China und die Philippinen stehen aktuell kurz davor, in ein offenes Seegefecht zu geraten. Das ist nicht unbedeutend, da die Philippinen-Hauptstadt Manila per Verteidigungspakt mit Washington ein US-Bündnispartner ist. Alles dreht sich dabei um ein rostiges Schiff aus dem Zweiten Weltkrieg, das in einem Atoll im südchinesischen Meer ankert – zumindest vordergründig. Denn tatsächlich geht es um die Vorherrschaft über einen der strategisch wichtigsten Orte im West-Pazifik.
Die BRP Sierra Madre, ein altes philippinisches Kriegsschiff, das zuvor schon in der US-Marine im Zweiten Weltkrieg im Dienst war, ankert permanent im Second Thomas Shoal, einem Atoll im Pazifischen Ozean. Mit dem rostigen Schiff, das durchgehend von einer Crew der philippinischen Marine besetzt ist, wollen die Philippinen ihren Anspruch auf das Atoll verteidigen. Was kurios klingt, hat einen durchaus ernsten Hintergrund:
China, dessen Festland mehr als 1.300 Kilometer weit entfernt ist – viel, viel weiter weg als etwa die philippinische Provinz Palawan mit 190 Kilometer – beansprucht das Atoll für sich. Ohne die philippinische Präsenz hätte die Volksrepublik wohl längst eine eigene Militärbasis gebaut, wie schon bei vielen der Nachbarinseln.
Blockade eines Atolls
Die Chinesen würden die Philippiner vor Ort daher gerne loswerden. Mit immer neuen Taktiken versuchen sie, die philippinischen Schiffe, die Nachschub und die jeweils rotierenden Mannschaften auf die BRP Sierra Madre bringen, zu blockieren. Diese Praxis eskaliert jetzt. Zuletzt verwendete die chinesische Küstenwache Wasserwerfer, um Nachschublieferungen per Schiff zu stören. Die chinesischen Schiffe sind oft um einiges größer als die der philippinischen Marine. Am vergangenen Wochenende folgte dann die nächste Eskalation:
Ein Schiff der chinesischen Küstenwache (CCG) rammte ein deutlich kleineres Versorgungsschiff der philippinischen Marine, das auf dem Weg zur BRP Sierra Madre war. Das war dabei nicht der einzige Vorfall: Ein Schiff der philippinischen Küstenwache, das weiter vom Atoll entfernt ankerte, wurde während der gleichen Mission von einem Schiff der chinesischen Seemiliz „gestoßen“, wie der philippinische Nationale Sicherheitsrat in einem Statement erklärte. Der verurteilte die „gefährliche, unverantwortliche und illegale Aktionen der CCG und der chinesischen See-Miliz“.
Die Aktionen Pekings, die man oft ganz bewusst nicht mit der Marine, sondern mit der stark militarisierten Küstenwache oder eben mit den eigentlich zivilen, aber in die Seemiliz eingegliederten, Schiffen durchführt, gleichen inzwischen immer mehr einer de facto Seeblockade. Bisher machen die Philippinen das Katz-und-Maus-Spiel mit, wenn es um Nachschub für die BRP Sierra Madre geht, aber die jüngsten Rammversuche zeigen, wie sehr China das Vorgehen eskaliert.
Wenn am Ende Schiffe dadurch schwer beschädigt werden und sinken oder Matrosen sterben, könnte es mehr als nur diplomatischen Protest geben – offene Gefechte zwischen philippinischer und chinesischer Seite könnten ausbrechen. Sollte es dazu kommen, könnten auch die USA involviert werden, denn mit dem „Mutual Defence Treaty“ von 1951 sind sie Bündnispartner der Philippinen. Soweit ist es im Moment freilich noch nicht, aber das zeigt einmal mehr, was für ein Pulverfass das südchinesische Meer geworden ist.
Das dauerhafte Ankern der BRP Sierra Madre im Second Thomas Shoal begann 1999 in Reaktion auf die chinesische Übernahme des benachbarten Mischief Reef. Diese Atolle gehören alle zur Gruppe der Spratly-Inseln, mehrere davon hat China in Militärbasen verwandelt. Es wird Land aufgeschüttet, Lande- und Startbahnen, Häfen und Kasernen werden gebaut. Aus bisher unbewohnten Inseln oder Untiefen des Ozeans machte man Stützpunkte.
