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Während die Welt wegschaut

Flüchtlingsrats-Chef warnt wegen Krieg im Sudan vor Flüchtlingsströmen wie 2015

„Größer als die (Krisen in der) Ukraine, Gaza und Somalia zusammen“. So beschreibt der Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrats die Situation im Sudan. Die Folge: Es bahnt sich die nächste schwere Flüchtlingskrise an - völlig ignoriert vom Rest der Welt.

Flüchtlinge aus dem Sudan besteigen ein Boot, das sie über den Nil aus ihrem Heimatland bringt.

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Die humanitäre Lage im Sudan spitzt sich zu: Seit April 2023 kämpfen Armeeeinheiten des sudanesischen Militärs und die sogenannten Rapid Support Forces (RSF) gegeneinander. Mit schweren Folgen für die Menschen im Sudan und perspektivisch auch für Europa: Mehrere Millionen Menschen sollen inzwischen in Nachbarländer geflohen sein. Es herrscht Hungersnot, den internationalen Hilfsorganisationen sind aufgrund der Blockade beider Armeen die Hände gebunden. Fraglich ist, wie viele Millionen noch vor der Not und dem Krieg flüchten – womöglich viele auch nach Europa und Deutschland (Lesen Sie hier mehr).

Die Krise im Sudan bleibt dennoch hinter dem Gaza-Konflikt und dem russischen Krieg gegen die Ukraine medial im Hintergrund. Weder erregt der Konflikt großes öffentliches Aufsehen, noch gab es erfolgreiche Unternehmungen, den Konflikt und die Not im afrikanischen Land zu bekämpfen. Verhandlungen zu einer Waffenruhe, vermittelt durch die USA und Saudi-Arabien, hatten bislang keinen Erfolg.

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Ein skandalöser Zustand, findet der Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrats (NRK), Jan Egeland. Er äußerte sich in einer Presseerklärung äußerst kritisch über das Verhalten der internationalen Gemeinschaft, die aus seiner Sicht die humanitäre Krise im Sudan vernachlässigen würde. Dies sei „wirklich empörend“, so der Leiter der Hilfsorganisation, die in über 40 Ländern hilft. Die humanitäre Krise im Sudan sei „größer als die (Krisen in der) Ukraine, Gaza und Somalia zusammen“, so Egeland unmissverständlich nach einer Reise, die ihn unter anderem in das Gebiet von Darfur geführt hatte. Die im Westen des Sudan liegende Region ist besonders von Gewalt und schweren Kämpfen betroffen.

„Wenn wir uns alle einig sind, dass das menschliche Leben überall auf der Welt gleich viel wert ist, dann sollte der Sudan jetzt ganz oben auf unserer Liste stehen“, so Egeland weiter. „24 Millionen Menschenleben stehen auf dem Spiel. Wir erleben einen unerbittlichen Countdown hin zu Hungersnot, Verzweiflung und dem Zusammenbruch einer gesamten Zivilisation“. Egeland erzählt von seinen Erlebnissen seines Besuches in Darfur: „In vielen Gegenden, einschließlich denen, in denen wir gearbeitet haben, habe ich die Zeichen eines schrecklichen Krieges gesehen. Haus für Haus, Viertel für Viertel abgebrannt, geplündert und zerstört“.

„Ich habe gerade mit eigenen Augen in Darfur und im Osten die verheerenden Folgen wahlloser Angriffe und sinnloser Kriegsführung gesehen. Allein im letzten Monat wurden mehr als 2.500 Menschen getötet und mehr als 250.000 Menschen neu vertrieben. Die Gemeinden, in denen wir tätig sind, berichten uns von entsetzlicher Gewalt – ganze Dörfer wurden zerstört, Zivilisten hingerichtet, Frauen vergewaltigt und Häuser durch Beschuss und Luftangriffe zerstört. Dies ist die verbrannte Erde des Sudan im Jahr 2024, und wir sind dem freien Fall in Hunger und Leid gefährlich nahe. Verzögerte Maßnahmen und unzureichende diplomatische Bemühungen verschlimmern die Qualen des sudanesischen Volkes. Die internationale Gemeinschaft muss sofort und entschlossen handeln“, so die klare Aufforderung des Norwegers.

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„Weiterer Moment wie im Jahr 2015“

Die Situation im Sudan könnte dabei auch schwere Folgen für Europa und die EU haben. So warnt Egeland: „Ich glaube, Europa hat noch immer nicht verstanden, dass sich ein weiterer Moment wie im Jahr 2015 anbahnt, in dem eine Million Menschen das Mittelmeer überqueren“. Der Konflikt im Sudan hat die größte Vertreibungskrise der Welt ausgelöst. Mehr als 11 Millionen Menschen sind innerhalb des Landes entwurzelt, und weitere drei Millionen suchen Zuflucht in den Nachbarländern Tschad, Ägypten, Südsudan und anderen Nachbarländern.

