An diesem Samstag findet die wohl wichtigste Präsidentschaftswahl des Jahres außerhalb der USA statt – und zwar am anderen Ende der Welt. Taiwan wählt nämlich seinen nächsten Präsidenten. Warum aber sollte uns das interessieren? Ein kleines Land, weit weg.
Ähnlich sahen es wohl auch viele hierzulande als in der Ukraine die letzte Präsidentschaftswahl stattfand und dort ein unbekannter Komiker gewann, namens Wolodymyr Selenskyi. Dass der später einmal eine Rolle spielen würde, bei der alle Augen der Welt auf ihm liegen, hätte damals keiner gedacht. Wenn es zu einer chinesischen Invasion in Taiwan kommt, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie in der Amtszeit des taiwaneisschen Präsidenten stattfindet, der heute gewählt wird.
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China und Taiwan: Countdown zum Krieg
In deutschen Medien eher unbeachtet, spitzt sich die Lage im Taiwan-Konflikt dramatisch zu. In Deutschland scheint sich kaum einer mit dem unvorstellbaren Ausmaße und Konsequenzen zu befassen. Stattdessen darf die Insel bestenfalls als Argumentationshilfe in der Ukraine-Debatte hinhalten – dabei ist Taiwan aber eben nicht die Ukraine 2.0Ein möglicher Taiwan-Krieg ist zwar bei weitem nicht so vergleichbar mit dem in der Ukraine, wie es im Westen viele Kommentatoren vorschnell meinen, allerdings steht fest: Die geopolitischen und wirtschaftlichen Implikationen eines Taiwan-Krieges wären um ein vielfaches gewichtiger als die des Angriffs auf die Ukraine.
Wie in der Ukraine ist auch in Taiwan der Präsident Oberbefehlshaber der Streitkräfte, anders als das osteuropäische Land hat Taiwan aber ein Präsidialsystem, das auf den ersten Blick dem US-amerikanischen ähnelt. Tatsächlich baut es aber auf einem eigenen, in fünf statt drei Staatsgewalten aufgeteilten System auf, das im vergangenen Jahrhundert viele Änderungen durchlaufen hat. Neben dem Exekutiv-Yuan, Legislativ-Yuan und Justiz-Yuan, den drei klassischen Gewalten, gibt es noch den Kontroll-Yuan, der ähnlich eines noch mächtigeren Rechnungshofes die Regierungarbeit im Auge hat und Amtsenthebungen anstoßen kann, und den Prüfungs-Yuan, der die Qualifikation von Beamten unter die Lupe nimmt. Dazu kommt noch der Präsident, der primär die Regierung also den Exekutiv-Yuan steuert.
China und Taiwan – wie steht man zueinander?
Dieses System ist schon allein deshalb anders, weil der Staat auf Taiwan tatsächlich älter ist als die Volksrepublik auf dem chinesischen Festland. Es handelt sich bei ihm um die „Republik China“, die vor der kommunistischen Volksrepublik einst den Großteil Festland-Chinas beherrschte – und dann nach Verlusten im chinesischen Bürgerkrieg 1948 nach Taiwan flüchtete, das zuvor von Japan besetzt und erst nach der Kapitulation frei war.
Trotz des Rückzuges vom Festland auf mehrere Inseln, bis 1950 etwa auch noch die tropische Insel Hainan, repräsentierte die Republik China von da aus weiter noch jahrzehntelang ganz China in Beziehungen zu anderen westlichen Ländern und auch in Form des chinesischen Sitzes im UN-Sicherheitsrat. All das änderte sich erst in den 70er und 80er-Jahren als viele Staaten Handel mit dem sich (wirtschaftlich) öffnenden Festland aufnahmen und dazu ihre diplomatische Anerkennung von der Republik China zur Volksrepublik China verschoben.
Einige wenige Staaten im Pazifik und Südamerika plus dem Heiligen Stuhl in Rom erkennen dennoch bis heute Taiwan als Republik China an. Ist Taiwan also Teil Chinas? Und welche Beziehung ergibt sich damit zum Festland? Das ist eine der entscheidenden Linien in der politischen Landschaft Taiwans, um die sich zwei Lager gebildet haben. Dabei will keine der beiden Seiten eine Unterordnung Taiwans unter kommunistische Herrschaft vom Festland. Aber es gibt durchaus ein unterschiedliches Staatsverständnis.

