Im äußersten Westen Berlins, da wo die Stadt zwischen letzten Einfamilienhäusern ausläuft und der Grunewald beginnt, liegt die Clay-Allee. Hier ist die konsularische Abteilung der US-Botschaft. Eine Statue von George Bush blickt zwischen Schlange stehenden Austauschschülern ins Grüne. Die Straße ist die letzte Erinnerung an einen Mann, dem Berlin alles verdankt und den dennoch kaum noch jemand kennt.
Lucius D. Clay wurde als Sohn eines Senators in eine politische Dynastie in Georgia geboren. Eine schnelle Militärkarriere machte ihn im Alter von 46 Jahren zum stellvertretenden Stabschef von Eisenhower im Zweiten Weltkrieg. Er setzte 1944 den Hafen von Cherbourg in der Normandie wieder instand, was der entscheidende Nachschubweg für die Westalliierten in Frankreich war. Im Mai 1945 wurde er stellvertretender Oberbefehlshaber der US-amerikanischen Besatzungszone.
Der Krieg war gerade vorbei, für die Amerikaner hatte er erst ganz am Ende im Zuge der Ardennenoffensive bei Bastogne seine blutigsten Kapitel gezeigt. Den Alliierten schwebte Rache vor an diesem Feind, der so erbittert kämpfte; die Höllen des Holocausts wurden gerade der westlichen Öffentlichkeit bekannt. Und so wurde der Morgenthau-Plan zum Schlagwort eines Umgangs mit dem besiegten Deutschland: vollständige Demontage der Industrie im Ruhrgebiet und im Rheinland, Zerschlagung des Großgrundbesitzes, politische Zerschlagung Deutschlands. Sogar das Verbot für Deutsche, Luftfahrzeuge zu führen, war vorgesehen.
Angelehnt an den Morgenthau-Plan sollte die Direktive JCS 1067 den Umgang mit den Deutschen regeln. Sie besagte, es sollten keine unabgesprochenen Schritte unternommen werden, die zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands führen könnten oder die die Wirtschaft stärken. Doch in wenigen Monaten änderte sich die amerikanische Haltung blitzartig: Die fatale Direktive wurde nie richtig umgesetzt.
Clay war innerhalb der Administration jener, der am entschiedensten gegen diese Pläne eintrat. Er ließ die Studie „A Report on Germany“ in Auftrag geben, die die dramatische, sich abzeichnende industrielle Entwicklung und die Situation der Lebensmittelversorgung sofort erkannte. Sie forderte, die Deutschen sollen die volle Eigenverantwortung erhalten. Deutschland sollte zum Exportland werden. Man forderte zudem eine Abkehr von den Ideen von Reparationen durch Demontagen.
Clay übernahm die Militäradministration in Deutschland und setzte mit der Direktive JCS 1779 ab 1947 eine neue Politik in Gang, die endgültig ein anderes Ziel hatte: den schnellen Wiederaufbau Deutschlands, das Privateigentum sollte gestärkt werden, Produktionsbeschränkungen wurden aufgehoben. Mit dem Marshall-Plan folgten Milliarden-Hilfen nach Deutschland – entscheidender wurde aber schließlich die Freiheit, die die USA der deutschen Selbstverwaltung ließ und die schließlich ermöglichte, dass Ludwig Erhard in einer chaotischen, unabgesprochenen Aktion die Währungsreform durchsetzte und die Grundlage für das Wirtschaftswunder legte. Danach kam es zum Höhepunkt von Clays Wirken in Berlin: der Berliner Luftbrücke.
Der eiserne Vorhang fällt – Berlin wird blockiert
Das Verhältnis zwischen West und Ost verschlechterte sich nach dem Krieg schnell – Churchill bemerkte schon 1946, es sei ein eiserner Vorhang über Europa niedergegangen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sowohl England als auch die Vereinigten Staaten den Großteil ihrer Bodentruppen aufgelöst beziehungsweise nach Hause geschickt. In Europa sahen sich die sechs britisch-amerikanischen Verbände allein in Ostdeutschland mit 17 sowjetischen Divisionen konfrontiert. Bei einem konventionellen Krieg hätte Russland, nach Einschätzungen des amerikanischen Verteidigungsministeriums, binnen 60 Tagen an der französischen Atlantikküste stehen können. Das letzte Verteidigungsmittel der USA war die Atombombe, über die die UdSSR noch nicht verfügte. Doch deren Wirkung war weitaus geringer als die heutiger Atomwaffen. Sie hatten einen im Vergleich zu heute sehr geringen Sprengradius und musste noch per Flugzeug abgeworfen werden. Zudem war die Anzahl der Sprengköpfe sehr begrenzt – für 1949 wird eine Zahl von 200 angegeben, zum Beginn der Luftbrücke waren es 50.
