Was der Fall Aiwanger über die politische Kultur aussagt
Der Fall Aiwanger hat sich weitgehend vaporisiert: Zurück bleibt nur ein mal wieder erschüttertes Vertrauen in die Presse. Und die Erkenntnis, wie moralisch verkommen Politik und Medien zu sein scheinen.

In der Redaktion in München müssen schon die Sektkorken geknallt haben: Die Süddeutsche Zeitung war sich sicher, Aiwanger erledigt zu haben. Aber dann kam alles anders. Mit dem Vortreten des Bruders zerbrach die Story, die eben noch der größte Polit-Skandal des Jahres zu werden drohte, und löste sich in Rauch auf. Zurück bleibt ein wenig Schaden für Aiwanger, den er, Stand Montagmorgen, wohl überstehen wird. Viel mehr geschadet hat sie vor allem denen, die sie so eifrig veröffentlichten und verbreiteten.
Vom ersten Absatz an ist der Text beschäftigt mit seiner eigenen möglichen Wirkung. Es ist schwer, daraus nicht auch den dringenden Wunsch zu lesen, dass diese Wirkung eintreten möge – der Autor hat eine politische Mission. Das ist, so sehr, wie dieser Artikel von Eifer trieft, unübersehbar. Die Botschaft: Der Chef der Freien Wähler, den ich nicht mag, erlebt gerade einen Höhenflug. Aber ich mit meinem Text, dieser Recherche, kann ihn jetzt stoppen.
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Wer „Lügenpresse“ rufen will, muss nur noch die SZ hochhalten
Alles am Vorgehen der Süddeutschen Zeitung hat dem Journalismus geschadet. Die Verdachtsberichterstattung, das hinterlistig-taktische Vorgehen um das Schreibmaschinen-Gutachten, der Geifer einer Redaktion, die in Wahrheit nicht recherchiert, sondern ein politisches Attentat in Zeilen gepackt hat. So besessen waren die Journalisten aus München, dass Aiwanger sie am Ende doch einfach auskontern konnte. Sie setzten alles auf eine Karte: Aiwanger muss das Flugblatt geschrieben haben. Es musste wahr sein, weil sie es unbedingt wahrhaben wollten. Oder anders: Als – falls – die Süddeutsche zu recherchieren begann, stand das Ergebnis schon am Anfang fest.
Für eine Zeitung, die von vielen und auch sich selbst gerne als Messlatte für seriösen Journalismus in Deutschland hochgehalten wird, die sich für ihre Recherchen oft feiert und sogar das vielleicht bekannteste Recherchezentrum der Republik mitbetreibt, ist der Fall längst zum größtmöglichen Unfall geworden. Ob Aiwanger überhaupt irgendwas mit dem Flugblatt zu tun hat, ist in der Öffentlichkeit längst unerheblich. Zurück bleibt nur: Eine Zeitung hat eine Hetzjagd auf einen Politiker eröffnet und ist gescheitert. Schaden nimmt viel weniger Aiwanger als das ohnehin brüchige Vertrauen in Presse und Medien. Wer „Lügenpresse“ rufen will, braucht in Zukunft nur noch auf den Artikel der SZ zu verweisen.
Aufrufe zum „Brudermord“ enttarnen die Verkommenheit derer, die sie tätigen – niemand muss seinen Bruder verpfeifen
Das hindert billige politische Trittbrettfahrer freilich nicht daran, das tote Pferd noch weiter zu reiten. Noch Stunden, nachdem sich die Story der Süddeutschen weitgehend in Luft aufgelöst hatte, forderte Florian von Brunn, SPD-Spitzenkandidat in Bayern, den Rücktritt Aiwangers. SPD-Chefin Saskia Ecken fordert weiter unerschütterlich die Entlassung Aiwangers für die Taten seines Bruders. Passend dazu ein Beitrag des Bayerischen Rundfunks, in dem ernsthaft gefragt wurde, warum Aiwanger seinen Bruder nicht an der Erstellung des Flugblattes gehindert hätte. Die Absurdität der konstruierten Vorwürfe kann man nur noch mit dem Mut der Verzweiflung erklären – Verzweiflung darüber, dass der ungeliebte Hubsi es wohl doch noch aus der SZ-Falle geschafft hat.
Der absurdeste und verkommenste aller Vorwürfe ist aber: Weil Aiwanger Kenntnis von dem Flugblatt hatte, hätte er seinen Bruder verpfeifen müssen. Sowohl unmittelbar nach Veröffentlichung der SZ-Story als auch schon damals in der Schule. „Der Schüler Aiwanger, so suggeriert seine Erklärung, habe den Autor eines widerlichen antisemitischen Textes nicht nur damals gekannt und gedeckt; nein, er brüstet sich heute immer noch damit, die Nachforschungen der empörten Lehrerschaft vereitelt zu haben, und erheischt auch noch Sympathie für sein damaliges und heutiges Verständnis von Schülerehre“, schreibt der Autor Alan Posener in der Zeit. „Wem will er damit imponieren?“ Viele andere fordern ebenfalls, dass Aiwanger seinen Bruder hätte anschwärzen und ausliefern müssen. Ihr Bruder will man nicht sein. Ungefähr solange es Recht gibt, gibt es auch den Grundsatz: Niemand muss seine Eltern, seinen Ehepartner, seine Geschwister belasten. Das ist quasi moralisches Einmaleins, Grundverständnis eines jeden Menschen, dessen moralischer Kompass noch nicht vollends verrutscht ist. Dass Aiwanger diesen Grundsatz damals wie heute hochhält, macht ihn für viele nur noch sympathischer.
