Werbung

Rubiales-Rücktritt: Der Skandal ist nicht der Kuss, sondern die Cancel-Wut

Bei der Siegerehrung der Frauenfußball-WM drückte der spanische Verbandschef Rubiales einer Spielerin einen Kuss auf den Mund. Der Vorfall eskalierte zum Sexismus-Skandal - jetzt ist Rubiales zurückgetreten. Zu Unrecht, meint unsere Autorin.

Werbung

Der Präsident des spanischen Fußballverbands, Luis Manuel Rubiales, ist zurückgetreten. Das gab er am Sonntagabend in einem Interview mit dem englischen Journalisten Piers Morgan bekannt. Außerdem verkündete Rubiales, dass er auch seine Position als Vizepräsident des europäischen Fußballverbands Uefa ablegen werde. Rubiales war über Wochen nachdrücklich zum Rücktritt gedrängt worden, weil er bei der Siegerehrung der Frauen-WM einer Spielerin seines Gewinnerteams vor laufender Kamera auf den Mund geküsst hatte. Wir erinnern uns:

Montagfrüh, am 21. August, wusste plötzlich ganz Deutschland, dass man offenbar am Sonntag das Finale der Frauenfußball-WM verpasst hatte. Alle Zeitungen brachten aufgeregte Berichte über das Event heraus – mit Sicherheit zur eigenen Überraschung der Journalisten. Man kann sich bildlich vorstellen, wie sich die Medienvertreter noch während des Finalspiels gähnend gefragt haben müssen, wie sie nun das Ergebnis präsentieren wollen, was in Deutschland doch eh keinen interessiert. Doch dann die große Erleichterung: „Sexuelle Gewalt“ bei der Siegerehrung! Vor laufender Kamera drückt der spanische Verbandspräsident Luis Rubiales seiner Heldin Hermoso einen Kuss ins Gesicht – auf den Mund! Ja – nein – doch! Die Medien waren außer sich. 

...
...

Endlich passiert mal was bei der Frauen-WM, dachte man sich offenbar. „Form der sexuellen Gewalt“, donnerten stern und FAZ auf ihre Startseite. Bild lieferte „Die Skandal-Akte des Spanien-Bosses“. Die Story schrieb sich quasi von selbst: Der schmierige Spanier-Macho steckt der National-Spielerin gegen ihren Willen die Zunge in der Hals. Als Beweis für die Übergriffigkeit der Handlung wurde ein Video von Hermoso angeführt, in dem sie nach der Siegerehrung über den Kuss sagt, dass er ihr nicht gefallen habe. Die Zeitungsredakteure lieferten den Kontext: Ekel-Rubiales sei ja schon mal vorgeworfen worden, Verbandsgelder für Orgien-Partys mit einigen Frauen aus dem Fenster geworfen zu haben. Passt also ins Bild, dass er mal ganz frei seine Spielerinnen busselt, sollte sich der Leser offenbar denken. Im Nebensatz erwähnte man kurz, dass die Vorwürfe vom Verband stets abgewiesen wurden. 

„Form sexueller Gewalt“

So geht es munter im Hau-Drauf-Modus weiter: Zwar zitierten die meisten Medien Hermosos offizielle erste Stellungnahme zu dem Kuss, in der sie sagte, dass man „dieser Geste der Freundschaft und der Dankbarkeit nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken“ sollte. Zur Einordnung wurden dann jedoch mehrere Kommentare spanischer Politikerinnen dagegengestellt, die das ganz anders gesehen haben. „Es ist eine Form der sexuellen Gewalt, die wir Frauen täglich erleiden und die bisher unsichtbar war und die wir nicht normalisieren dürfen“, kommentierte Spaniens Gleichstellungsministerin Irene Montero auf Twitter (jetzt „X“) den Kuss. Es stehe die Zustimmung im Mittelpunkt, erklärte die Politikerin, die sich in ihrer Twitter-Biografie selbst als Feministin bezeichnet. Sie ergänzte: „Nur ein Ja ist ein Ja“.

Dass die Politikerin hier eine politische Einordnung vornahm, ist kein Zufall. Die letzte spanische Links-Regierung hat ein Gesetz auf den Weg gebracht, dass bei sexuellen Handlungen die ausdrückliche Zustimmung aller Beteiligten erfordert. Seit 2022 ist der Entwurf rechtskräftig. Inzwischen regieren jedoch die Konservativen im Land. Die Regierung war an den Debatten um den Gesetzesentwurf zerbrochen. 

