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Die Affäre Gil Ofarim: Tragisches Symptom der Opfer-Gesellschaft

Gil Ofarim hat den antisemitischen Übergriff auf sich einfach erfunden, gibt er selbst nun auch zu. Er ist kein Opfer - aber Produkt einer Gesellschaft, die das Opfer-sein, das Weinen und Wehklagen zum Ritterschlag erhoben hat. Das ist am Ende toxisch für alle.

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Er hat gelogen. Das hat Gil Ofarim auch vor Gericht zugegeben. Der Musiker, der 2021 behauptete, Opfer von antisemitischer Diskriminierung in Leipzig geworden zu sein, hatte die von ihm verbreitete Geschichte, er sei wegen einer Davidstern-Kette beleidigt und des Hauses verwiesen worden, einfach aus dem Nichts heraus erfunden. Peinlich nicht nur für ihn, sondern auch für alle, die sich unkritisch, sofort und total hinter den Lügner stellten. Aber: Das Problem beginnt nicht mit Ofarim.

Ich will ihn nicht in Schutz nehmen – was Ofarim gemacht hat, war infam. Es war brutal gegenüber dem Hotel und seinen Mitarbeitern, fahrlässig gegenüber allen Juden in Deutschland, die wirklich Antisemitismus erfahren. Aber er ist am Ende auch nur ein Symptom – ein Symptom einer Gesellschaft, die das Opfer-sein strukturell belohnt, feiert und fördert. Politiker, Journalisten, Stimmen des öffentlichen Lebens stellten sich sofort und kompromisslos hinter den Musiker – und attackierten ohne weitere Prüfung Hotel und Mitarbeiter. Einige von ihnen, so zum Beispiel die CDU-Politikerin Karin Prien, haben sich dafür bereits öffentlich entschuldigt. Das zeugt von Größe – aber das reicht nicht. Was es braucht, ist ein Hinterfragen der Automatismen.

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Schluss mit dem Twitter-Standgericht!

Wie kann es sein, dass ein einzelner Mensch mit einer doch unglaubwürdigen Geschichte innerhalb von Stunden eine Hass-Welle auslösen kann, bei der dann ein Unschuldiger von einem Internet-Mob aus seinem Job gejagt und sein Arbeitgeber boykottiert wird? Der Fall Ofarim sollte lange überfälliger Anlass sein, diese Automatismen mal kritisch zu beleuchten. Denn dass ein Hotel mit all seinen Mitarbeitern von einem Online-Mob innerhalb von Stunden an den Rand der Existenzvernichtung gebracht werden kann, dass einzelne Menschen alles verlieren können, wenn die Twitter-Standgerichte es mal eben beschließen, ist mittelalterlich.

Wir leben in einer Zeit, in der nicht mehr Stärke und persönliche Wehrhaftigkeit, sondern Schwäche und Opfer-sein gesellschaftliche Währung ist. Die Gesellschaft hat den berechtigten Wunsch, Diskriminierung ernst zu nehmen und zu bekämpfen, geradezu absurd überzogen. Gil Ofarim wusste das, und er wusste deswegen auch genau, welche Knöpfe er drücken musste.

Und das ist auch das Fatale: In einem Land, in dem man gerne mal wegen wenig und nichts „Rassismus!“ und Co. ruft, ist der Antisemitismus eine der wenigen Formen der Diskriminierung, die tatsächlich ein gewaltiges, alltägliches und wachsendes Problem ist und quasi täglich zu Gewalt führt – das wissen wir nicht erst seit dem 7. Oktober. Ofarim jedoch machte aus dem Kampf gegen Judenhass ein politisch korrektes Märchen.

Vielleicht sollten wir alle einmal in uns gehen – vor allem die natürlich, die Ofarims Fake-Story sofort glaubend verbreiteten – und uns fragen, woher diese Automatismen kommen. Warum wir so gewillt sind, das gefühlte Opfer-sein zu belohnen und es zu einer Art Ritterschlag der Neuzeit erheben – und ob das gut ist.

Der totale Opferkult und seine Automatismen sind Gift für alle

Ich finde, mit dieser Methode schaden wir uns allen. Wir schaden der Mehrheitsgesellschaft, aber auch den verschiedenen Minderheiten. Eine Gesellschaft, in der jeder vor einer Art öffentlichem Standgericht sofort für irgendeine Art von Phobie oder Hass vorverurteilt werden kann, nur weil die Anschuldigung erhoben wird, schadet den Minderheiten. So verstärkt sich der Frust gegenüber Minderheiten. So wird gespalten. Und so wird auch der Kampf gegen Antisemitismus untergraben.

Minderheiten selbst wird mit dieser Art der Kultur unrecht getan. Viele wirklich diskriminierte Menschen wollen nämlich gar kein Opfer sein – aber werden dazu gemacht. Sie werden letztendlich für ihre vermeintliche, erwartete Schwäche gefeiert.

Das heißt nicht, dass wir Diskriminierung als Gesellschaft hinnehmen und nicht bekämpfen sollten. Das heißt auch nicht, dass man Opfern von Diskriminierung gegenüber nicht empathisch oder nicht solidarisch sein sollte. Aber Stärke beginnt bei einem selbst – wo sonst? Und genau das sollte die Gesellschaft wieder vermitteln. Nur mal so theoretisch: Für den Kampf gegen Homophobie beispielsweise ist mehr getan, wenn ein Typ, der vor einer Gay-Bar die „scheiß Schwuchteln“ beschimpft und angreift, von einer dieser „scheiß Schwuchteln“ mal einen ordentlichen Faustschlag kassiert. Denn wer sich wehrt, ist nicht mehr in der Opferrolle gefangen.

Ein Gil Ofarim entsteht, wenn das Gegenteil gilt. Wenn der laute Ausruf „Ich bin ein Opfer!“ reicht, um gefeiert, be- und geachtet zu werden. Wenn das Weinen und Wehklagen einen Nobody zu einem Somebody macht. Das ist toxisch für alle Beteiligten – für Mehrheiten, Minderheiten und die Gesamtgesellschaft.

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