Die Befürchtung, Russland könnte dieses Risiko eingehen und angreifen, war durchaus realistisch – die Sicherheit Westeuropas stand auf Messers Schneide.
Berlin war Zentrum dieses neuen Konflikts: Wäre es zu einem Krieg gekommen, hätte man das umzingelte West-Berlin nicht ansatzweise verteidigen können. Und das war auch den Strategen in Moskau klar. Die Führung der deutschen Kommunisten, besonders Friedrich Wilhelm Pieck, der Vorsitzende der SED und spätere Präsident der DDR, wünschte sich von Moskau, die Amerikaner aus Berlin zu vertreiben.
Es kam zu immer mehr Sticheleien und Straßensperren vor Berlin. Der Ostblock wettete auf die Unterlegenheit des Westens. Als die West-Alliierten, unter Ausschluss Ost-Deutschlands, am 20. Juni 1948 die D-Mark einführten, kam es zum Knall. Am 24. Juni 1948 wurden alle Zufahrtswege nach Berlin versperrt, außerdem wurde die Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten – die westliche Führung wurde überrumpelt.
„Wir dürfen uns nicht vom Fleck rühren.“
Berlin konnte sich nur noch maximal einen Monat lang versorgen. Die Lage für die Bevölkerung Berlins war verheerend – es gab nur zwei Alternativen: Die dramatische Verschlechterung der Lebensbedingungen hinzunehmen oder dem Kommunismus in die Hände zu fallen. Was tun?
Die Überlegung, Berlin aufzugeben, stand sehr wohl im Raum – von britischer Seite plädierte Feldmarschall Montgomery zunächst für einen Abzug ohne Prestigeverlust. Die republikanische Opposition in Amerika wollte auf keinen Fall einen Krieg riskieren, genauso wenig wie Frankreich. Doch in Washington setzte sich rund um Präsident Truman eine andere Sichtweise durch. Clay sagte: „Wenn wir den Kontinent gegen den Kommunismus behaupten wollen, dürfen wir uns nicht vom Fleck rühren. Wenn wir Berlin aufgeben, wird als nächstes Westdeutschland geräumt.“
Jener Clay fragte nun Berlins legendären Bürgermeister Ernst Reuter, ob die abgeschnittene Berliner Bevölkerung bereit wäre, eine Versorgung durch die Luft für unbestimmte Zeit hinzunehmen. Reuter entgegnete, Clay solle sich um die Luftbrücke kümmern, er werde sich um die Berliner kümmern. Berlin werde zugunsten der Freiheit die notwendigen Opfer bringen – es komme, was wolle. Man setzte alles auf eine Karte.
Schon 1945 wurden den West-Alliierten drei Luftkorridore nach Berlin zugesichert, von denen man nun Gebrauch machte. Man begann den gewaltigen Kraftakt, die ganze Stadt Berlin durch die Luft zu versorgen.
Selbst Ernst Reuter soll daran gezweifelt haben, dass die Luftbrücke Erfolg haben würde. Doch Großbritannien und die Vereinigten Staaten scheuten keine Mittel – und so gelang es tatsächlich. Alle eineinhalb Minuten landete ein Flieger in Berlin. Der Westen verhängte Wirtschaftsembargos über Ostdeutschland. Die Kriegsgefahr lag in der Luft, man musste täglich damit rechnen, dass die Rosinenbomber von sowjetischer Luftabwehr oder Luftwaffe attackiert würden und eine Bodenoffensive folgen könnte. Doch so kam es nicht, und Berlin hielt stand.
Angesichts der wirtschaftlichen Nachteile für Ostdeutschland – verursacht durch das Embargo – und des erkennbaren absoluten Willens zur Verteidigung West-Berlins wurden die Zufahrtswege nach West-Berlin am 12. Mai 1949 wieder geöffnet. Nachdem die Lager in Berlin ausreichend aufgefüllt waren, landete am 30. November desselben Jahres der letzte Versorgungsflieger.
„Der wieder nach Berlin kommen wird, wenn es notwendig werden sollte.“
In diesem einen Jahr absolvierten die West-Alliierten 277.569 Flüge und transportierten 1,5 Mio. Tonnen Kohle und 500.000 Tonnen Lebensmittel. Das alles mit der Technologie von 1948. Während der Luftbrücke ließen mindestens 101 Menschen ihr Leben. Der Druck auf die Piloten, in extrem kleinen Zeit- und Platzfenstern zu landen, war sehr hoch. Trotzdem waren die Verluste nur etwa halb so groß, wie man zuvor erwartet hatte. Der Westen hatte gesiegt.
