„Es war Freitag, der 6. Oktober 1950“. Abends, an einem Tag wie jedem anderen „in der grauen Zeit, fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges“, klingelt es bei Familie Scharf aus Leipzig an der Tür. Der 20-jährige Hans-Dieter, ein Chemie-Student, saß in diesem Moment in seinem Zimmer und arbeitete seine Vorlesungen durch. Er hatte den ganzen Tag im Labor verbracht, doch das machte ihm nichts aus. Für ihn war die Universität „Erholung und eine Freude“, weil die Naturwissenschaften weitgehend frei von „ideologischem Gesabbel“ waren.
Das Klingeln an der Tür beachtete Hans-Dieter nicht weiter. Vielleicht dachte er schon darüber nach, sich mit seinen Freunden am nächsten Abend bei einem Glas Bier „den politischen Frust von der Seele zu reden“. Vielleicht freute er sich auch einfach nur auf das Abendessen. Welcher Gedanke den jungen Mann auch immer beschäftigte, er wurde in dem Moment zerrissen, als seine Mutter ins Zimmer platzte. Ihr Gesicht war von Besorgnis und Überraschung gezeichnet: „Da war eben ein Mann da, der sagte, du sollst mal runter ins Aufklärungslokal der Nationalen Front zu einem Herrn Schneider kommen“.
Hans-Dieter beruhigte seine Mutter: Man wolle ihm sicher nur das Haus zuteilen, in dem er am 15. Oktober zur Wahl der Volkskammer gehen sollte – das hatte man den Studenten angekündigt. Er schnappte sich seine Windjacke und ging zur Tür hinaus. Für die nächsten drei Jahre war es das letzte Mal, dass ihn seine Mutter sah. Obwohl sie und ihr Mann alles versuchten – sie gingen zur Polizei und zur Parteizentrale, schrieben einen Brief an Staatspräsident Wilhelm Pieck -, wollte ihnen niemand sagen, was mit ihrem Sohn passiert ist – ob er überhaupt noch am Leben war. Hans-Dieter blieb bis kurz nach Weihnachten 1953 verschwunden.
Von den NKWD-Kellern zum Polarkreis
Wie er später in seinem Buch „Von Leipzig nach Workuta und zurück“ beschreibt, wurde Hans-Dieter nur wenige Meter von Zuhause entfernt von zwei Männern abgefangen und unter Androhung von Folter zur Polizeistation verschleppt. Er landete in Untersuchungshaft, ohne dass ihm jemand sagen wollte wieso – das würde er „noch früh genug erfahren“. Tage später holt man ihn nachts aus seiner Zelle, er würde „verlegt“. Auf dem Hof übergab man ihn an Männer in sowjetischen Uniformen, sie trugen NKWD-Mützen und Kalaschnikows. Mit einem lauten „dawai! dawai!“ stieß man ihn in den LKW.
Während Hans-Dieter unter „lähmende[m] Entsetzen“ auf einer Bank saß, wurden weitere junge Männer in Handschellen in das Auto gebracht – er erkannte zwei seiner Studienkollegen, seiner Freunde aus der Uni. Sie durften während der Fahrt nicht sprechen, aber die Blicke, die sie miteinander austauschten, sagten in diesem Moment alles. Als der Transporter hielt, war Hans-Dieter völlig apathisch. Er hörte ein dumpfes Geräusch und rechnete damit: wenn die Tür aufgeht, wirst du erschossen. Doch stattdessen landete er wieder in einer Zelle – von seinen ausgemergelten Zellengenossen erfuhr er, dass er in der Zentralstelle des NKWD in Dresden war.
In dem engen Raum brannte Tag und Nacht ein grelles Licht, für ihre Notdurft hatten die Männer nur einen Eimer. Es stank nach Exkrementen, Hans-Dieter war schon von Flöhen zerstochen, als ihm klar wurde, warum er hier war. Es gab im Wesentlichen nur zwei „Verbrechen“, die in dem stickigen Keller „untersucht“ wurden: Spionage und „antisowjetische Propaganda“. Bevor er das erste Mal zum Verhör gebracht wurde, schnappte er außerdem ein Gerücht auf – Wachposten hätten von „Lagern“ gesprochen. Doch daran konnte er bald nicht mehr denken. Jede Nacht holte man ihn aus der Zelle und ließ ihn stundenlang auf der Stelle stehen, bis er fast zusammenbrach. Irgendwann bekam er durch den Schlafmangel Halluzinationen.
Schließlich brach Hans-Dieter zusammen und gestand unter Tränen, zu einer „antisowjetischen Widerstandsgruppe“ an der Universität zu gehören. Danach ließ man ihn schlafen – bis zu seiner Urteilsverkündung. Hans-Dieter Scharf wurde vom NKWD-Tribunal, von Angehörigen der Tscheka, zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Acht seiner Kommilitonen erhielten 25 Jahre, einer die Todesstrafe. Kurze Zeit später brachte man die jungen Männer zu einer Gefangenensammelstelle nach Berlin-Lichtenberg. Von dort aus wurden sie in Züge gepfercht und nach Russland deportiert.
