Werbung

Fall Pelicot

Die Scham muss die Lager wechseln

Um die 200 Mal wurde Giséle Pelicot von zig unterschiedlichen Männern vergewaltigt. Ihr eigener Ehemann hatte sie wiederholt auf Drogen gesetzt und im Internet angeboten. Was der Fall für den Umgang mit solchen Tragödien zeigt.

Werbung

Gisèle Pelicot ist 71 Jahre alt. Die Französin trägt ihr Haar leicht rötlich gefärbt in einem Bob mit Pony. Gemeinsam mit ihrem Mann Dominique Pelicot, einem Elektriker, der inzwischen in Rente ist, hat sie drei Kinder großgezogen, die bereits ihre eigenen Familien haben. Vor einiger Zeit sind sie von der Region Paris in die französische Gemeinde Mazan in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur gezogen.

Gisèle ist jetzt in einem Alter, in dem sie voller glücklicher Erinnerungen auf ihr Leben zurückschauen und Zeit mit ihren sechs Enkeln verbringen sollte, während ihr Mann friedlich auf dem Schaukelstuhl schnarcht. Doch stattdessen steht sie in einem Gerichtssaal. Jeden Tag umgeben von Paparazzi und den Anwälten der renommierten Pariser Kanzlei, die sie engagieren musste. 

Wenn sie heute auf ihr Leben zurückschaut, wird es ihr schwerfallen, glückliche Erinnerungen zu finden, die nicht von den Dingen überschattet werden, an die sie sich nicht erinnern kann. Ihr ganzes Leben ist eine Lüge, das Leben, das sie mit dem Mann verbracht hat, der ihr das angetan hat. „Meine Welt fällt auseinander. Für mich fällt alles auseinander. Alles, was ich mir in den letzten 50 Jahren aufgebaut habe.“ 

Der Mann, mit dem sie ein halbes Jahrhundert verheiratet war, dem sie vertraut hat, der sie beschützen sollte, mit dem sie Kinder bekommen hat – an den sie so viel Lebenszeit verschwendet hat, die sie nie mehr zurückbekommen wird. Er steht nicht an ihrer Seite. Er sitzt auf der Anklagebank. 

Vor dem Gerichtssaal in Avignon tummelt sich eine Schlange von Männern. Männer in den unterschiedlichsten Altersstufen, mit den verschiedensten Berufen. Manche kennt Gisèle, weil es ihre Nachbarn waren, die meisten waren nicht einmal aus ihrer Region. All diese Männer haben nur eines gemeinsam: Sie haben Gisèle vergewaltigt. Aber Gisèle wusste davon nichts.

200 Vergewaltigungen in 10 Jahren 

Über 10 Jahre – von 2011 bis 2020 – wurde sie von siebzig unterschiedlichen Männern vergewaltigt. Hunderte Male. Dafür versetzte ihr Mann sie mit Medikamenten in die Bewusstlosigkeit und ließ dann das Tor offen für die Männer, denen er seine Frau über das Internet angeboten hatte. Mit ihrem Mann sind es 51 Männer, die sich dafür vor Gericht verantworten müssen. Es sind aber insgesamt fast 100 Männer beteiligt gewesen, die restlichen konnte die Polizei jedoch nicht identifizieren. 

Es ist nun schon vier Jahre her, dass tausende Bilder und Videos von USB-Sticks und Festplatten ihres Mannes Gisèles gesamtes Leben zum Einsturz brachten. Die hiesige Polizei war auf ihren Mann aufmerksam geworden, nachdem verschiedene Frauen ihn angezeigt hatten, weil er ihnen im Supermarkt unter den Rock gefilmt hatte. Bei der Durchsuchung seiner Daten tat sich dann der Abgrund auf. 

Insgesamt 20.000 Bilder und Videos hatte Dominique Pelicot als perverse Trophäen aufbewahrt, so die Daily Mail. Er soll sie fein säuberlich beschriftet und abgespeichert haben, zum Beispiel mit Titeln wie „Ihre Vergewaltiger“ oder „Meine Schlampe“. Auch Nacktbilder von seiner Tochter soll er gemacht haben, als sie schlief.