Kurz nachdem Hermoso ihr erstes beschwichtigendes Statement abgegeben hatte, änderte sich jedoch die Stimmung in der Frauennationalmannschaft. Fünf Tage nach dem WM-Finale traten die spanischen Nationalspielerinnen in einen „Streik“ und forderten den Rücktritt von Rubiales. Danach folgte Schlag auf Schlag. Der Weltverband Fifa sperrte Rubiales vorläufig für 90 Tage, selbst die Vereinten Nationen schalteten sich ein. „Wie schwierig ist es, jemanden nicht auf die Lippen zu küssen?“, sagte der Sprecher von UN-Generalsekretär António Guterres, Stephane Dujarric, Ende August in New York. Schließlich stellte sich auch der spanische Fußballbund gegen Rubliales, der ihn zuvor noch unterstützt hatte.

Dann kam der Fall auch juristisch ins Rollen. Anfang September erstattete Nationalspielerin Hermoso Anzeige gegen Rubiales, die spanische Staatsanwaltschaft reichte Klage wegen sexueller Nötigung ein. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft öffentlich gemacht, dass sexuelle Nötigung mit einer Freiheitsstrafe zwischen einem und vier Jahren bestraft werden könne. Nun hat Rubiales dem Druck offensichtlich nachgegeben.

Der Kuss war kein Skandal

Die rasante Eskalation des Kuss-Skandals befremdet. Erst recht, wenn man sich das Videoaufzeichungen anguckt, die Hermoso noch kurz nach ihrem WM-Sieg veröffentlichte. Die vereinte Apollo News-Übersetzungseinheit hat sich zusammengetan und sich das damals viel zitierte Video angeschaut. Es ist eine ausgelassene Partystimmung zu sehen. Hermoso filmt sich dabei, wie sie aus einer Sektflasche trinkt. Im Hintergrund scheint jemand über den Kuss zu sprechen – Hermoso ruft: „Aber es hat mir nicht gefallen!“. Sie lacht danach in die Kamera. Dann scheint sie jemand zu fragen, warum sie nichts gemacht habe. Hermoso antwortet feixend: „Was hätte ich denn tun sollen?“ Dann fragt eine Männerstimme: „War’s denn mit Zunge?“. Die Fußballerin macht eine verneinende Geste. „Ein bisschen schon“, sagt der Mann – Hermoso lacht. Später sieht man die Spielerin grinsend im Arm von Luis Rubiales in der Umkleide stehen. Rubiales verkündet feierlich, dass er die Spielerinnen zur Feier des Tages auf eine Reise nach Ibiza einladen will. Als alle jubeln, ruft Rubiales: „Und dort feiern wir die Hochzeit von Jenni und Luis Rubiales“. 

Über die Körpersprache von Hermoso im Video gibt es geteilte Meinungen unter den Apollo-Autoren: Manche sind der Meinung, ihr sei der Kuss tatsächlich zu viel gewesen, und sie habe nur aus Verlegenheit gelacht. Andere sagen, dass das ganze Video nur Albereien in einer euphorischen Siegeslaune zeigt und man überhaupt nicht sehen könne, dass Hermoso irgendein Problem mit dem Kuss gehabt haben soll. Wie auch immer es nun gewesen war, eins ist klar: Im Vergleich zum WM-Sieg scheint der Nationalspielerin der Kuss des Verbandspräsidenten komplett wumpe gewesen zu sein. Hätte sie im Video wirklich offenbart, dass sie gerade einen schlimmen, sexuellen Übergriff erlebt habe (so wie es sämtliche Medien suggerierten), hätte sie nicht dermaßen ausgelassen gegrinst und gejubelt.

Es ist ja auch irgendwie albern. Selbst wenn Hermoso der Kuss einen Schritt zu weit gegangen sein sollte, kann sie ja als erwachsene Frau dafür sorgen, dass auf den Kuss nichts Weiteres mehr folgt. Auf jeden Fall könnte sie sich freuen, dass sie von ihrem Vorgesetzten für ihren Super-Schuss geherzt wurde. Das heißt ja, dass er zufrieden mit ihrer Leistung war. Ich glaube gern, dass Rubiales ein schmieriger Typ und nicht gerade sympathisch ist. Aber, dass dieser Mann wegen eines Freuden-Kusses nun am Ende seiner Karriere steht, ist unheimlich. Der eigentliche Skandal in der Causa Rubiales ist nicht der Kuss, sondern die unfassbare Macht, die die MeToo-Bewegung immer noch hat.

Werbung