Peking spielt auf Zeit
Chinas Strategie ist dabei inzwischen relativ deutlich geworden: Man schafft vor Ort Fakten. Zuerst bedrängen Schiffe der Seemiliz, die in großen Teilen aus zivilen Booten wie Fischerbooten besteht und dann auf Staatsbefehl aktiv werden, Schiffe anderer Nationen. So etabliert das Regime nach und nach seine lokale Dominanz. Später rückt dann das Militär, die chinesische Volksbefreiungsarmee, ein und verwandelt die Inseln zu Militärbasen.
Dass Chinas Anspruch auf so ziemlich alle Inseln des südchinesischen Meers vom Ständigen Schiedshof in Den Haag für unzulässig erklärt worden ist, interessiert Peking dabei natürlich nicht. Wenn man die Inseln vor Ort kontrolliert, ist es egal, was internationale Gremien dazu sagen. Mit der sogenannten „Neun-Strich-Linie“ beansprucht China weite Teile des südchinesischen Meers für sich – bis vor die Küste Vietnams, Bruneis oder der Philippinen, wie im Second Thomas Shoal.
Im südchinesischen Meer werden dabei nicht nur wertvolle Rohstoffe wie Öl vermutet, die Region ist auch eine der wichtigsten Seehandelsrouten der Welt – praktisch das Tor zu Ostasien, Afrika, Europa und dem Nahen und Mittleren Osten.
China fährt dabei zweigleisig: Einerseits will man sich mit Landhandelsprojekten wie der „Neuen Seidenstraße“ selbst dagegen absichern, dass genau diese Seehandelsroute durch Konflikte blockiert werden kann. Andererseits versucht man parallel, sie selbst unter Kontrolle zu bringen: Die Militärbasen, die man dort mittendrin errichtet, gleichen teilweise kleinen Städten.
Neben der Insel-Gruppe der Spratlys sind auch die weiter nördlich gelegenen Parcel-Inseln im Visier Pekings. In beiden hat man schon dutzende Inseln zu großen oder kleinen Militärbasen gemacht und damit das südchinesische Meer durchsetzt. Die „Asia Maritime Transparency Initiative“ des ThinkTanks CSIS zählt zwanzig chinesische Militärposten in den Paracel-Inseln und sieben in den Spratly-Inseln.
So ziemlich alle Anrainerstaaten rund um das südchinesische stellen sich gegen die großflächigen Ansprüche Pekings. Viele Länder, auch formell kommunistische wie Vietnam, erheben territoriale Ansprüche, die sich entweder mit denen Pekings überschneiden oder diese eben – nach internationalem Recht – nicht anerkennen. Das führt zu einem Flickenteppich aus unterschiedlichen Ansprüchen, real existierenden Basen und Schifffahrtsverkehr.
Dazu kommen andere Nationen, etwa aus Europa oder speziell die USA, die klarmachen wollen, dass sie Chinas schrittweise Insel-Inbesitznahme nicht anerkennen. Diese Strategie hat mäßige Erfolge: Die kettenweise Übernahme von Inseln durch Peking hat man nicht verhindert – dennoch pocht man weiterhin auf das allen Nationen zustehende Recht, die Gewässer und Lufträume zu passieren.
Seekrieg im Pazifik
So finden vor allem vonseiten der USA sogenannte „Freedom of Navigation“-Operationen statt: Die US-Marine durchfährt Gewässer, die die Chinesen illegal beanspruchen, und die US-Luftwaffe überfliegt entsprechende Gegenden. Die chinesische Volksbefreiungsarmee versucht all das natürlich, wenn auch noch erfolglos, zu verhindern. Man schickt Abfangjäger und fordert die Amerikaner auf, abzudrehen.
Auch hier wird deutlich: Es braucht nur von Seiten Pekings den Befehl, eine Eskalationsstufe hochzuschalten und schon wird der Konflikt sehr schnell heiß – bis zum Krieg im Pazifik. Die Situation ist dabei auf eine Art ähnlich wie im Taiwan-Konflikt – auf eine andere jedoch ganz anders. Auch hier geht es darum, ob die USA glaubhaft machten kann, dass man zu seinen Verbündeten steht und seine eigenen Durchfahrtsrechte geltend macht.