Dass es ihm nicht mehr gereicht hat, ihm nicht mehr den gleichen kranken Kick gegeben hat, seine Frau wie ein Stück Fleisch, wie eine „Lumpenpuppe“ – wie Gisèle es selbst ausdrückte – unter wildfremden Männern rumzureichen, ohne Kondom, das war eine seiner Regeln – dass er sich auch noch an fremde Frauen im Supermarkt ranmachen musste, ist ihm schlussendlich zum Verhängnis geworden. Wenn er da nur so taktisch organisiert gewesen wäre, wie er die Gruppenvergewaltigungen seiner Frau organisiert hat – wer weiß, wie viele Jahrzehnte das alles noch weitergegangen wäre. 

Lesen Sie auch:

Gisèles Schicksal ist so furchtbar, dass es einen gar nicht ausreichend schockieren kann, wie eine Art Schutzreflex. Man weiß nicht, was an der Geschichte schlimmer ist – die zig wildfremden Männer, die in ihre Stadt gereist kamen, nur um sich an ihrem reglosen Körper zu vergehen und sie dabei mit mindestens vier unterschiedlichen Geschlechtskrankheiten ansteckten, oder der Verrat ihres eigenen Ehemannes, der sich all das in seinem perversen Kopf ausgedacht und möglich gemacht hat. 

„La honte doit changer de camp“

Dass ihr Mann sie unter Drogen gesetzt und äußerst penibel darauf geachtet hat, dass keiner seiner Mittäter sie etwa mit zu starkem Parfüm oder Ähnlichem aus ihrem Schlaf holt, hat Gisèle körperliche Schmerzen und Qualen erspart. Zumindest während der Tat, denn über Jahre hatten sie mysteriöse gynäkologische Probleme und seltsame Filmrisse geplagt. Dafür ist die psychische Folter, die sie im Nachhinein ertragen muss, kaum vorstellbar. 

Am 2. November 2020, als die Polizei ihr das Material ihrer Vergewaltigungen vorlegte, weigerte sie sich noch, die tausenden Bilder und Videos anzuschauen. Inzwischen hat sie es gesehen. Und sie will, dass die ganze Welt davon erfährt. Seit Montag läuft der Prozess gegen die 51 Männer, darunter ihr Ehemann, den sie heute nur noch „Monsieur P.“ nennt. Er wird sich voraussichtlich noch bis in den Dezember ziehen. Ihr Ex-Mann wird wahrscheinlich im Gefängnis sterben, wenn das französische Justizsystem mit ihm fertig ist. 

Normalerweise finden Vergewaltigungsprozesse hinter verschlossenen Türen statt. Die Identität des Opfers wird aus allen öffentlichen Dateien gestrichen. Doch Gisèle hat auf diese Anonymität verzichtet. Warum? „La honte doit changer de camp“, sagte ihr Anwalt Stéphane Babonneau der Presse – die Scham muss die Lager wechseln.

10 Jahre lang war es Monsieur P., der über die Würde und die körperliche Unversehrtheit seiner Frau hinweg entschieden hat, sie zu fotografieren, sie zu filmen, sie vor Wildfremden zu entblößen, sie zu vergewaltigen und vergewaltigen zu lassen. Heute ist es Gisèle, die sich ein kleines Stück Kontrolle zurückerobert hat. 

Auf ihren Willen hin wird er vor der ganzen Welt entblößt, gegen seinen Willen fotografiert. Sie kommt mit erhobenem Haupt in den Gerichtssaal, mit ihren Kindern und ihren Anwälten an ihrer Seite. Währenddessen steht er alleine da und versucht sein Gesicht vor den vielen Journalisten zu verstecken. 

Doch Dominique Pelicot, Redouan El Farihi, Nicolas Francois, Saileddine Ghabi, Cédric Grassot, Paul Grovogui, Nizar Hamida, Quentin Hennebert, Joan Kawai, Jean-Luc La,  Philippe Leleu, Jean-Marc Leloup, Christian Lescole, Adrien Longeron, Hugues Malago, Jean-Pierre Marechal, Simone Mekenese, Boris Moulin, Patrice Nicolle, Hassan Ouamou, Thierry Parisis, Thierry Postat, Mohamed Rafaa, Florian Rocca, Andy Rodriguez, Lionel Rodriguez, Didier Sambuchi, Karim Sebaoui, Gregory Serviol, Fabien Sutton, Ahmed Tbarik, Jean Tirano, Romain Vandevelde, Cedric Venzin und Jérôme Vilela können sich nie wieder verstecken. 

Werbung