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Wenn das Wahlergebnis egal wird

Die Teile der Wahlrechtsreform, die nicht für verfassungswidrig erklärt wurden, haben es dennoch in sich. Auch Wahlkreis-Gewinner können unter Umständen nicht in den Bundestag einziehen - der Wählerwille wird egal. Ist das nicht ein fatales Signal?

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Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts hat unter Vorsitz von Vizepräsidentin Doris König am Dienstag ein Urteil zur Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition gefällt. Das Gericht erklärte die im März 2023 beschlossene Reform teilweise für verfassungswidrig. Die Abschaffung der Grundmandatsklausel, so die Karlsruher Richter, ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Trotz der teilweisen Aufhebung der Wahlrechtsreform bestätigte das Gericht wesentliche Elemente der Neuregelung.

Die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition sieht eine Deckelung der Bundestagsmandate auf 630 vor. Gegenüber dem Status quo bedeutet dies eine Reduzierung der Abgeordneten im Deutschen Bundestag um rund 100. Als zentralen Aspekt der Reform hat das Bundesverfassungsgericht zudem die Abschaffung von Überhangs- und Ausgleichsmandaten gebilligt sowie das Zweitstimmendeckungsverfahren abgenickt. Demnach soll die Zweitstimme ab der kommenden Wahl die sogenannte „Hauptstimme“ sein. In der Praxis wird damit einhergehen, dass auch Wahlkreisgewinner künftig nicht mehr in den Bundestag einziehen können, wenn ihre Partei über die Zweitstimmen nicht genügend Mandate erringt.

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Das Bundesverfassungsgericht nimmt an „verwaisten“ Wahlkreisen jedoch keinen Anstoß. In der Argumentation des Verfassungsgerichts heißt es, dass sich die Arbeit von Listenkandidaten und direkt gewählten Parlamentariern im Wesentlichen nicht unterscheiden würde. Weder Gebote einer Regionalisierung noch der Wahlkreisrepräsentation würden im Verfassungsrecht Widerhall finden. Das Bundesverfassungsgericht sprach damit dem Verhältniswahlrecht im Grunde genommen einen höheren Stellenwert als dem Personenwahlrecht zu.

Leiden werden unter dem Zweitstimmenverfahren vor allem die Parteien, die regional besonders fest verankert sind. Dies zeigt sich schon exemplarisch, wenn man das neue Wahlrecht fiktiv auf das Wahlergebnis der Bundestagswahl von 2021 anwendet. Um zumindest etwas der Gefahr vorzubeugen, dass ganze Wahlkreise von keinem Abgeordneten mehr vertreten werden, ist die Ampel von ihrem anfänglichen Plan, die Zahl der Abgeordneten auf 598 festzuschreiben, abgerückt.

Das Grundgesetz sieht eigentlich vor, dass genau eben jene 598 Abgeordnete im Deutschen Bundestag sitzen. Davon sollten exakt 299 als Direktkandidaten und 299 über die jeweilige Landesliste ihrer Partei in den Bundestag einziehen. Durch die zunehmende Zersplitterung des Parteiensystems blähte sich der Bundestag jedoch durch Ausgleichs- und Überhangsmandate immer mehr auf. Die Ampel hat die Zahl der Mandatsträger nun auf 630 festgelegt. Hiermit soll gesichert werden, dass zumeist die Wahlkreise weiterhin von einem direkt gewählten Mandatsträger repräsentiert werden.

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Zahlreiche Wahlkreise werden ohne Direktmandate dastehen

Unter den neuen Regeln wären absolut gesehen zunächst einmal alle Fraktionen kleiner ausgefallen. Bei direkt gewählten Mandatsträgern hätte insbesondere die CSU einen Schwund verzeichnet. Vor rund drei Jahren erzielten die mit der Erststimme zu wählenden Direktkandidaten der CSU in 45 der 46 bayerischen Bundestagswahlkreise eine relative Mehrheit. Nach der neuen Regelung wären nun in Bayern 9 der Wahlkreise ohne direkt gewählten Vertreter. Im gesamten Bundesgebiet kommt man auf 25 Wahlkreise, die ohne gewählten Direktkandidaten dastehen würden.

Bei der kommenden Bundestagswahl, voraussichtlich im September 2025, würden unter dieser Regelung vor allem die Direktkandidaten von AfD und CDU leiden. Betrachtet man die Wahlergebnisse der Europawahl vom 9. Juni, dann stellt man fest, dass zumindest nach dem Verhältniswahlrecht die Union ganz überwiegend die Wahlkreise in West- und die AfD ganz überwiegend in Ostdeutschland gewonnen hat. Bei der Bundestagswahl 2021 sah das noch ganz anders aus.

In Baden-Württemberg und Bayern ging die Zahl der Mandate überwiegend an Vertreter der Union. Bayern und Baden-Württemberg sind auch die Bundesländer, bei denen die mit Abstand meisten Wahlkreise „verwaist“ gewesen wären (zusammengerechnet 20 der 25 bundesweit). Nach jetzigem Stand dürften beide Parteien also in den jeweiligen Bundesländern deutlich mehr Direktmandate gewinnen, als ihnen nach Zweitstimmen zustehen. Nach der Bundestagswahl 2025 werden also wohl zahlreiche Bundestagswahlkreise keinen direkten Vertreter mehr im Parlament haben.

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