Ein Gotteskrieger – als solcher präsentiert sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nur allzugerne, wenn er den Westen als „Islam-Feinde“ beschimpft und die Hamas zu „Befreiern“ von der westlichen „Schachfigur“ Israel stilisiert. Er droht mit militärischen Mitteln und einer Islamisierung Europas – doch damit wäre der echte „Gazi“ (Ehrentitel, Krieger Gottes) der Türkei wohl nicht einverstanden gewesen. Der Staatsgründer, Kriegsheld und „Vater der Türken“, Mustafa Kemal Atatürk, könnte kaum in einem größeren Gegensatz zu seinem 12. Nachfolger stehen. Auch wenn Erdogan das mit Sicherheit bestreiten würde.
Er weiß, dass Mustafa Kemal in der Türkei bis heute verehrt wird – und zwar von allen Seiten. Das Bildnis des 1938 verstorbenen Staatsmannes ziert auch die Fahnen von Islamisten und Sozialisten. Jeder will den „Vater der Republik“ für sich beanspruchen. Doch auch wenn Atatürk auf dem Weg zur Macht aus taktischen Gründen kurzzeitig in jede dieser Rollen schlüpfte, verachtete er in Wirklichkeit beide Ideologien. Er war immer davon überzeugt, dass die europäische Zivilisation der Gipfel des Fortschrittes war – und wollte die Türkei nach ihrem Vorbild reformieren.
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Mustafa Kemal war Modernist, Reformer und glaubte an kaum etwas so sehr, wie an die Wissenschaft. Für ihn war der Islam nicht nur etwas rückständiges, sondern auch Schuld am Zerfall des Reiches – er wünschte sich die Religion „auf den Meeresgrund“. Und genau das ist der Grund, warum Erdogan vom Gründer der Republik immer nur als Kriegsheld spricht. Die beiden Männer eint nur eines: glühender Nationalismus und der Anspruch auf Alleinherrschaft.
„Die sicherste Richtschnur im Leben ist die Wissenschaft“
Während Erdogan gerne der Sultan eines neuen osmanischen Reiches wäre, war es Mustafa Kemal, der die 623-jährige Herrschaft des Sultanats im Jahr 1921 beendete. Stattdessen installierte der Mann, den Winston Churchill einst als „den Helden, den Champion und den Vater der modernen Türkei“ bezeichnete, obwohl er durch die Niederlage gegen Mustafa Kemals Truppen in Gallipoli seinen Posten als Marineminister verlor, ein parlamentarisches System – zumindest auf dem Papier.
In Wirklichkeit herrschte Atatürk (wörtlich „Vatertürke“), dem die Nationalversammlung erst im Jahre 1934 diesen Nachnamen verlieh, als Autokrat am Kopf eines Einparteienstaates. Er führte ein Regime, in dem die Opposition unterdrückt und politische Gegner auch mal beiseite geschafft wurden – was für Atatürk insbesondere die islamischen und islamistischen, aber auch kommunistische Kräfte waren. Nur so, schien es ihm, konnte er seinen Traum in einer von Umbrüchen geprägten Zeit Wirklichkeit werden lassen: die Türkei zu einem Mitglied der westlichen Staatengemeinschaft zu machen.
Dafür schaffte er nur ein Jahr nach dem Ausruf der Republik und seiner Ernennung zum ersten Präsidenten der Türkei im Jahre 1923 das Kalifat ab und schuf eine neue Behörde, die streng unter staatlicher Kontrolle stand: Das Präsidium für Religionsangelegenheiten. Im selben Jahr wurden die Koranschulen in der jungen Republik geschlossen und sämtliche Sharia-Gerichte abgeschafft. Stattdessen ließ Mustafa Kemal später das Schweizerische Zivilgesetzbuch einführen – wodurch Frauen erstmals weitreichende Rechte eingeräumt und Vielehen verbannt wurden. Die Türkinnen bekamen noch vor den Frauen einiger westlicher Staaten das Wahlrecht.
