Berlins zweiter Morgen: Auf der Suche nach dem verschollenen Wähler
Süß und bitter, wach und benebelt - diese neue wöchentliche Kolumne von Elisa David ist ein Espresso Martini in Times New Roman. Denn wer will seinen Sonntag schon mit einem einfachen Espresso starten - oder schlechter Lektüre?

Berlin wacht mehrmals auf. Die vielen verschiedenen Brunch-Restaurants öffnen alle erst um 10 Uhr, es ist schwer, guten Kaffee vor neun zu finden. Gemächlich machen sich die Studenten mit ihren Kokosmilch-Matcha-Lattes zur S-Bahn auf, die vielen Startup-Mitarbeiter hocken ab der Mittagszeit mit ihren Laptops in den Cafés, schieben Termine in ihrem Google Kalender und Diagramme in PowerPoint-Präsentationen hin und her und trinken über Stunden an dem gleichen kleinen Cappuccino. In den Berliner Kaffeepreisen ist die Tagesmiete eines kleinen Tisches schon längst inbegriffen.
Setzt man sich am Wochenende mal in ein solches Brunch-Restaurant und lässt sich auf eine Vollkornstulle mit glitzerndem Rote-Bete-Hummus und Feta-Rührei ein, bestellt den Latte Macchiato explizit mit Kuhmilch, riskiert schiefe Blicke und nimmt einfach nur seine Umgebung wahr, kann man hier sehr viele interessante Lebenswege kennenlernen. Die junge Mutter, die sich bei ihrer Freundin darüber beschwert, wie sehr ihre Kinder ihre offene polygame Beziehung erschweren. Die kleine Band, die ihr Vorstellungsgespräch bei einem Plattenlabel bespricht.
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Die Arbeitskolleginnen, die sich über die letzte Firmenfeier in der Töpferwerkstatt unterhalten und darüber herziehen, wie sehr Sabrina ihre hübsche eingeritzte Sonnenblume doch mit ihrem gewagten Farbblasen-Puste-Trick zerstört hat. Die überschätzt sich ja immer selbst. Das Date, das wohl ins Leere laufen wird, wenn er nicht langsam aufhört, ihr zu erzählen, dass er ja so gut bei Frauen lande, weil er so ein enges Verhältnis zu seiner Mutter und seinen Schwestern hat. Das Date, das wohl ins Leere laufen wird, wenn die junge Dame nicht bald damit aufhört, zu referieren, welche Form von selbstloser Retter-Komplex ihre Therapeutin bei ihr festgestellt hat.
Therapie ist ein großes Ding in Berlin und mit Abstand das beliebteste Brunch-Gesprächsthema. Stundenlang bezahlt man eine Therapeutin dafür, sich alle Lebenskrisen und Polygamie-Terminschwierigkeiten anzuhören, um sich dann stundenlang mit seinen Freundinnen hinzusetzen und alles nochmal zu erzählen. Auffällig ist auch, dass alle immer diagnostiziert bekommen, dass sie einfach zu gute Menschen sind und mal egoistischer sein sollten. Die Freundinnen nicken eifrig und dann verabreden sie sich zum Töpfern. Töpferwerkstätten sind in Berlin gerade aus dem Boden gesprossen und es scheint sich hierbei um ein außerordentlich gutes Geschäft zu handeln.
Vormittags an einem Werktag gehen junge Leute um die 30 genauso gemächlich mit ihren Hunden spazieren wie die Rentner mit ihren Rollatoren. In der türkischen Bäckerei hilft ein Junge beim Tischwischen aus, der eigentlich längst in der Schule sein müsste. Zeit existiert nicht in Berlin, jedenfalls nicht um diese Zeit. Doch wenn das Matcha-Latte-Therapie-Töpfer-Klientel so langsam in die Cafés schlurft, wacht Berlin bereits zum zweiten Mal auf. Wenn man Berlin wirklich verstehen will, muss man morgens um sechs in eine S- oder U-Bahn seiner Wahl steigen. Man bekommt nie einen Platz, die Bahnen tummeln sich mit Männern in farbverschmierter Arbeitskleidung und Frauen in pastellfarbenen Arztpraxenuniformen.
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Wer weiß, was Chai Latte ist, hat wenig Kontakt zu diesen Menschen mit Job, aber ohne LinkedIn-Account. Und auch wenn ich von dem linken Brunch-Klientel von „denen“ schreibe, müssen doch sie und ich uns wohl schmerzlich eingestehen, dass man als Studentin und Teilzeitkolumnistin wohl nicht zur bodenständigen Arbeiterklasse gehört. Und so treffe auch ich nur gelegentlich auf dieses andere Berlin. Die Politik meint zu glauben, was diese Menschen wollen. Doch sie waren nie morgens um 6 in der S-Bahn.
Ich auch nicht so oft, aber wenn man um die Mittagszeit in einem kleinen Lotto-Laden, der gleichzeitig auch Tabakwaren, Alkohol, Souvenirs, Süßigkeiten und den billigsten Kaffee im Kiez verkauft, ein Päckchen abholt, kann man mit etwas Glück auch einen kleinen Blick in diese andere Welt erhaschen. „Dit is alles so furchtbar mit diesen Kriegstreibern!“, verkündet ein Mann. Er zeigt der Frau, mit der er spricht, einen neuen Telegram-Kanal, den er kürzlich entdeckt hat, und referiert von den geheimen Plänen der Nato.
