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Wer taktisch wählt, hat sich als Demokrat schon aufgegeben

Das Ergebnis der Brandenburg-Wahl ist gezeichnet von einem Trend, der sich "taktisches Wählen" nennt. Tausende haben mit ihrer Stimme gezockt und verloren. Eine Selbstaufgabe der demokratischen Vielfalt.

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Ricarda Lang ist wütend, nämlich auf die taktischen Wähler. „Wenn nur noch taktisch Wählen im Vordergrund steht, also wer ist eigentlich das kleinere Übel neben der AfD, wird das zum Problem für alle demokratischen Parteien“, erklärte die Grünen-Bundesvorsitzende Lang gegenüber Phoenix.

Angesichts der mickrigen 4,1 Prozent und der damit verbundenen Verfehlung der 5-Prozent-Hürde ist es kein Wunder, dass die Grünen nichts Positives über die Wahl zu sagen haben. Wie Umfrageergebnisse von Infratest dimap ergeben, sind von anderen Parteien die meisten gewanderten Wähler in Brandenburg von den Grünen zur SPD gewechselt. Lang hatte schon recht – die Grünen sind bei den taktischen Wahlen unter die Räder gekommen.

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Wäre es andersherum gewesen, hätte weder Ricarda Lang noch sonst jemand bei den Grünen wohl noch etwas gegen das Prinzip der taktischen Wahl. Immerhin kamen Aufrufe zur taktischen Wahl auch aus dem grünen Spektrum. Gewissermaßen sind die Grünen jetzt auch in einer komfortablen Situation. Sie haben eine herbe Wahlniederlage erlitten, die sie nicht vollständig auf ihre Kappe nehmen müssen – obwohl ihr Ergebnis ohne den Hype um das taktische Wählen wahrscheinlich nicht viel besser ausgefallen wäre.

Das alles vorweg – trotzdem muss ich jetzt etwas tun, was ich sonst eher nicht oft tue: Ricarda Lang recht geben. Auch ein opportunistisches Huhn findet ja mal ein Korn. Das taktische Wählen ist wirklich extrem schädlich. Und die Tatsache, dass so offen dazu aufgerufen wurde und dass es anscheinend niemanden wirklich gestört hat, zeigt eigentlich, dass wir uns als Demokraten längst aufgegeben haben.

Taktisches Wählen ist so ein Unding, mit dem ich meinen persönlichen Privatkrieg führe, seit ich in der Schule im Politikunterricht zum ersten Mal davon erfahren habe. Da hat unser Lehrer uns das Konzept beigebracht, als wäre es das Normalste von der Welt, die politische Allgemeinbildung, die man als mündiger, wahlfähiger Bürger eben so weiß. Danach hat er mit uns Übungen zum Anwenden gemacht, um sicher zu gehen, dass wir alle verstanden haben, wie man seine Stimme „geschickt“ einsetzt.

Taktisch wählen per Generator

Damals mag das alles noch lustiges Planspiel gewesen sein, bei der Brandenburg-Wahl sehen wir wo der Gedanke zu Ende gedacht hinführt. Dann bleibt nur noch ein einziges Wahlargument: „Wähle mich, dann verhinderst du die AfD“. Genauso lief „taktisches Wählen“ bei den letzten Landtagswahlen ab. Die grüne Lokalpolitikerin und brandenburgische Direktkandidatin Erdmute Scheufele hat etwa aktiv Wahlkampfveranstaltungen gemacht, bei denen sie für die SPD geworben hat. So schrieb es die Zeit kurz vor der Wahl in ihrem Stück „Hauptsache, keine AfD“. „Hauptsache, die AfD vertritt meine Region nicht im Landtag. Deshalb rate ich allen, ihre Erststimme Ulf Kühnel von der SPD zu geben und taktisch zu wählen“, sagte sie der Zeit. Sie vertraue darauf, dass ihre Partei über Direktkandidaten in den Landtag kommt oder indem sie die 5-Prozent-Hürde schafft. Das war wohl nix.

Im Zeit-Artikel wurde auf eine Initiative verwiesen: „Taktisch Wählen“ nennt die sich. Auf ihrer Internetseite taktisch-wählen.de findet sich ein Generator, in dem man seine Postleitzahl angeben kann und dann erhält man eine errechnete Wahlempfehlung für die Kandidaten mit den besten Chancen gegen die AfD für die Erststimme, beziehungsweise für die Zweitstimme für die Parteien, die in den Landtag kommen müssen, um eine Sperrminorität oder gar eine Mehrheit der AfD zu verhindern.

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„Landtag – aber normal!“, ist da der Slogan. „Verhindere einen verheerenden Sieg populistischer Parteien bei der Landtagswahl 2024, indem du deine beiden Stimmen taktisch klug einsetzt.“ Für Brandenburg hat das in der Zweitstimme bedeutet, dass dringend zur Wahl der Grünen oder der Linken geraten wurde. Die Berechnung dahinter war, dass es wichtig wäre, beide Parteien in den Landtag zu bringen, denn sollte sie an der 5-Prozent-Hürde scheitern – wie es ja nun doch passiert ist – würden umso mehr Sitze auf die AfD aufgeteilt.