Die „weiße Hölle“
Über Brest-Litowsk ging es nach Moskau. Vor den Toren der Stadt wurden Hans-Dieter und die anderen mit vielen weiteren Gefangenen in Viehwagons gestoßen. Die Züge waren vier Wochen unterwegs, alle vier bis fünf Tage hielten sie. Die Männer wurden dann in ein Gefängnis gebracht, wo sie etwas zu essen bekamen, notdürftig gewaschen und entlaust wurden – „d.h. wir wurden mit kochendem Wasser überschüttet, so daß man eigentlich danach die Haut hätte abziehen können“, beschreibt es später Horst Bienek.
Der 22-Jährige war einer der Schüler von Bertolt Brecht, als er 1951 in Ost-Berlin festgenommen wurde. Seine Anklage war die gleiche wie bei Hans-Dieter, seine Strafe 20 Jahre „Arbeitsbesserungslager“. Auch er wurde aus der DDR in den Gulag deportiert, weil er dem System nicht treu war – in die „Weiße Hölle“. Er wurde dorthin verschleppt, „wo das Eismeer mit dem Nordural zusammenstößt“: nach Workuta. Ein Gebiet, „bei dessen Namen die Russen sich schüttelten“.
In der Region gab es große Kohlevorkommen, die eigentlich schon zur Zarenzeit abgebaut werden sollten. Doch, so beschrieb es Horst Bienek später in seinem Buch „Workuta“, eine Kommission kam 1904 zu dem Ergebnis, dass „dort keine Menschen leben und arbeiten könnten“. Stalin war das egal – er etablierte ein gigantisches Zwangsarbeitssystem, dem er hunderttausende Menschen opferte – aus der Ukraine, Aserbaidschan, den Baltischen Staaten, aus Polen, Ungarn und der DDR. „Wir waren eine Internationale der Stalin-Opfer“, beschreibt es Horst Bienek.
„Unter jeder Eisenbahnschwelle liegen zwei Tote“
Aufgesplittert in mehr als 30 Lager sollen laut Horst Bienek zeitweise beinah eine Million Häftlinge in der „Tundra“ gelebt haben – dort, wo nichts wächst, im „ewige[n] Eis“. Horst Bienek schlief zwischen „Heerscharen von Wanzen“, wenn er nicht in den engen, niedrigen Kohleschächten umgeben von Gasen schuftete, bis er kaum noch die Spitzhacke halten konnte – in Schacht 29, genau wie Hans-Dieter. Wer zusammenbrach oder weinte, wurde von den Brigadiers, den Aufsehern, geschlagen. Einige der Russen vergingen sich auch an jungen Häftlingen, Horst Bienek erhielt eines Tages einen Streifen Ölpapier mit Vaseline, der ihm zeigen sollte, dass er der Nächste war.
In seiner Verzweiflung vertraute er sich einem Arzt an. Trotz der Gefahr für sich selbst attestierte er Horst Fieber und behielt ihn auf der Krankenstation, bis sich der Aufseher ein neues Opfer gesucht hatte. Die Ärzte im Lager waren alle Juden. Warum sie im Lager waren, darüber redete man nicht. „Meist war es so: hatte einer von ihnen draußen darüber geredet, dass er nach Israel auswandern möchte, schon wurde er als Zionist verhaftet“.
Auf der Krankenstation lagen vor allem Männer mit Ödemen, sie hatten „aufgeblasene Wasserköpfe“ – wahrscheinlich durch die Mangelernährung, Infekte oder Vergiftungen bedingt. Aber der Tod kam auch durch Arbeitsunfälle, durch körperliche Überanstrengung, Gelbsucht, Fischvergiftungen und durch Herzversagen – das beschreibt Roland Bude in seiner Schrift „Workuta – Strafe für politische Opposition in der SBZ/DDR“. Er kam mit 25 Jahren nach Workuta, etwa zur selben Zeit wie Horst Bienek und Hans-Dieter Scharf.
Wenn jemand starb, „mussten wir raus in die Tundra, mit der Spitzhacke fünf-sechs Zentimeter“ der gefrorenen Erde aufhacken. Horst beschreibt, wie die Leichen „mit dem Gesicht nach unten“ in die Mulde gelegt wurden. Schon zehn Minuten später wurden sie von der „Purga“, dem polarischen Schneesturm, bedeckt. In Workuta herrschten um die Minus 60 Grad, nur zwei Monate im Jahr war es etwas wärmer. Dann konnte man sehen, wie die Leichen Richtung Eismeer wegschwammen.
Verraten, Vergessen, Verschollen
Horst Bienek sagte, dass das Einzige, was ihm in Workuta blieb, die Erinnerungen an seine Kindheit waren – er flüchtete sich in die Gedanken an seine Eltern und Freunde, an Zuhause. Mit ihm seien etwa 300 Deutsche in dem Lagerabschnitt gewesen, unter rund 3.000 Ukrainern, Balten oder Russen. Getrennt von den Männern gab es auch Frauen in der Lagerstadt – laut der Bundesstiftung Aufarbeitung waren darunter auch Mädchen und junge Mütter, die aus der DDR verschleppt wurden. Sie schufteten in der Ziegelei – die Männer bekamen sie nie zu Gesicht.