Wahrscheinlich hätte Mustafa Kemal auch die weibliche Vollverschleierung gerne verboten – laut dem Atatürk-Biografen Sükrü Hanioglu war er der Meinung, dass sich die Türkei durch den Schleier zum Gespött Europas machte. Doch der türkische Präsident wusste um die Brisanz des Themas in einer bislang unwidersprochen islamisch geprägten Gesellschaft – in der es bis vor kurzem verbindliche religiöse Kleiderregeln gab. Also ließ er gegen die Verschleierung der Frauen nur agitieren. Die Regierung propagierte das Bild einer modernen, gebildeten, westlich gekleideten, säkularen und berufstätigen Frau.
Und die sollte auch Teil des Parlaments sein, das das Land unter seinem Führer repräsentierte: 1935 gab es 17 von Atatürk handverlesene weibliche Abgeordnete, was einem Anteil von 4,5 Prozent der Sitze entsprach. Dieser Wert wurde erst im Jahr 2007 übertroffen. Unter der Führung des „Gazi“ wurden im Jahr 1929 zudem die ersten „Miss Türkei“-Wahlen veranstaltet.
Parlamentarismus als Mittel zum Zweck
Derweil ging Atatürk mit den Männern wesentlich härter ins Gericht. Bevor er den Zorn der Geistlichen, die er im Land duldete und nicht verfolgen ließ, durch ein „Fes“- (religiöse Kopfbedeckung) und Kaftan-Verbot (ein islamisches Gewand) sowie eine Hut-Pflicht für Beamte des Staates auf sich zog, bewies er dabei durchaus Humor – mit seiner „Hut-Reise“.
1925 begab sich Atatürk mit einigen Gefährten zu einem Ausflug in die erzkonservative Kleinstadt Kastamonou – wo er erst in Zivil und dann in seiner imponierenden Marshalluniform auftritt. Immer mit dabei hatte er ein Accessoire, das damals das Nonplusultra des westlichen Chics war: einen Panama-Hut. Er hielt den Strohhut immer wieder demonstrativ in die Höhe, während er gleichzeitig gegen Fez und Turban wetterte. Und siehe da: Als Mustafa Kemal das nächste Mal nach Kastamonou kommt, tragen die meisten Männer plötzlich Panama-Hüte. In Ankara ließ so mancher Türke sogar Frauenhüte umarbeiten, weil die Kopfbedeckung schwer zu bekommen war.
Wenn es nach Atatürk ging, sollten die türkischen Bürger aber nicht nur wie Europäer aussehen, sondern sich auch so benehmen. Ende der 20er wurden unzählige Bücher veröffentlicht, die darüber aufklärten, wie man sich nach westlichem Vorbild zivilisiert verhält – etwa, wie man einer Dame die Hand küsst, gebührend Silvester feiert oder wie man als Frau mithilfe von Gymnastik eine schlanke Figur behält.
Viel wichtiger für die anhaltende Modernisierung waren aber wohl die weitreichenden Gesetzesreformen, die Atatürk in der Türkei durchführte – und hier fiel sein Blick nicht nur Richtung Schweiz. So wurde neben dem Schweizer Zivilgesetzbuch auch das deutsche Handelsgesetz, das italienische Strafgesetz und das französische Zivilgesetzbuch eingeführt.
1925 etablierte Atatürk zudem den gregorianischen Kalender – inklusive der Zeitrechnung vor beziehungsweise nach Christus. Drei Jahre später folgte die Einführung des lateinischen Alphabets, das Verbot der osmanischen Schrift und schließlich auch die Änderung des Wochenfeiertags – vom islamischen Freitag auf den christlichen Sonntag. 1934 folgte ein Gesetz zur Einführung von Familiennamen, ein bis dato westliches Phänomen.
Die Religiosität, die bis zu Atatürks Machtübernahme das ganze Leben der Türken bestimmt hatte, sollte so restlos in das Privatleben verdammt werden – am besten ganz verschwinden. Stattdessen sollten die Bürger der Republik eine neue türkische Identität annehmen: die eines modernen, westlichen und vor allem stolzen Volkes. Eines, das an die Republik, die Regierungspartei und ihren Führer glaubt. Das sich die Vorteile und den Fortschritt des Westens, der nach Atatürk zur Vormachtstellung desselben geführt hat, aneignet – sich jedoch nicht von fremden Mächten beeinflussen lässt.
