Werbung

...
...

Ex-Stasi-Mitarbeiter wegen Mordes zu zehn Jahren Haft verurteilt

Nach fünfzig Jahren wurde ein DDR-Mauerschütze wegen Mordes verurteilt. Das Urteil lautet zehn Jahre Haft. Mauerschütze Manfred N. soll 1974 einem Polen an einem Berliner Grenzübergang heimtückisch in den Rücken geschossen haben.

Es ist der erste Gerichtsprozess, bei dem sich ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter wegen eines Tötungsdelikts bei der Berliner Mauer verantworten muss. Die Staatsanwaltschaft fordert 12 Jahre Gefängnis, die Verteidigung Freispruch.

Werbung

Czeslaw Kukuczka wurde am 29. März 1974 erschossen, als er von Ost- nach Westberlin reisen wollte. Er starb am selben Tag im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Nun wurde der 80-jährige Manfred N., ein ehemaliger Oberleutnant der Staatssicherheit, als Schütze angeklagt. Er soll auf Befehl des Ministeriums für Staatssicherheit gehandelt haben. Vor Gericht muss er sich wegen Mordes verantworten. Kurz vor 12 Uhr wurde das Urteil verkündet. Der ehemalige Stasi-Mitarbeiter wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt.

Es ist das erste Mal, dass sich ein ehemaliger Mitarbeiter der Staatssicherheit das überhaupt für ein Tötungsdelikt verantworten muss. Insgesamt starben zwischen 1961 und 1989 mindestens 140 Menschen an der Berliner Mauer und unter den Kugeln der Grenzsoldaten.

...
...

Manfred N. soll in der Nähe des Grenzübergangs Friedrichstraße, am sogenannten Tränen-Palast, auf Kukuczka gewartet haben. Als Kukuczka in den Westen gehen wollte, soll N. ihm aus zwei Metern Entfernung heimtückisch in den Rücken geschossen haben, wie der Spiegel schreibt. Manfred N. äußerte sich nicht zu der Tat.

Daniela Münkel ist Forschungsleiterin im Berliner Stasi-Unterlagen-Archiv und lieferte vor Gericht in einem Vortrag Hintergrundinformationen zum Vorgehen der Staatssicherheit. Ihr Vortrag ersetzt das fehlende Sachverständigengutachten, weil das Gericht zuerst kein Gutachten in Auftrag gegeben hatte. Die Stasi-Einheit, zu der Manfred N. 1974 gehört haben soll, beschreibt die Historikerin Münkel laut Spiegel als „vorbildliche Kommunisten“, die gegen Terroristen vorgehen sollten. Manfred N. habe 1962 die Waffenmeisterschule der Nationalen Volksarmee in Dresden besucht und die viermonatige Ausbildung mit der Note „gut“ bestanden. Seine psychische und körperliche Belastbarkeit wurde in Beurteilungen gelobt, ebenso wie seine Einsatzbereitschaft, die bis zur Tötung von Menschen ging. 1980 heißt es in seinen Stasi-Akten: „Durch sein kompromissloses Auftreten und Handeln stellt er seine Treue zur Partei- und Staatsführung ständig unter Beweis.“ 

Vier Tage nach dem Schuss wurde Manfred N. für eine Auszeichnung vorgeschlagen. Die Begründung: Er habe „den persönlichen Auftrag bekommen“, am 29. März gegen einen Terroristen vorzugehen, und habe dabei „umsichtig, mutig und entschlossen“ gehandelt, heißt es in Staatssicherheits-Dokumenten. Darum bekam er den Kampforden „Für Verdienste um Volk und Vaterland“ in Bronze verliehen. Der Minister für Nationale Verteidigung verlieh den Orden für „hervorragende Leistungen bei der Erhöhung der Kampfkraft und der Erfüllung der Aufgaben beim Schutz der Staatsgrenze der DDR“, wie es laut Spiegel in den Stasi-Unterlagen heißt.  

Czeslaw Kukuczka war ein polnischer Feuerwehrmann und arbeitete bei einem Bauunternehmen. Der 38-jährige Vater dreier Kinder wollte in den Westen reisen und sich dort mit seiner Familie ein besseres Leben aufbauen. Nach der Recherche der Historiker Filip Gańczak und Hans-Hermann Hertle hatte Kukuczka am 29. März 1974 in der polnischen Botschaft damit gedroht, dieses Gebäude und drei weitere in die Luft zu sprengen, wenn er nicht nach West-Berlin reisen dürfe. Beim geplanten Grenzübertritt führte er eine Ledertasche mit sich. Jedoch waren darin keine Bomben, sondern ein Rasierapparat und eine zerbrochene Whiskyflasche.

Drei Zeuginnen beschrieben vor Gericht den Vorfall. Sie waren als Schülerinnen auf Klassenfahrt in Westberlin und unternahmen mit dem Lehrer einen Tagesausflug nach Ostberlin. Sie hielten sich nahe des Grenzübergangs auf, an dem es zum Schuss kam. Eine der Frauen ist die 65-jährige Martina S., die auch von Mord ausgeht. Vor Gericht sagte sie aus, dass Kukuczka in der Schlange zur Passkontrolle hinter ihr gestanden habe. Er hatte eine Reisetasche bei sich und sei etwas schäbig gekleidet gewesen. Auf Anweisung sei er vorgelassen worden. Als er in die Unterführung zur U-Bahn nach West-Berlin gegangen sei, sei von links ein weiterer Mann gekommen. Martina hörte einen Schuss und Kukuczka brach zusammen. Martina S. ist der Überzeugung, dass alles genau geplant gewesen sein muss. „Da müssen viele Hände zusammengespielt haben“, sagt sie gemäß Spiegel. 

Am 14. Oktober will die Kammer das Urteil verkünden. Die Staatsanwaltschaft fordert eine Verurteilung zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe wegen heimtückischen Mordes. In ihrem Plädoyer betont die Staatsanwältin Henrike Hillmann die „regimetreue Einstellung“ des Verdächtigen. Die Verteidigerin wiederum fordert einen Freispruch. Ihrer Ansicht nach sei es nicht erwiesen, dass Manfred N. der Schütze war und es sich um Mord gehandelt habe. Denn wenn jemand vortäusche, mit einer Bombe die Grenze zu überqueren, dann sei die Person nicht arglos. Eine bemerkenswerte Forderung erhebt der Anwalt, der den Sohn des Getöteten vertritt. Der Familie gehe es um Gewissheit und Aufklärung, wie Czeslaw Kukuczka ums Leben kam. „Nicht um Bestrafung oder gar Rache“, sagt der Anwalt. Daher findet er das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß für zu hoch. 

Schon 2016 hatte die Staatsanwaltschaft Berlin aus den Unterlagen der Staatssicherheit Hinweise erhalten, dass Manfred N. der Schütze im Fall Czeslaw Kukuczka sein könnte. Da die Staatsanwaltschaft die Tat jedoch als Totschlag und nicht als Mord einstufte, stellte sie die Ermittlungen wegen Verjährung ein. Die polnischen Behörden erließen einen europaweiten Haftbefehl wegen Mordes gegen Manfred N. Daraufhin bat das Oberlandesgericht Dresden um eine Überprüfung der Einstellung und die Staatsanwaltschaft Berlin revidierte ihre Einschätzung. Ursprünglich waren sieben Verhandlungstage vorgesehen, doch die Hinterbliebenen hatten auf Detailtiefe gedrängt. So war anfangs auch kein historischer Sachverständiger mit einem Gutachten beauftragt worden, wie der Spiegel schreibt.

Werbung