Auf der einen Seite steht die traditionsreiche Kuomintang (KMT). Sie ging 1912 aus der zuvor von Sun Yat-sen im Exil auf Hawaii gegründeten Gesellschaft zur Wiedererweckung Chinas hervor und spielte seitdem eine entscheidende Rolle in der Geschichte Chinas.
Sun wurde nach dem Fall der Qing-Dynastie erster Präsident der Republik China und wird für seine Rolle in der Revolution bis heute sowohl in der Republik China als auch in der kommunistischen Volksrepublik verehrt. Suns politische Philosophie der „Drei Prinzipien des Volkes“ basierte auf Nationalismus, Demokratie und „Volkswohlfahrt“, unter anderem beeinflusst von Abraham Lincolns Prinzip der „Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk“, die für das damalige monarchistische China als revolutionär galt.
Die gewünschte Republik konnte allerdings nicht so leicht errichtet werden, wie man dachte. Der Kaiser war zwar abgesetzt, aber das Land war geplagt von Warlords und dem Eindringen der Japaner. Zudem spaltete sich der linke Flügel der Kuomintang als Kommunistische Partei Chinas ab, mit der die KMT bald in einem ersten Bürgerkrieg steckte. Mit der japanischen Invasion 1937 verbündeten sich beide Partei kurzzeitig, wobei die Kommunisten den Nationalisten den Großteil des Kampfes überließen und selbst ihre Kräfte schonten – um dann nach dem Ende des Weltkriegs den Bürgerkrieg fortzusetzen.
Unter der Führung von Chiang Kai-shek musste sich der Kuomintag mit seiner Nationalen Revolutionsarmee auf die Insel Taiwan zurückziehen – obwohl man doch gerade erst den lange versprochene Errichtung eines demokratischen chinesischen Staates mit Verfassung und freien Wahlen erreicht hatte. Nun de facto im Exil plante Chiang und seine Partei die Rückkehr aufs Festland und einen Sieg im festgefahrenen chinesischen Bürgerkrieg. Dazu kam es am Ende aber nie. Das kommunistische Festland war allein zahlenmäßig inzwischen weit überlegen.
Auf den ersten Blick müsste nun also der Kuomintag heute der vermeintlich „China-feindlichste“ Akteur in Taiwan sein – das sieht aber anders aus: Im KMT-Verständnis repräsentiert man weiterhin den wahren chinesischen Staat, der nun geteilt ist, aber weiterhin Anspruch auf den Rest hat – ähnlich der deutschen Teilung. Anders als aber in den 50ern und 60ern ist die allzu feindselige Haltung zu den Kommunisten aufgewärmt und man ist bereit im Sinne eines gemeinsamen Chinas mit zwei verschiedenen Staaten zumindest engere Beziehungen zum Festland zu suchen, auch wenn man sich formell nicht gegenseitig anerkennt.

Deutlich kritischer gegenüber China und dem Konzept von Taiwan als Teil eines chinesischen Staates steht das Lager, angeführt von der DPP, der Demokratischen Progressiven Partei, die aktuell unter Präsidentin Tsai Ing-wen seit nun schon acht Jahren die Regierung stellt. Sie repräsentiert den Teil der Inselbewohner, der sich auch in seiner Identität von China weg entwickelt hat und den KMT kritisch sieht. Denn nicht zu vergessen sind auch die unter Chiang Kai-shek und seinen Nachfolger erfolgten autoritären Einschränkungen, die nach dem Rückzug auf die Insel in Folge der „kommunistischen Rebellion“ erfolgten und in den 80er und 90ern mit Taiwans Demokratisierung endeten.
Heute sehen immer mehr Taiwaner sich selbst genau als das: Als Taiwaner, nicht mehr als Chinesen, wie vielleicht noch vor 30 oder 40 Jahren. Nicht wenige von ihnen wollen demnach auch eine gewisse Form von Unabhängigkeit, also ein Ende des formellen, aber unrealistischen Anspruchs auf Festland-China und die einhergehende Änderung des Staatsnamens und womöglich der Flagge – und damit verbunden die Hoffnung auf wieder formelle Anerkennung durch andere Länder, diesmal eben nicht als „Republik China“ sondern Taiwan.