Auf der anderen Seite steht am Horizont nicht die Drohkolisse eines offenen, großangelegten Invasionskriegs, sondern das genaue Gegenteil: Eine langsame Eskalation, eine scheibchenweise Übernahme, Insel für Insel, eine Provokation nach der anderen. Bis Peking irgendwann dafür gesorgt hat, dass sich andere nicht mehr in bestimmte Atolle wagen, nicht mehr bestimmte Inseln oder Riffe überfliegen – aus Angst vor der Konfrontation mit den Chinesen. Dann hat Peking gewonnen, ohne einen Schuss abzufeuern. Und kontrolliert eine – wenn nicht sogar die – wichtigste Seehandelsroute der Welt.
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China und Taiwan: Countdown zum Krieg
In deutschen Medien eher unbeachtet, spitzt sich die Lage im Taiwan-Konflikt dramatisch zu. In Deutschland scheint sich kaum einer mit dem unvorstellbaren Ausmaße und Konsequenzen zu befassen. Stattdessen darf die Insel bestenfalls als Argumentationshilfe in der Ukraine-Debatte hinhalten – dabei ist Taiwan aber eben nicht die Ukraine 2.0Länder wie die Philippinen leisten dagegen Widerstand, aber ihr Kampf erinnert an David gegen Goliath: Kleine Kutter, die Soldaten zu einem rostigen alten Kriegsschiff bringen, verfolgt von chinesischen Küstenwachenbooten, die eher Kriegsschiffen ähneln. Mit Manövern und Tricks versucht man, den Chinesen auszuweichen und weiterzumachen. Aber das nutzt nur wenig.
Die Realität in Ostasien ist: Die chinesische Marine ist längst zur größten Marine der Welt angewachsen, größer als die US-Marine, die ihr nur noch in einigen Punkten, wie etwa der Zahl der Flugzeugträger, voraus ist. Aber anders als die Amerikaner können die Chinesen ihre Kräfte ganz auf den West-Pazifik konzentrieren, müssen keine Flugzeugträger nach Nahost entsenden. Und haben so im südchinesischen Meer durchaus einen Vorteil durch schiere Größe und Präsenz.
Sollte es dort zwischen beiden Supermächten zum Konflikt kommen – auch wenn das aktuell um Taiwan wahrscheinlicher erscheint – wäre es ein Krieg, den man so seit Jahrzehnten, beinahe 70 Jahren, nicht gesehen hätte: Ein großer Seekrieg im Pazifik – versenkte Kriegsschiffe, US-Marines gegen chinesische Marineinfanteristen auf kleinen Inseln, Luftschlachten über dem Meer, ballistische Raketen im Anflug auf US-Flugzeugträger.
Was also wie ein vermeintlich kurioser Streit rund um ein paar Atolle und ein verrostetes, altes Kriegsschiff irgendwo im Pazifik erscheinen mag, kann durchaus schnell globale Bedeutung annehmen. Wenn die letzten Jahre eines gezeigt haben, dann das: Wie schnell aus einem Vormarsch triumphale Eroberung, aus Übungen Krieg und aus dem vermeintlich friedlichen Status Quo eine Terrorhölle wird, merkt der Westen zurzeit oft zu spät.
Ein bisschen beschämend ist es, Texte wie diesen zu lesen. Denn die kindliche Naivität der deutschen Wir-retten-die-Welt-Außenpolitik wird einem dabei eindringlich vor Augen geführt.
Vielen Dank, Herr Thormann, dass sie uns auf dem Laufenden halten. Man verliert bei den ganzen Krisenherden ja so langsam den Überblick… Was im Pazifik geschieht, ist zwar zunächst weit weg, eventuell aber wichtiger für uns als vieles andere.
Taiwan gehört unbestritten zum chineschischen Festlandsockel.
Auch wenn die Insel im Zwangsvertrag von 1894 an Japan abgetreten werden mußte. Nur deshalb konnte der Tschiang Kai-shek dorthin flüchten.
Bei den Phillipinen bin ich mir nicht so sicher.
WIE lange waren die eigentlich amerikanische Kolonie?
Wenn die Hells Angels übermächtig geworden sind, müssen die Bandidos um ihre Pfründe fürchten und versuchen ebenfalls ihre Machtbereiche zu vergrößern. Den Schaden haben all die, die nur ihr leben friedlich gestalten wollen.