Die Frau hört ihm lange still zu und nippt an ihrem Kaffee, während sie zustimmend nickt. Ihr Gesprächspartner berlinert immer mehr, als er zu den allgemeinen Verbrechen der politischen Elite übergeht. „Ik hab dit alles durchschaut, mit mir kann man dit nich mehr mit machen!“ „Und wen wählst du?“, fragt die Frau und bricht ihr Schweigen. „Na, den Bundeskanzler!“ „Was?!“ „Ja natürlich, ohne den wäre der Taurus doch längst in Moskau einjeschlag’n!. Wen soll man sonst wählen?“ „Na die AfD!“ „Was? Die mit ihren ganzen Korruptionsskandalen? Die sind für mich unwählbar.“
„Die AfD will alle Ausländer rausschmeißen, ist dir das klar?“ Die kleine Frau Mitte 50 plustert sich auf: „Quatsch, nur die, die hier nicht hergehören.“ „Nein, es ist wahr, die wollen wirklich alle rausschmeißen!“ Plötzlich verliert die Frau, die ihren Kaffee inzwischen ausgetrunken hat, die Fassung und ruft unerwartet laut aus: „Ja, die sollen ja auch alle raus!“ Der Türke hinter der Kasse verzieht keine Miene. Die beiden stiefeln diskutierend aus dem Laden und lassen eine verdutzte Gruppe von Touristen zurück, die bestimmt gerne mit Zivilcourage reagiert hätte, aber zu perplex dafür war.
Wenn Politikwissenschaftler und Sozialforscher sich mal tatsächlich mit der Masse auseinandersetzen würden, die in Deutschland die Wahlen bestimmt, sie wüssten danach gar nicht mehr, was sie den Parteien raten würden, auf die Plakate zu schreiben. Man bleibt lieber dabei, sich eine romantisierte Version dieser Menschen auszumalen, die man mit „Zuversicht“ und „Mieten runter!“ schon irgendwie eingefangen bekommt. Am Ende wählen dann stille Frauen die AfD und Telegram-Verschwörungstheoretiker den Bundeskanzler, während beim Brunch die Partei nach Lieblingsfarben ausgesucht wird. Die Menschen in Berlin sind doch komplizierter, als man denkt.
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Danke für diesen launigen, in Teilen humorvollen Artikel am Sonntagmorgen.
Nur, wer wissen will, wie es um Berlin steht, dem genügt ein Blick in die Zahlen des Länderfinanzausgleiches. Einfach mal abdrehen, diesen gefühlt unerschöpflichen Geldhahn. DAS wäre schon mal EINE Maßnahme.
Gegen die Vollkornstulle mit Rote-Bete-Hummus wäre nichts einzuwenden, wenn dann auch beim Abrollen des Fußgelenkes auf die Feinstaubbelastung geachtet wird! Die Besten sind aber die, die viel Wert auf das „Super-Food“ Avovado legen, denn die ist so gesund und vegan! Daß die aus Südamerika stammt und extrem viel Wasser braucht, das man den Einheimischen dafür abdreht, spielt keine Rolle, denn die kommen ja aus dem Supermarkt und „wir“ retten das Klima!
Ersetzt wahrscheinlich etliche RBB-Reportagen, die ich eh nie gucken würde. Besten Dank für das Stimmungsbild. Und jetzt geh ich wählen.
Ich war vor zwanzig Jahren das letzte mal in Berlin.
Jetzt, nach Lesen der Kolumne weiß ich , das ich nie wieder hinfahren werde.
Moin die Leser sollten froh sein ,das in der Kolumne nicht noch über Sauberkeit und Ordnung geschrieben wurde.
Denn Berlin erstickt im Dreck. Müll ,Sperrmüll Tierhinterlassenschaften besprühte Häuser u.s.w. Von der Kriminalität ganz zu schweigen ebenso die Obdachlosen.
Und wenn man alle zusammennimmt die nicht zum Wohlstand beitragen kann man verstehen warum die Hauptstadt an Tropf der anderen hängt. Da hilft auch nicht Det is Berlin..
Sie sollten sich schämen.
Denn die Verursacher wohnen im Speckgürtel schön abgeschirmt.
Ja Wandlitz ist überall………
So…
Punkt 09:14 Uhr Taxe ist da, Rollator ist auch frisch geschmiert ….
Ab gehts…
„Weidel wählen“…
Nicht nur Berlin, das gilt auch für meine Heimatstadt, die ewige SPD-Hochburg: Ein Hoch auf die Leute, die dafür verantwortlich sind, dass solche Städte doch ein „bisschen eigenes Bruttosozialprodukt zustande bekommen“ und deshalb heute genau wissen, welche Partei sie wählen müssen!
Das Kuriosum an dieser Geschichte
ist ja, das die Chai-Latte-Generation
meint, völlig unverzichtbar zu sein,
auf dem Arbeitsmarkt.
Sind halt gaaaaaaanz wichtige
Leute, aber müssen halt beim Elek-
trofachbetrieb anrufen wenn es
darum geht, mal eine Glühlampe
zu wechseln.
Denn zuhause, bei Mama, macht
das ja Papa, und Der, ist Handwer-
ker !😉
Wenn ich ungewollt Gespräche mitbekomme in Cafés oder auch zwischen normal arbeitenden Menschen, denke ich oft voll Erschrecken: Das sind ja alles Wähler! Tja… Danke für den schönen Text!
Danke für die feinsinnigen Beobachtungen. So startet der Sonntag schön. Nicht vergessen: es gibt andere Orte in
Deutschland da ist es genau so.