Von allen Seiten rasten Roller heran. Rechts neben mir brannte eine Mülltonne, links wurde mit lautem Krachen eine Mülltonne von vermummten Gestalten umgestoßen. Zeitgleich schoben Jugendliche eine weitere Mülltonne mitten auf die Fahrbahn, so dass ich schlagartig gezwungen wurde in den Gegenverkehr auszuweichen. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Die Scooter kamen von allen Seiten, während ich selbst kreuz und quer über die Straße raste, um nicht von einem anderen panischen Autofahrer gerammt zu werden – ich hatte das Gefühl, ich wäre mitten in einem Kriegsgebiet.
Auf den Straßen Marseilles herrschte pure Anarchie
Das war mein erstes Erlebnis, nachdem ich am späten Samstagabend – vier Tage nachdem der Tod eines algerischen Jugendlichen in ganz Frankreich zu schweren Ausschreitungen geführt hatte – mit einem mulmigen Gefühl über die Stadtgrenze in die nordöstlichen Randbezirke nach Marseille eingefahren war. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass genau diese Bezirke für Krawalle bekannt sind. Dass die Bewohner zu einem extrem hohen Anteil einen Migrationshintergrund aufweisen und stark von Algeriern dominiert werden. Und dass nur einen Tag zuvor ein Waffengeschäft in der Stadt geplündert wurde. Ich wusste also nicht, worauf ich mich eingelassen hatte – doch es wurde mir nur Minuten später schlagartig klar. Marseille war weder eine normale Stadt, noch war das ein normaler Tag.
Völlig planlos bog ich in eine Straßenbiegung ab und fuhr auf einen Kreisverkehr zu, als plötzlich gefühlte 200 Scooter aus der Gegenrichtung auf mich zurasten. Die Jugendlichen auf den Rollern hatten wohl versucht in einen Laden einzudringen und wurden von der Polizei dort weggedrängt oder sie hatten sich eine Schlacht mit den Beamten geliefert – ich konnte das alles nicht registrieren, weil es sich in Sekunden abspielte. Und um ehrlich zu sein, war es mir auch egal. Ich hatte Panik und dachte nur noch daran, mein Auto und mein Leben zu schützen.
Während ich hektisch versuchte zu wenden, schrieen einige Rollerfahrer aggressiv andere Autofahrer an und begannen dabei wie wild mit ihren Händen zu gestikulieren – ich verstand nur leider kein Wort, was meine Situation nicht grade besser machte. Also drückt ich das Gaspedal bis zum Anschlag durch – Hauptsache weg von hier. Und ich hatte auch keine andere Wahl: Roller und Autos waren so dicht hinter mir, das jedes zögern eine Massenkarambolage bedeutet hätte. Es war 23 Uhr und auf den Straßen Marseilles herrschte pure Anarchie.
Er brüllte: „fuck all white men“
Mit einem Puls von gefühlt 200 Schlägen pro Minute fuhr ich in einen (für Marseilles Verhältnisse) eher ruhigeren Bezirk ein – hier wurde nur jede dritte Mülltonne umgeworfen und nur jede zehnte war abgebrannt. Nachdem ich mein Auto abgestellt hatte, holte ich mir erstmal einen Döner bei einem kleinen Imbiss, um wieder etwas runterzukommen. Als ich das Papier in einen Mülleimer werfen wollte, stockte ich kurz – ich kam mir dumm vor, meinen Müll in einen Eimer zu werfen, dessen Inhalt sich in maximal zehn Minuten sowieso über die Straße ergießen würde. Ein Jugendlicher beobachtete mich dabei und lachte mich aus – er dachte wohl dasselbe wie ich.
In der Innenstadt selbst wurde das Bild der Zerstörung nur noch eindrücklicher. Im Marseiller Börsenviertel sollen Jugendliche in Geschäfte eingedrungen sein und unter anderem ein Autohaus völlig ausgeräumt haben.
Was mich verwirrte, als ich Richtung Hafen lief, war, dass erstaunlich viele (normale) Menschen auf der Straße unterwegs waren. Bars und Clubs waren rappelvoll – hier merkte man den Ausnahmezustand nur durch vereinzelte Auseinandersetzungen. In einer prall gefüllten Bar konnte ich ein Handgemengte zwischen zwei Personen beobachten. Ein weißer und ein schwarzer Mann wollten sich grade an die Gurgel gehen, als andere Franzosen einschritten und den Aggressor, den Schwarzen, wegdrängten. Er kam jedoch noch einmal zurück und rannte wütend auf die Gruppe zu. Nachdem er mit Pfefferspray zurückgeschlagen wurde, suchte er unter Schmerzen schreiend das Weite – er brüllte: „fuck all white mens“. Ich war schockiert von der Szene, außer mir schien sie jedoch niemanden zu interessieren: Die anderen Gäste saßen gemütlich da und tranken ihr Bier. So als wäre das alles ganz normal.
Plötzlich mitten im Scheinwerferlicht
Auch mein weiterer Weg Richtung Hafen war mit umgetretenen, teils brennenden Mülltonnen gesäumt – sie kamen mir vor wie Waffen, weil überall lange Holzbretter lagen, die teilweise mit Metall oder Stahl versehen waren. Während ich Slalom um die Müllberge und die unzähligen Ratten lief, die offenbar ihr Zuhause verloren hatten, wurde ich immer wieder von Rollerfahrern angesprochen. Einer fragte mich mit ernster Miene, ob Polizei in der Nähe sei. Und das war sie. Die Canembiere, die Hauptstraße, welche direkt zu dem weltbekannten Hafen führt, wurde von zahllosen Polizisten abgeriegelt. Das Straßenbild zeugte mit ausgebrannten Scootern, Scherbenmeeren und zerschmetterten Bushaltestellen noch von den Kämpfen der letzten Nacht. Krankenwägen waren gezwungen über Schutt und Asche einen Weg zu ihren Patienten zu finden.
Die Polizei war mit gepanzerten Fahrzeugen, Maschienengewehren und Schutzschilden vor Ort und zog zahlreiche Autofahrer aus dem Verkehr, um zu kontrollieren, ob die Fahrer Waffen bei sich hatten. Das traf auch einen Mann, der seinen Motor ohne Grund im ansonsten völlig leergefegten Hafen aufheulen ließ – wahrscheinlich wollte er die Beamten provozieren. Zumindest wäre er nicht der einzige gewesen. Immer wieder schrieen Leute die Polizisten an, ich beobachtete sogar wie ein schwarzer Mann leere Bierdosen auf die Beamten warf – die zeigten sich davon jedoch völlig unbeeindruckt.
Die ganze Nacht flogen Hubschrauber mit riesigen Scheinwerfern über der Stadt. Einmal fand ich mich plötzlich mitten in ihrem Lichtkegel wieder – mir rutschte das Herz in die Hose.
Feiern und Tanzen zwischen Schutt und Asche
Die Krawall-Nacht fühlte sich aber nicht nur wegen Erlebnissen wie diesem, der ausufernden Gewalt und den schwer gepanzerten Sicherheitskräften, unwirklich für mich an. Streckenweise schien es sich in Marseille fast um eine ganz normale Samstagsnacht zu handeln. Dass die öffentlichen Verkehrsmittel schon seit 18 Uhr stillstanden war dem Stadtbild nicht anzumerken. Die Bürgersteige waren teilweise so voll von feiernden Menschen, dass man auf die Straße ausweichen musste, um an der Menschenmenge vorbeizukommen. Sie lachten und tranken, während die halbe Stadt der Marseillaise in Schutt und Asche gelegt wurde.