Vorstoß des Kanzlers
EU-Kapitalmarktunion: Merz fordert „Wall Street“ für Europa
Im Bundestag richtete Friedrich Merz einen Appell an die EU, den zersplitterten europäischen Kapitalmarkt tiefer zu integrieren und bürokratische Hürden abzubauen. Dem Bundeskanzler schwebt im nächsten Schritt eine Art Wall Street für Europa vor.

Bundeskanzler Friedrich Merz nutzte am Donnerstag seine Regierungserklärung, um einen strategischen Blick auf die, nach seinen Worten, „fragmentierte und überbürokratisierte“ europäische Börsen- und Kapitalmarktlandschaft zu werfen. Sein erklärtes Ziel: die Vollendung der Kapitalmarktunion.
„Wir brauchen eine Art European Stock Exchange, damit erfolgreiche Unternehmen wie zum Beispiel BioNTech aus Deutschland nicht an die New Yorker Börse gehen müssen“, sagte Merz. „Unsere Unternehmen brauchen einen ausreichend breiten und tiefen Kapitalmarkt, damit sie sich besser und vor allem schneller finanzieren können.“
Der Kanzler verband diese Forderung mit einem eindringlichen Appell an die Europäische Kommission, sich für eine konsequente Entbürokratisierung des zersplitterten europäischen Kapitalmarkts starkzumachen. Nur so, betonte er, bleibe die Wertschöpfung aus deutscher und europäischer Forschung auch tatsächlich in Europa. Nur in diesem Modus könne sich der Wohlstand unserer Gesellschaft über den Kapitalmarkt mehren, so Merz.
Hintergrund der Debatte ist der wachsende Trend europäischer Innovationsunternehmen, ihr Kapital an US-Börsen aufzunehmen. Prominente Beispiele waren zuletzt Linde, Birkenstock Holding und BioNTech – Unternehmen, die sich für Listings zugunsten der Wall Street entschieden.
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Die Diskussion fügt sich in einen größeren finanzpolitischen Kontext ein: die Integration der europäischen Finanz- und Kapitalmärkte. Eine weitgehende Harmonisierung der Finanzplätze und des Zugangs zu Börsenkapital wäre kein Fehler. Aktuell existieren in der Eurozone rund 15 Wertpapierbörsen. Die beiden größten Betreiber – die Euronext N.V. und die Deutsche Börse AG – wickeln gemeinsam etwa 80 Prozent des gesamten Aktienhandelsvolumens von rund 8 Billionen Euro jährlich ab.
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Erfahrungsgemäß greifen diese Unternehmen jedoch viel häufiger auf Wagniskapitalgeber zurück – und diese haben bislang keinerlei Probleme, ein Listing an internationalen Börsen wie dem Finanzplatz Frankfurt oder London zu realisieren.
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Daher sollte man sich in Brüssel und Berlin eher die Frage stellen, ob es wirklich ausreicht, sich auf die Etablierung eines neuen Finanzplatzes zu fokussieren, um die sichtbaren Kapitalbewegungen aus Europa heraus in die Vereinigten Staaten aufzuhalten.
Denn die Kapitalflucht, die allein Deutschland im letzten Jahr rund 64,5 Milliarden Euro kostete, weist auf wesentlich tiefer liegende Ursachen hin: ein überbordendes regulatorisches Rahmenwerk aus Brüssel und den EU-Hauptstädten, überhöhte fiskalische Lasten und eine eskalierende Energiekostenkrise.
Das sind fundamentale ökonomische Unwuchten, die sich nicht mit Hilfe einer Euro-Megabörse aus der Welt schaffen lassen. Es sind hausgemachte Konstruktionsfehler – und sie bilden den Kern der Wirtschaftskrise unserer Zeit.
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In Wahrheit geht es bei der Debatte über die Kapitalmarktunion um etwas ganz anderes: Die Europäische Kommission verfolgt das strategische Ziel, die Schulden der Mitgliedstaaten unter ihrem Dach zu konsolidieren. Auf diese Weise will Brüssel an den Finanzmärkten über die regelmäßige Emission eigener EU-Staatsanleihen deutlich mehr finanzielle Schlagkraft gewinnen.
Mehr Zentralisierung in Brüssel und geringere Kontrollmöglichkeiten der Schuldenpolitik der EU durch nationale Parlamente – der Traum der Brüsseler Machtzentrale.
Dort tastet man sich langsam an einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der europäischen Schuldenfinanzierung heran. Ursprünglich war es strikt ausgeschlossen, dass sich die Europäische Kommission über eigene Emissionen am Kapitalmarkt finanzieren könnte. Doch diese rote Linie ist längst überschritten.
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Man nutzte die Corona-Lockdowns als Hebel, um mit NextGenerationEU ein beispielloses Schuldenprogramm aufzulegen – ein Volumen von rund 800 Milliarden Euro. Mit diesem Geld finanzierte Brüssel in erheblichem Maße die nationalen Haushaltsdefizite der Mitgliedstaaten. Damit trat die Kommission selbst als Schuldner an den Kapitalmärkten auf – flankiert von der Europäischen Zentralbank als faktischen Backstop.
Längst ist es ein offenes Geheimnis, dass Brüssel dieses Modell weiter ausbauen will. Der Ukraine-Konflikt dient dabei als willkommene Brücke, um über die Gefahr einer russischen Invasion neue gemeinsame Schulden aufzunehmen. Bundeskanzler Friedrich Merz erklärte bereits im Frühjahr dieses Jahres, er schließe eine gemeinsame EU-Verschuldung für Verteidigungszwecke nicht grundsätzlich aus – allerdings nur für „absolute Ausnahmefälle“.
Zwar verzichtete Merz bewusst auf den Begriff „Eurobonds“. Ebenso wie Ursula von der Leyen, die in ihrer „State of the Union“-Rede vom 10. September ebenfalls einen rhetorischen Bogen um diese schlug und stattdessen über ein gemeinsames europäisches Budget für „europäische Güter“ sprach.
Doch das Signal ist eindeutig: Wir befinden uns mitten in einer Übergangsphase, in der die alten Schuldenregeln Schritt für Schritt noch weiter aufgeweicht werden – und die Zentralisierung der Schuldenaufnahme in Brüssel systematisch vorangetrieben wird.
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Was einst politisches Tabu war, wird heute als notwendig und neue Normalität präsentiert. Nicht über Nacht, aber mit bemerkenswerter Konsequenz.
Da fügt es sich nahtlos ins Bild, über eine gemeinsame europäische Börse nachzudenken – möglicherweise angesiedelt bei Euroclear in Brüssel, dem zentralen Akteur für die Verwahrung und Abwicklung von Wertpapieren in der Eurozone. Wer diesen Weg ernsthaft gehen will, müsste konsequenterweise auch darüber nachdenken, den Sitz der Europäischen Zentralbank ebenfalls nach Brüssel zu verlegen. Kurze Wege für schnelle Schuldenaufnahme.
Die Antwort der EU auf die sich anbahnende Schuldenkrise ist eindeutig: Das Ziel ist ein wesentlich höherer Grad an Zentralisierung. Die Aktivierung von Kapital, das sich kollateralisieren und über Hebeleffekte auf ein höheres Schuldenniveau ausweiten lässt, wird zur strategischen Leitlinie, die Börsenkonsolidierung nimmt dabei lediglich einen Nebenkriegsschauplatz ein.