Am 26. Juni 1963 kam John F. Kennedy zum 15. Jubiläum des Beginns der Berliner Luftbrücke nach Berlin und sagte in seiner legendären „Ich bin ein Berliner“-Rede: „Ich bin stolz darauf, heute in Ihre Stadt in der Gesellschaft eines amerikanischen Mitbürgers gekommen zu sein, General Clay, der hier in der Zeit der schwersten Krise tätig war, durch die diese Stadt gegangen ist, und der wieder nach Berlin kommen wird, wenn es notwendig werden sollte.“ Berlin dankt Clay, er wird Ehrenbürger der Stadt.
Mit der Luftbrücke wird die Truman-Doktrin endgültig Wirklichkeit: Die USA würden jedes freie Land in der Konfrontation mit der UdSSR mit allen Mitteln unterstützen.
Lucius Clay steht für ein Amerika, das eine seltsame Liebe zu den Deutschen entwickelte. Es ist ein echtes historisches Geschenk. Während die Sowjetunion Ostdeutschland demontierte und unterwarf, setzte Amerika auf ein freies und wohlhabendes Deutschland. Das ist auch dem persönlichen Einsatz von Männern zu verdanken, die die „Krauts“ aus nicht ganz erklärlichen Gründen in kürzester Zeit von erbitterten Feinden zu Freunden nahmen. Lucius D. Clay ist jedenfalls der beste Freund, den Berlin jemals hatte.
Die Grundlage vernünftiger Politik ist ein realistisches Verständnis der Geschichte. Apollo Chronik erscheint jeden Samstag – und bietet statt post-kolonialer Mythen die Fakten zur Geschichte des Westens. Zur letzten Ausgabe.
Nachtrag: Demontage Deutscher Industrie, Pläne zur Zerschlagung von Eigentum, Zerschlagung von Grundbesitz usw. Was daran kommt uns heute so bekannt vor? RotGrünGelb führt diese Pläne und noch andere grade in Deutschland durch…
Über diesen Text habe ich mich sehr gefreut. Lucius D. Clay, Ernst Reuter und etwas später Axel Springer – Männer, die sich aus ganz unterschiedlichen, nicht immer rational nachvollziehbaren Gründen für West-Berlin stark gemacht und denen wir ein Leben in Freiheit zu verdanken haben.
In der Kürze guter und nachdenkens würdiger Beitrag!
Heute sind die Deutschen leidenschaftlich ihre eigenen Feinde. Da der Morgenthau* Plan nicht vollzogen wurde, vollzieht die derzeitige „Regierung“ (?) ihn Jahrzehnte später.
Wen es interessiert und geschichtlich interessiert, ambitioniert ist, kann sich zu *Lucius D. Clay und *Henry Morgenthau tiefer schlau machen. Lohnt sich.
Ich behaupte, dass bei einer Straßenumfrage 75 – 80 % + aller Befragten, keine der genannten Personen kennt oder je von Ihnen gehört hat. … Von ihrer Bedeutung für Deutschland schon gar nicht.
Und das hat nicht nur was mit dem Alter zu tun.
Ein sehr guter Artikel, danke! Um so mehr beschämend war es, dass zum soundsovielten Jubiläum der Luftbrücke keine der damaligen Helden (Piloten) eingeladen wurden, obwohl sie sich in Erwartung des Jubiläums dort eingefunden hatten. Mega peinlich! Man könnte auch Reinhard Mey befragen, der die Luftbrücke in seiner Kindheit erlebt hat: https://www.songtexte.com/songtext/reinhard-mey/all-die-sturmfesten-himmelhunde-5bda0714.html.
Danke Lucius D. Clay!
Sehr schöner Artikel! Erst gestern war ich noch auf der Clay-Allee… Das Ding mit der Luftbrücke war großartig. Leider nehmen es viele den Amis immer noch übel, dass sie uns halfen und aufbauten. Irre!
Mein Vater war einer von den Jungs, die in Berlin die Schoko-Fallschirmchen aufgesammelt haben. Der Geschichtsunterricht lieferte die Fakten dazu. Da ich privat außerdem viele US-Amerikaner kenne, stößt mich die in zwei großen neuen Volksparteien latent vorhandene Amerikafeindlichkeit unverändert ab.
Danke, Apollo, für diesen – offensichtlich sehr notwendigen – Artikel.
Mein verstorbener Vater (Jahrgang 1928) hat mir immer erzählt: Wir waren 1945 total am Ende. Ohne amerikanische Hilfe hätte Deutschland den Wiederaufbau niemals geschafft und wäre zur leichten Beute der Russen bzw. Kommunisten geworden.