Die Zeit war nicht die einzige Zeitung, die für diese Initiative gewissermaßen Werbung gemacht hat. Die taz ließ einen der Mitgründer, Tristan Runge, in einem Gastbeitrag zu Wort kommen. „Auch wenn’s wehtut“, heißt der Beitrag. Nach eigenen Angaben wurde die Website gut besucht, Ende August will die Initiative 70.000 Wahlempfehlungen abgegeben haben und freute sich über die rege Resonanz.

Am Ende sind nun Linke und Grüne trotzdem rausgeflogen. Und das nicht – so jedenfalls meine Interpretation der Wahlergebnisse – trotz der taktischen Wähler, sondern wegen der taktischen Wähler. Wie man an den Umfrageergebnissen der grünen Wählerwanderung sehen kann, haben es offensichtlich viele als ihre patriotische Pflicht erachtet – Sie wissen schon, im Kampf gegen den Faschismus und den Untergang der Demokratie – gerade nicht die Grünen zu wählen. Die Botschaft der Initiative Taktisch Wählen hat wohl nicht so richtig die Runde gemacht.

Vom taktischen zum Protestwähler ist es nicht weit

Und das ist eines der beiden größten Probleme, das ich mit dem taktischen Wählen habe. Es ist ja ziemlich gerissen betitelt, „taktisches Wählen“. Wer möchte sich nicht mal fühlen wie bei House of Cards und an großen gerissenen politischen Manövern beteiligt sein? Ich beobachte jedenfalls, dass das taktische Wählen weniger bei den unentschlossenen Wählern ankommt und viel besser bei den politisch Interessierten, die sich für ganz besonders schlau halten.

So wirklich viel Taktik ist ja auch nicht dabei. Wenn man den pseudointellektuellen Namen mal ignoriert, ist taktisches Wählen einfach das Wählen, was alle anderen auch wählen. Oder: Der Masse hinterher rennen. Klingt plötzlich gar nicht mehr so taktisch und gerissen. Und ich kann noch einen drauflegen. Wenn man seine ganze Wahl darauf auslegt, gegen etwas zu sein, etwas zu verhindern, jemandem eins auszuwischen, macht einen das nicht zu einem – Protestwähler?

Uff, jetzt erreichen wir ja schon Pegida-Fahrwasser. Protestwähler klingt gar nicht mehr so sehr nach jemandem, der ein Bloomberg-Terminal hat und lieber CNN statt Netflix schaut. Protestwähler klingt nach Mettbrötchen von der Tanke und Bild-Zeitungen. Das kann man als abgewanderter Grünen-Wähler doch eigentlich unmöglich mit seinem Gewissen vereinbaren, oder nicht?

Und damit kommen wir zu meinem zweiten Grund gegen die „taktische Wahl“ und ich weiß, das klingt jetzt total pathetisch: Doch es ist das Aufgeben der eigenen Prinzipien. Tausende von Menschen fahren ihre Kinder jeden Tag mit dem Lastenfahrrad zur Schule, putzen sich die Zähne mit biologisch abbaubaren Holzzahnbürsten und schlafen nachts unter einem Robert Habeck-Schrein – doch sie haben die SPD gewählt, um irgendein Albtraumszenario abzuwehren, das jetzt trotzdem eingetreten ist.

Ich gehe lieber das Risiko ein, dass ich nicht mit einer verstellten Version von mir selbst gewinne, wenn ich dadurch das Risiko verhindern kann, als eine verstellte Version von mir selbst zu verlieren. Da gehe ich lieber als der unter, der ich bin. Ich kann mir nichts Ärgerlicheres vorstellen, als mit Bauchschmerzen eine Partei zu wählen, die man eigentlich so gar nicht haben will, nur um dann festzustellen, dass ich meine Stimme völlig umsonst verschenkt habe.

Ich bin ehrlich gesagt nicht umfassend von dem Konzept der 5-Prozent-Hürde überzeugt. Doch in einem Wahlsystem, in dem es diese Hürde nun einmal gibt, sollte man sich schon mal überlegen, ob man das Risiko, seine Stimme „zu verschenken“, nicht doch eingehen will. Denn das Wählen ist doch nicht dafür da, sich von irgendwelchen Strömungen treiben zu lassen oder sich in etwas reinquatschen zu lassen, sondern das zu wählen, was man haben will. Wer taktisch wählt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er nie mit der Politik zufrieden ist.

Wer taktisch wählt, macht sich abhängig. Abhängig von der Mehrheit, abhängig von Umfragen. Ich würde niemals irgendwelchen Internetgeneratoren oder Umfrageinstituten meine Zukunft anvertrauen, wie missbrauchsanfällig wäre das denn bitte. Taktisch wählen ist, als würde man im Wahllokal in die Wahlkabine des Nachbarn schauen, um zu sehen, was der so wählt.

Wer pokert, verliert manchmal. In dieser Wahl haben so gut wie alle verloren. Denn was ist aus uns geworden? Ein Land mit drei Blöcken: AfD, BSW und der ganze Rest. Nicht nur könnten die drei unterschiedlicher kaum sein, der ganze Rest wird unter sich auch noch feststellen, dass „gegen die AfD“ keine politische Linie ist, mit der man Politik machen kann.

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