Diese neue Staats-Religion und der Nationalismus fanden auch in einer neuen Geschichtsschreibung Ausdruck, in der das osmanische Reich kaum noch eine Rolle spielte. Mustafa Kemal war Darwinist, er glaubte an die Evolution, interessierte sich aber auch für Rassenlehre – und suchte verbissen Beweise für die Überlegenheit der türkischen Rasse. Am Ende entwickelte er eine wilde Theorie, laut der die Wiege der Menschheit in Zentralasien bei den Turk-Völkern liegt – so seien die Türken unter anderem die Begründer der griechischen Kultur. Und die Völker, die nicht direkt von den Türken abstammen, so die neue Geschichtsschreibung, seien nur durch die Hilfe des Türkentums an ihre Macht und ihren Status gelangt.
Zynisch, misstrauisch und doch brillant
Mustafa Kemal war, wie man auch hier sehr deutlich sieht, ganz sicher kein Heiliger – er unterdrückte nicht nur die Opposition, er vertrieb die griechische Bevölkerung mit Gewalt und verfolgte Minderheiten wie Kurden und Armenier. Auch sein Charakter zeugte nicht von dem eines durchweg edlen Staatsmannes: Atatürk soll zynisch, kalt, berechnend, misstrauisch und skrupellos gewesen sein. Laut dem Historiker Hans-Peter Schwarz hatte er zudem ein Alkoholproblem und depressive Phasen – er starb am 10. November 1938 mit nur 57 Jahren an Leberzirrhose.
Für die Türken bleibt Mustafa Kemal trotz allem der unangefochtene „Vater der Republik“, der ihr Land rettete. Er hat sein Volk und sein Land nicht nur sehr erfolgreich mit seinem Leben auf dem Schlachtfeld verteidigt, sondern die Grenzen des Landes nach dem ersten Weltkrieg auch mit diplomatischem Geschick und eisernem Willen bei den Alliierten durchgesetzt. Er gab dem türkischen Volk eine Identität und trug ganz entscheidend zur Entislamisierung und Säkularisierung der Türkei bei.
Auch wenn das vielen seiner Landsleute nicht gefiel und sich zumindest in Bezug auf den Islam nicht durchsetzte, ebnete Mustafa Kemal doch den Weg für ein echtes parlamentarisches System. Er selbst wollte oder konnte es nicht – er hatte Angst, dass mit der Opposition die islamischen Kräfte wieder erstarken würden. Und genau das passierte auch, nachdem sein Nachfolger und treuer Gefolgsmann Ismet Inönü als zweiter Präsident der Republik echte Opposition zuließ.
Die weltpolitische Rolle, welche die Türkei heute einnimmt, wäre ohne Atatürk nie möglich gewesen. Trotzdem scheint, vom Nationalismus abgesehen, von seinem Geist nicht mehr viel übrig zu sein. Sein Name wird von der Regierungspartei nur noch pro-forma genannt. Es gibt ein Präsidialsystem, das von einem Islamisten und Autokraten, von Erdogan, beherrscht wird. Statt dem Westen wendet sich die Türkei wieder den arabischen Ländern, dem Rückschritt und nicht dem Fortschritt, zu – eine Vorstellung der Zukunft, die Mustafa Kemal Atatürk wohl um den Verstand gebracht hätte.
Die Grundlage vernünftiger Politik ist ein realistisches Verständnis der Geschichte. Apollo Chronik erscheint jeden Samstag – und bietet statt post-kolonialer Mythen die Fakten zur Geschichte des Westens. Zur letzten Ausgabe.
