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Der 8. Mai und der geschichtsvergessene Mythos vom „Tag der Befreiung“

Am achten Mai will auch Deutschland den „Tag der Befreiung“ feiern - und offenbart damit ein schizophrenes Geschichtsverständnis. Einerseits zelebriert man eine „Erinnerungskultur“ - nur an die eigene Niederlage will man sich nicht erinnern. Als sei man selbst das erste NS-Opfer gewesen.

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Wussten Sie, dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg gar nicht verloren hat? Das zumindest sagt unsere Bundesregierung in Form von Bundesministerin Lisa Paus. Die stellte im letzten Herbst fest, dass es eine Niederlage Deutschlands nicht gegeben habe. Jedenfalls drückte sie aus: Wer das behaupte, sei ein Nazi, ein Faschist. Sie sagte dies, weil AfD-Chefin Weidel einer Siegesfeier in der russischen Botschaft mit der Begründung fernblieb, die Niederlage des eigenen Landes nicht feiern zu wollen.

Nazi ist, wer die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg als solche bezeichnet. Die Grünen-Politikerin setzte einem verirrten deutschen Geschichtsverständnis damit die Krone auf, in dem der Mythos der „Befreiung“ quasi von hinten wieder an die Nazi-Straftat der Wehrkraftzersetzung anknüpft: Wehe dem, der über die deutsche Niederlage spricht! Aber es war und ist nicht nur Paus: Die gesamte deutsche Politik hat das Land im Rückblick von jeder Schuld freigesprochen. „Wer nicht feiert, hat verloren!“, verbreitet die SPD-Bundestagsfraktion beispielsweise am heutigen Tag. Und da jeder feiert, hat keiner verloren?

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Der Zweite Weltkrieg ohne Täter?

Ich sollte meine Oma anrufen und ihr sagen, dass sie als Deutsche den Zweiten Weltkrieg gar nicht verloren hat. Sie, gebürtig aus Pommern, floh vor den Sowjets quer durch Deutschland, die sie unter Zwang nach Sibirien verbringen wollten. Ihr Vater fiel an der Ostfront, sie wurde vertrieben. Ihr Zuhause in Stettin sah sie nur noch ein einziges Mal. Herzlichen Glückwunsch zur Befreiung?

Ja: Der Zweite Weltkrieg endete, das NS-Regime brach zusammen. In gewisser Weise sind so auch die Deutschen befreit worden. Den Tag deswegen als einen deutschen „Tag der Befreiung“ zu feiern, ist trotzdem falsch – auch, wenn es mittlerweile in Deutschland so gehandhabt wird. Denn es verkennt den entscheidenden Unterschied: Wenn die Franzosen, die Niederländer, die Polen oder die Tschechen den Tag der Befreiung feiern, dann feiern sie das Ende von Fremdherrschaft und Besatzung. Wenn Deutschland einen Tag der Befreiung feiert – von wem wurde es dann befreit? Von sich selbst? In einem Land, das sich selbst für seine „Erinnerungskultur“ feiert, sollte man sich vor allem an eines erinnern: Es waren Deutsche, die Hitler unterstützten, seinen Krieg führten, seine Verbrechen begingen. Deutschland war Kriegsgegner der Sieger des Zweiten Weltkrieges. Wenn Deutschland den Krieg nicht verloren hat, wer dann? Alle Gewinner? Der Zweite Weltkrieg ohne Täter?

Wie Weizsäcker die Deutschen entlastete

„Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient.“ Dieser Satz stammt von Richard von Weizsäcker. Der damalige Bundespräsident sagte diesen Satz in einer Rede, die für ein anderes Zitat historische Bedeutung erfahren hat: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“

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Gerade vor dem Hintergrund des letzteren Zitates, welches das Geschichtsverständnis dieser Republik verändert hat, wirkt der erste Satz wie eine Entlastung. Aber niemand kann doch gedacht haben, im Zweiten Weltkrieg für „die gute Sache“ zu kämpfen. Der Holocaust war in seinen Ausmaßen nicht bekannt, aber die systematische Deportation und Diskriminierung von Juden war es. Erst nach dem achten Mai soll sich „herausgestellt“ haben, dass dies den „unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung“ diente? Nein – so einfach war es nicht.

Die unmenschlichen Ziele der Nazis waren kein Geheimnis – und die Deutschen sind deshalb nicht einfach „befreit“ worden. Völlig absurd wäre es, wenn ein Mörder sich im Prozess gegen sich selbst bedankt, vom Morden befreit worden zu sein – und sich als erstes Opfer seiner eigenen Taten inszenieren würde. Genau das tut jedoch jeder, der unkritisch von „Befreiung“ schwafelt – als wäre die Hitler-Herrschaft etwas gewesen, das fremde Mächte dem armen deutschen Volk aufgezwungen hätten.

Der Mythos von Befreiung verzerrt die historische Wahrheit

Den Mechanismus dahinter beobachteten wir über Jahrzehnte in Österreich: Die Alpenrepublik spann nach dem Kriegsende schnell ihren ganz eigenen Opfermythos. Dabei dienten Österreicher in Wehrmacht, SS und NS-Partei genauso wie die heutigen Bundesdeutschen. Holocaust-Organisator Adolf Eichmann wuchs in Österreich auf, Kriegsverbrecher Arthur Seyss-Inquart oder SS-Führer Odilo „Globus“ Globocnik waren gebürtige Österreicher.

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Die Österreicher waren gemeinhin genauso Nazis, wie es die späteren Bundesdeutschen waren. Lange verdrängte man das aber aus dem nationalen Bewusstsein, um sich selbst von jeder Schuld freizusprechen. Auch in der DDR zelebrierte man sich als „befreit“: Ulbricht und Honecker huldigten den „Befreiern“ in der Sowjetunion eigentlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit, um gleichzeitig anklagend auf die angeblich neofaschistische Bundesrepublik zu zeigen. Man lehnte so auch jede Verantwortung für die junge NS-Vergangenheit ab.

Man mag über die vielen Marotten der deutschen „Erinnerungskultur“ – die inzwischen auch immer mehr nur ein aufgesetztes Ritual der Selbstbezogenheit darstellt – halten, was man möchte. Aber: Die bundesrepublikanische Gesellschaft schaffte es zumindest, einen halbwegs ehrlichen Umgang mit der Geschichte von NS, Holocaust und Zweitem Weltkrieg zu finden. Das unkritische Zelebrieren einer „Befreiung“ begräbt diesen Umgang erneut unter dem Geröll der Geschichte. Einerseits sollen wir jeden Tag an unsere „historische Verantwortung“ denken – aber andererseits befreien wir uns mit dem „Tag der Befreiung“ rückwirkend als Nation von einer Verantwortung für den Krieg. Die deutsche Geschichtspolitik ist schizophren.

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