„Jeder fünfte Mensch im Sudan ist ein Vertriebener. Die wenigen verbleibenden sicheren Gebiete platzen aus allen Nähten, Hunderte von Familien sind in überfüllten Lagern untergebracht und können mit den begrenzten Ressourcen kaum überleben“, so Egeland. Das bedeutet: Die Zahl der Flüchtenden wächst mit jedem Tag, an dem Elend und Krieg weitergeht. Allein im letzten Monat wurden 250.000 Sudanesen vertrieben.

Viele treibt die Flucht in die Nachbarländer: Dabei sind längst diese mit ihren Versorgungskapazitäten schon seit langem am Ende: In Äthiopien musste das UN-Welternährungsprogramm (WFP) bereits 2023 die Rationen für Flüchtlinge um 40 Prozent zusammenstreichen. Im Tschad hatte das WFP Anfang April letzten Jahres gewarnt, dass ab Mai „absolut kein Geld“ für Vertriebene mehr da sei. Und so ziehen auch viele Sudanesen weiter, gemeinsam mit vielen Armuts-Migranten aus dem Tschad. Das schlägt sich in den Zahlen nieder. Seit Jahren schon steigt die Zahl der illegalen Einreisen nach Europa: Sank sie nach Zahlen der EU-Kommission seit 2015 kontinuierlich, ist seit 2021 wieder ein stetiger Anstieg zu beobachten. Über 385.000 Menschen kamen 2023 illegal in die Europäische Union. Migranten aus dem Sudan spielen bei dieser Zunahme eine Rolle: Bei den zahlreichen Bootsmigranten, die beispielsweise in den vergangenen Monaten auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa anlandeten, waren auffällig viele Sudanesen. Nicht in ihrer Gesamtzahl – 2023 machten Sudanesen nur zwei Prozent aller Mittelmeer-Ankömmlinge aus. Aber der Anstieg ist brisant: Die EU-Grenzschutzagentur Frontex registrierte im Jahr 2023 6931 Sudanesen, was einen sechsfachen Anstieg gegenüber dem Vorjahr darstellt.

Die Flucht vor Krieg und Hunger, die Sehnsucht nach Sicherheit und Frieden könnte so viele Sudanesen bald nach Europa bringen. Die internationale Gemeinschaft muss handeln: Bereits im Mai sagte Claire Nicolet, Leiterin der Nothilfe von Ärzte ohne Grenzen im Sudan, dass ihre Organisation schätze, dass in allein in dem Binnenflüchtlingslager Samsam, in der Region Darfur, „alle zwei Stunden mindestens ein Kind stirbt“. Pro Tag seien es nach ihren Schätzungen 13 Kinder, die ihr Leben verlieren würden.

Geschichte des Krieges

Seit April 2023 steckt der Sudan in einem Bürgerkrieg, der schon ca. 12.000 Menschen das Leben kostete. Es ist das Ergebnis eines Machtkampfes, der seit 2019 herrscht: Über 30 Jahre regierte der Staatspräsident Umar al-Bashir und verwandelte unter seiner Führung das Land in eine islamistische Diktatur. Al-Bashir löste das Parlament auf, führte das Verbot verschiedener politischer Parteien ein und machte das islamische Recht zum geltenden Recht im Sudan. Dabei stützte der Präsident seine Macht sowohl auf die sudanesischen Streitkräfte (SAF) unter Oberbefehlshaber Abdel Fattah al-Burhan als auch auf verschiedene Milizen – eine davon die Rapid Support Forces (RSF). Diese existieren in ihrer Form seit 2013 und werden seither von Mohammed Hamdan Daglo geführt. Ihre Beteiligung an illegalen Geschäften, insbesondere die Kontrolle über Goldminen machte die Miliz wohlhabend, das Geld steckte sie vor allem in ihre Ausrüstung und militärischen Fähigkeiten verbessern konnte.

2019, nach anhaltenden Protesten gegen die Repressionen der Zivilbevölkerung durch das al-Bashir-Regime, stürzten die RSF und die SAF den Präsidenten. Beide Gruppen bildeten anschließend den militärischen Übergangsrat, im Juli des Jahres folgte dann eine Vereinbarung zur Einsetzung eines zivilen geführten Übergangsrats, später folgte die Bildung eines Souveränitätsübergangsrates, der sich sowohl aus zivilen als auch militärischen Führungskräften zusammensetzte. Das Ziel des Rates war, dem Land nach Jahren der Diktatur eine demokratische Regierung zu geben. Es kam anders: Generäle der RSF und der SAF führten im Oktober 2021 einen weiteren Staatsstreich durch und setzten den zivilen Interimspremierminister Abdalla Hamdok ab.

Seitdem, trotz der Zusammenarbeit bei der Stürzung des Präsidenten und des Interimspremierministers, herrscht ein blutiger Machtkampf, der seit April 2023 in Form eines Krieges ausgetragen wird. Mit schlimmen Folgen für das Land und die Welt.

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