Daraus wird hier wohl nichts werden:
„Der Islam ist Teil unserer Gegenwart und unserer Zukunft.“ – Wolfgang Schäuble (CDU) am 28.09.2006
„Moscheen werden stärker als früher ein Teil unseres Stadtbildes sein.“ – Angela Merkel (CDU) am 18.09.2010
„Der Islam gehört zu Deutschland.“ – Christian Wulff (CDU) am 03.10.2010
„Der Islam gehört zu Deutschland.“ – Angela Merkel (CDU) am 12.01.2015
„Der Islam gehört natürlich zu Deutschland. Er ist seit Jahrzehnten Teil des kulturellen Lebens.“ – Nancy Faeser (SPD) am 20.01.2022
„Der Islam, die muslimische Religion, das muslimische Leben, die muslimische Kultur haben Wurzeln geschlagen in unserem Land.“ – Frank-Walter Steinmeier (SPD) am 16.09.2023
Etc., etc., …
„Statt dem Westen wendet sich die Türkei wieder den arabischen Ländern, dem Rückschritt und nicht dem Fortschritt, zu“
Das ist eine Wertung die ich gerne erklärt hätte. Immerhin wird der Westen zunehmend ideologischer und theokratischer. Moderner ist doch längst die Konkurrenz, wirtschaftlich erfolgreicher sowieso.
Ich würde mehr reisen und mir mal ein Bild von der Welt machen, dann kommt man auch vom hohen Rosse und hält Europa und insbesonders Deutschland nicht mehr für den Nabel der Welt.
Von der Sauberkeit, Organisation und öffentlichen Sicherheit die auch in manchen arabischen Metroplen herrscht kann Berlin nur träumen und bildungstechnisch wird Deutschland immer mehr zum Schlußlicht.
Er führte auch den Laizismus ein, Trennung von Staat und Kirche, was auch hier schon lange überfällig wäre. Bezüglich Rückschritt können wir eine weitaus bessere „Referenz“ bieten, das riecht nach „zitroniger Goldmedaille“.
Sehr interessant! Vielen Dank Frau Schwarz für den Beitrag!
Huntington
Bereits vor Amtsantritt von Erdogan hat Samuel Huntington im „Clash of civilisations“ die Türkei als einen „zerrissenen“ Staat charakterisiert. Kennzeichnend für einen solchen Staat ist der Versuch einer Elite , der Gesellschaft neue Werte und Normen zu verordnen , die dem traditionellen Gebräuchen entgegenstehen. Natürlich gibt es immer einen Anteil , der diesen Weg mitgeht. Huntington hat vorhergesagt , dass es einen zukünftigen politischen Führer geben wird , der die Türken wieder mit dem traditionellen Islam vereinen wird , sofern es gelingt , dies mit wirtschaftlicher Prosperität zu verbinden. Den Namen Erdogan hat er nicht genannt , wohl aber die Person gut umschrieben. Auf islamische Länder , die eine Form der Säkularisierung durchlaufen , wie sie die christlichen Nationen vollzogen haben , werden wir ewig warten können.
Die Türkei ist unter Erdogan nur zu ihren natürlichen Wurzeln zurückgekehrt.
Ob der Islam sich wie gewünscht ausbreiten kann, hängt sehr stark von unserem Selbstbewusstsein ab. Solange wir unterwürfig und kritiklos sind, kommt natürlich auch ein Erdogan seinem Ziel näher. Religion, egal welche ist Privatsache. Sie darf keinen Einfluss auf die Politik haben und schon gar nicht darf sie dazu missbraucht werden, unsere Gesetze zu brechen. Religiöse Gruppierungen haben kein Recht auf staatliche Finanzierung. Das sollte auch für unsere christlichen Einrichtungen gelten, denn auch sie missbrauchen ihre Macht auf der Kanzel. Was die Türkei und Erdogan angeht, so ist dieser hinterhältig, verschlagen und gewaltbereit. Wenn wir nicht langsam damit anfangen das zu verstehen, wird es noch ganz übel enden.
In der Türkei galt bis 2009 das von Atatürk eingeführte Kopftuchverbot an öffentlichen Einrichtungen. Auch aus dem Grund sind viele Hardcore-Moslems nach Deutschland gekommen, weil es hier (bis heute) kein Kopftuchverbot gibt. Hauptsächlich aber wegen der generösen Sozialleistungen.
Zu seiner Haltung zum Islam mal „Zitate Atatürk“ googeln. Da bekommt man Informationen aus erster Hand, neben dem, was im Koran steht.