Wie viele Ostdeutsche nach 1945 in den sowjetischen Gulag – nach Workuta oder in andere Gebiete – deportiert wurden, ist nicht bekannt – auch nicht, wie viele in der „Eishölle“ ihr Leben ließen. Laut einer Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages von September 2013 (WD 1 – 3000 – 057/13) liegt die Zahl der Verschleppten nach unterschiedlichen Untersuchungen zwischen 15.000 und 100.000 Menschen. Insgesamt seien zwischen 350.000 und 730.000 Deutsche von überall her in die Sowjetunion deportiert worden. Bis zu 3.000 wurden in Moskau hingerichtet, wie viele bis heute in der gefrorenen Erde von Workuta liegen, werden wir nie erfahren.
Zumindest in der Politik interessiert sich kaum jemand für die Aufarbeitung der Verbrechen, die das SED-Regime an der ostdeutschen Bevölkerung begangen hat. Menschen wie Horst Bienek, Hans-Dieter Scharf und Roland Bude wurden bereitwillig an die Sowjetunion ausgeliefert – sie wurden gefoltert, ausgehungert und in den Arbeitslagern dem Tod überlassen. Sie hatten Glück, die Hölle von Workuta zu überleben – und nach Stalins Tod nach Deutschland zurückkehren zu können. Ihre Berichte sprechen für Tausende, sie zeigen das ganze Ausmaß der Grausamkeit der Diktatur in Ostdeutschland, die bis heute immer wieder verharmlost und romantisiert wird.
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Und Sarah Wagenknecht, bekennende Stalinistin und Sozialistin, sitzt mit Abgeordnetenmandat im Bundestag und immer wieder in Fernsehstudios. Dabei machte weder die Linke noch das BSW aus ihren Absichten einen Hehl: auf Parteitagen der Linken wird schon mal gefordert „Reiche erschießen zu lassen“ und im Programm stand bis vor kurzem die „Einführung des demokratischen Sozialismus“ also das politische System der DDR.
Und wer arbeitet mit denen zusammen?
Die Union.
Vielen Dank für diesen Artikel!
Ein Teil der deutschen Geschichte den der gegenwärtige politische Betrieb in Berlin am liebsten vollständig verdrängen würde.
Danke für den gut geschrieben Artikel. Sehr informativ! Der Sozialismus ist das Schreckgespenst der Menschen des 20 und 21 jahrhunderts. Wie viele Menschen die Nazis, die Russen, die Chinesen und andere sozialistische und kommunistische Diktaturen umgebracht haben möchte ich mir nicht mal im Traum ausmalen.
Ist doch für (Dr.?) Mario (Mett) Voigt kein Hindernis, mit den Linken und Ultra-Linken ins politische Bett zu gehen. Er prostituiert sich doch gerne für den Erhalt seiner Macht und der Brandmauer gegen die AfD. Esgeht ja schließlich um „unsere Demokratie“. Gemeint ist natürlich seine Demokratie. Bis heute wird die DDR und die SED verharmlost.
Vielen Dank für diesen Bericht. Nur eine Richtigstellung möchte ich anbringen. Es heißt im Text „Über das vergessene Schicksal der Ostdeutschen in Workuta“, es müsste eigentlich entweder nur Deutsche oder Mitteldeutsche, Ostdeutsche und Sudetendeutsche heißen, denn die damalige SBZ bzw. DDR war vollgestopft mit Vertriebenen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, der Neumark und aus dem Sudetengebiet. Der im Text erwähnte Horst Bienek kam z.B. aus Oberschlesien.
Für Interessierte ist auch die Webseite https://donskoje1950-1953.de/ interessant: Erschossen in Moskau… Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950-1953.
Einen großen Dank gilt Frau Schwarz für ihren Artikel über die vergessenen deutschen politischen(!) Gefangenen, die in den GULag deportiert wurden. Die mitteldeutschen Universitäten wurden in der SBZ / DDR-Zeit reihenweise gesäubert und die jungen Studenten wurden durch sowjetische Militärtribunale (SMT-Urteile) zu extrem hohen Haftstrafen, i.d.R. zu 25 Jahren Straflager verurteilt. In vielen Gruppenprozessen wurden auch Todesurteile ausgesprochen und diese wurden dann im Butyrka-Gefängnis in Moskau vollstreckt! Allein im Zeitraum von 1950 bis 1953 wurden über 1000 Deutsche durch jene SMT zum Tode veruteilt. (Hierzu: „Erschossen in Moskau…“ Metropol-Verlag, mittlerweile 4. Aufl.).
Die Lagergemeinschsaft Workuta / GULag Sowjetunion e.V. vertritt die Interesssen der deutschen Gulag-Zeitzeugen. Auf dem Zeitzeugen-Portal http://www.workuta.de sind viele Schicksale wie die des Leipziger Studenten Hans-Dieter Scharf porträtiert.
Stefan Krikowski, Vorsitzender der Lagergemeinschaft Workuta
„Es war nicht alles schlecht unter Stalin!“ Sahra Wagenknecht