach der Abiballfeier seiner Schwester Chanel in Bad Oeynhausen von einem 18-jährigen Syrer totgeschlagen wurde. Als der junge Deutsch-Grieche, ein begeisterter Musiker, noch mit schweren Hirnverletzungen im Krankenhaus lag, versuchte seine Mutter Joanna alles. Sie und ihre Familie haben „viel gebetet“ und sogar einen „Pastor gerufen“. Freunde der Familie seien in die „Kirche gegangen“. All diese Versuche, all das Hoffen, Flehen und Bangen, waren jedoch vergebens. Philippos starb an schweren Schädel-Hirn-Verletzungen.

Jetzt können seine Mutter, sein Vater und seine Schwester nur noch versuchen den grauenvollen Prozess zu vergessen. Zu vergessen, wie Mwafak S. im Gerichtssaal grinste, als die Anklage verlesen wurde – dass er sich mit Philippos Parfum eingesprüht hat, nachdem er ihm immer und immer wieder gegen den Kopf getreten hatte. Doch all das werden sie wahrscheinlich nie vergessen können, auch und gerade nicht an Weihnachten. Ähnlich wird es der Familie von Rouven L. gehen. Er wurde nur 20 Tage vor Philippos ermordet. 

Rouven war der Polizist, der in Mannheim sein Leben opferte, um einen afghanischen Islamisten zu stoppen, ihn daran zu hindern Michael Stürzenberger und andere Islamkritiker mit einem Messer zu töten. Die Sicherung der Kundgebung war ein Einsatz, auf den er sich lange vorbereitet hatte – er war ihm wichtig. Anders als mancher andere wollte er dafür sorgen, dass auch Menschen wie Michael Stürzenberger aussprechen können, was sie denken. Denn Rouven waren wenig Dinge so heilig wie Artikel 5 des Grundgesetzes: die Meinungsfreiheit. Auch deshalb war er ein vorbildlicher Polizist. Er war ein Mensch, der anderen auf Augenhöhe begegnen wollte. 

Vor 10 Tagen hätte Rouven seinen 30. Geburtstag gefeiert – hätte seine Freunde eingeladen und seine Familie in den Arm genommen. Dass er das nicht mehr kann, ist nicht nur die Schuld von Sulaiman Ataee – es ist auch die des deutschen Staates. Der Afghane war neun Jahre lang illegal in Deutschland. Sein Asylantrag war schon 2014 abgelehnt worden. Er hatte kein Recht, das Leben in Deutschland auch nur einen Moment länger zu genießen – das Leben, den Wohlstand und Rechtsstaat eines Landes, das er verachtet hat. 

Auch das Versagen und die Tatenlosigkeit des Staates hat Rouven das Leben gekostet. Politisch sind Rouven, Philippos, Ines, Stefan, Florian, André und die vier ermordeten Frauen aus dem Großraum Magdeburg nur Namen und Zahlen – sie sind schlechte Publicity. Doch für ihre Angehörigen waren sie ihr ganzes Leben. Sie werden für immer fehlen. Zu Weihnachten sollten wir an sie denken. 

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