Dem im Weg steht paradoxerweise gerade Festland-China, das ein Ende des „Republik China“-Anspruchs auf Ganz-China oder eine formelle Namensänderung als Unabhängigkeitserklärung und damit Kriegsgrund ansehen würde – einen Krieg, den Peking sich mittelfristig vorbehält, wenn es nicht zu einer „friedlichen Wiedervereinigung“ kommt. Die DPP-Regierung jedenfalls verfolgt keine formelle Unabhängigkeit, Staatsumbennung, etc., sondern die Fortführung des Status quo, unter dem das Land formell als „Republik China“ mit dem Verständniszusatz „(Taiwan)“ firmiert und darauf besteht, dass man eben bereits unabhängig von der Volksrepublik sei.
Die Kandidaten
Bei der Präsidentschaftswahl am Samstag treffen nun also die Kandidaten von KMT und DPP aufeinander. Für die regierende DPP tritt Tsais Vizepräsident Lai Ching-te an, für den KMT Hou Yu-ih, Bürgermeister von Neu-Taipei, der bevölkerungsreichsten Stadt der Insel. Eigentlich hatte sich die Opposition nach acht Jahren DPP gute Chancen ausgerechnet die Regierungspartei abzulösen, die große Frage war allerdings: durch wen? Denn mit der TPP, der taiwanesischen Volkspartei, gibt es nun eine dritte politische Partei in der politischen Landschaft, die sich als Alternative zu sowohl KMT als auch DPP präsentiert.
Um die Kräfte der Opposition zu einen, war dann geplant, ein gemeinsames Ticket aus KMT und TPP zu formen, denn in Taiwan wird wie auch in den USA der Präsident und Vizepräsident mit einer gemeinsamen Stimme als Block gewählt. Die beiden Parteien konnten sich aber nicht einigen, wer den deutlich mächtigeren Präsidentschaftsposten erhält. Und so tritt Ko Wen-je, früherer Bürgermeister der Hauptstadt Taipei (nicht zu verwechseln mit dem umliegenden Neu-Taipei) jetzt separat für die TPP an und erzeugt ein Drei-Mann-Rennen um die Präsidentschaft. In Umfragen liegt so die DPP mit Lai vorne. Für einen Sieg benötigt der amtierende Vizepräsident nur eine relative Mehrheit. Der KMT hat sich inzwischen von seinem Tief erholt und die TPP überholt.
Manche von Pekings Propagandisten drehen jetzt die Werbetrommeln für den Kuomintang und ihren Kandidaten – auch in Taiwan wollen es einige zur „Wahl über Krieg oder Frieden“ machen, mit der Implikation, dass ein China-freundlicherer Kurs mit dem KMT Peking beschwichtigen und von einer Invasion der Insel abhalten könnte.

Aber Pekings Ziel ist eben nicht auf vermeintlich bessere Beziehungen beschränkt. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping hat dies erst in seiner Neujahrsansprache deutlich gemacht. „Die Wiedervereinigung des Mutterlandes ist eine historische Unvermeidlichkeit“, sagte Xi dort und verlangte: „Die Landsleute auf beiden Seiten der Taiwanstraße sollten ein gemeinsames Ziel verfolgen und sich am Ruhm der Wiederbelebung der chinesischen Nation beteiligen.“
Der Kuomintang mag zwar bessere Beziehungen zum Festland suchen als die aktuelle Regierung, das macht ihn aber längst noch nicht zur fünften Kolonne Pekings. Eine solche „Wiedervereinigung“ unter kommunistischer Herrschaft lehnen fast alle in Taiwan ab – das Festland müsste sie erzwingen. Auch der Koumintang will im Angesicht dieser Bedrohung die Streitkräfte der Republik China deutlich ausbauen. Präsidentschaftskandidat Hou sieht seine Strategie in drei Prinzipien: „Abschreckung, Dialog, Deeskalation“
Und um zum, wenn auch schwierigen, Ukraine-Vergleich zurückzukehren: Auch dort war der Präsident dem großen Nachbarn vor der Invasion nicht extrem abgeneigt, sondern offener als andere Präsidenten der Post-Maidan-Zeit. Selenskyj gewann in der Präsidentschaftswahl als selbst russischer Muttersprachler und Anti-Establishment-Kandidat viele der russischsprechenden Gebiete in der Ostukraine, die gerne als prorussisch präsentiert wurden. Trotzdem lieferte er keine Kapitulation in Angesicht der vermeintlich auswegloses Lage, gerade in den ersten Kriegstagen.
Peking will mitmischen
Ein freiwillige Unterordnung Taiwans unter Pekings Herrschaft bleibt jedenfalls unter beiden Parteien undenkbar. Und Einschüchterungstaktikten Pekings könnten erneut nach hinten losgehen. Schon 2000 als mit Chen Shui-bian der erste DPP-Kandidat Präsident wurde und damit eine halbes Jahrzehnt KMT-Regierungen beendete, versuchte Chinas kommunistische Regime das Ergebnis gegen ihn zu beeinflussen warnte damals Taiwans Bürgern den „Unabhängigkeitskandidaten“ Chen zu meiden und erklärte: „Egal, wer in Taiwan an die Macht kommt, Taiwan wird niemals unabhängig sein dürfen.“ All das brachte nichts und Chen wurde Taiwans erster Nicht-KMT-Präsident.
Ähnlich war es zwei Jahrzehnte später wieder Peking, das mit der Niederschlagung der Proteste in Hongkong auch Taiwans Einwohnern zeigte, dass das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ am Ende in einer unanfechtbaren Herrschaft der kommunistischen Partei endet. Genau unter diesem Prinzip hatte Chinas Regime aber immer eine Eingliederung Taiwans in das Land vorgeschlagen. Das war keine Option mehr für die Taiwaner, die in der folgenden Wahl DPP-Präsidentin Tsai trotz vorheriger Verluste ihrer Partei in anderen Wahlen nun eine deutliche Wiederwahl lieferten.
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Und für Peking, das in den letzten Jahren massiv aufgerüstet hat und jetzt schon vor den USA die größte Marineflotte der Welt besitzt und beinahe monatlich mit Militärübungen rund um Taiwan eine militärische Präsanz normalisiert, gibt es druchaus Gründe schon 2027 oder davor zuzuschlagen: Noch ist Amerika abgelenkt durch Konflikte in anderen Teilen der Welt, aber gegen 2030 könnten die US-Streitkräfte deutlich besser für einen Pazifikkrieg gerüstet sein, wenn dort dann die Rüstungsmaschinerie ebenfalls nachgezogen hat.
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Recherche und harte Fakten aus dem Pazifikraum hat der Mainstream hier kaum zu bieten. Besten Dank für den Artikel!
Danke für die Analyse
Sehr guter Artikel. Die Invasionsfähigkeit der Festlandschinesen wird zukünftig aus demographischen Gründen nachlassen. Sie sind derzeit auf dem Höhepunkt ihrer Möglichkeiten.
Für ein so junges Forum eine herausragende Leistung!!! Chapeau und vielen Dank!
Superguter Artikel; während sich unsere „etablierten“ Berichterstatter immer noch in aktuellen ideologischen Verzerrungen suhlen, habt ihr den Blick auf ein global bedeutendes Thema gerichtet. Bescheidene Frage am Rande: von wo bekommt das mittlerweile zur Unabhängigkeit regierte D Solarmodule, Elektronik, E-Autos und andere Industriegüter, wenn es dort zu Konflikten kommt? Da könnte ein hiesiger Wirtschaftsminister schneller wieder von Wahrheit umzingelt sein, als ihm lieb ist.
Es ist die KMT, nicht der KMT. KMT, kuomintang, bedeutet wörtlich übersetzt: Nation Volk Partei, das letzte Wort, Partei, ist also das geschlechtsdefinierende Bezugswort.
LG
Das ist ein richtig dummer Vergleich für Leute für die Selensky erst seit Februar 2022 existiert. Die Taiwanesen wählen eine Anti-China Kandidat, wogegen Selensky der Kandidat war der auf Friedensverhandlungen setzen wollte. Das ist nur Bait für die wütenden Reaktionen der Pro-Putin Boomer.