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Politische Kultur. Haben wir sowas? Wenn ja, seit wann?
Die SZ arbeitet sich seit Jahren an der CSU ab. Daneben wollte sie auch vor Jahren im großen Medienbereich mitmischen (Leo Kirch als Zielscheibe). Es gab unzweifelhaft Erfolge, aber viele der Sensationsberichte waren eher eine Nullnummer. Nun hat man mit Herrn Aiwanger wieder jemanden gefunden, der beliebter wurde und so manch Ältere wie mich an FJS denken läßt, da Dinge deutlich angesprochen werden. Da der Auftritt in Erding nicht genügte, Herrn Aiwanger zu schaden, mußte es weitergehen. Da waren blöderweise zu viele Besucher nicht nicht so wirklich in die rechte Ecke passten – Bürger eben.
Was mich erschreckt: wer ist so perfide und steckt Medien über 3 Jahrzehnte alte Schulunterlagen zu. Diese Person muss ja die Unterlagen bewußt aufgehoben oder zumindest von diesen gewußt haben. Bei dieser Gedächtnisleistung muss diesem unbekannten Zeugen auch in Erinnerung geblieben sein, wer der Verfasser war, nämlich der Bruder. Geht man davon aus, dass dem so war, sollten die „Journalisten“ der SZ (und anderer Zeitungen) schon mal überlegen, ob man so etwas einfach – offenbar ohne Herrn Aiwanger vorab zu infromieren – als Wahrheit veröffentlicht.
Und sehe ich mir heute Morgen den Kommentar und die Berichterstattung in der FAZ, die ja früher der Gegenpol zur SZ war, an, so vermisse ich dort schon einen klaren Hinweis, dass die ursprünglich Darstellung der SZ unrichtig war. Gut, die beiden Zeitungen arbeiten ja mittlerweile zusammen.
Die Spielchen mit dem Buchstaben W sind eher peinlich.
Eigentlich wäre erst einmal eine Entschuldigung der SZ bei Hubert Aiwanger für die ursprünglichen Aussagen zur Urheberschaft angebracht, wenn man Anstand hat.
Dann kann man gerne darüber reden, ob er sich richtig verhalten hat vor 35 Jahren.
Für Herrn Söder wird es schwierig, wobei ich nicht hoffe, dass er Richtung Grüne gehen wird. Deren „Leistung“ und deren „Fähigkeiten“ zeigen sich gerade in der Ampel.
Stand da nicht was in der Bibel, mit Kain und Abel?
Eine ausführliche Dokumentation der zuweilen antisemitisch gefärbten Berichterstattung der SZ wäre wünschenswert. Ist allerdings sehr viel Arbeit.
Und wenn Aiwanger dieses Flugblatt geschrieben hätte vor 35 Jahren? Fordert man deswegen seinen Rücktritt? Keineswegs! „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie“
Michael Wolffsohn hat alles nötige dazu geschrieben.
Verkommenheit gehört auch zur Moral. Sie ist nur kein moralisches Ideal, was der Einzelne anstrebt. Das Dilemma zwischen der eigenen Verkommenheit und dem Ideal ist die Herausforderung der Moral – ein moralischer Konflikt.
Deshalb kann Moral auch nicht geschult werden, denn der Einzelne kann den Konflikt konstruktiv nur selbst bewältigen.
Ein moralisches Prinzip: beispielsweise seine Verwandten nicht belasten, bestimmt dann den Alltag.
Menschen entwickeln sich in Phasen, bei denen die entsprechenden Konflikte der Phase zu bewältigen sind.
Wenn der Einzelne sich beispielsweise seinem eigenen Trugschluss nähert, wird auch der Unterschied zur Lüge bewusst. Dann wird Dritten ihr Trugschluss zugestanden, wenn zuvor der Einzelne sich seinen eigenen Trugschluss zugesteht.
Denn einen Trugschluss verbreiten, ist kein Lügen.
Wer beispielsweise Gartenzwerge für Erlöser hält und als Realität wahrnimmt, lügt nicht, wenn er seine Erkenntnis verbreitet.
Eine Lüge wird es erst, wenn ihm der Trugschluss bewusst wird und er trotzdem an der bisherigen Aussage festhält.
Vieles stimmt wohl in den Kommentaren aber kommt denn niemand auf die Idee, dass der Bruder einfach das politisch erfolgreiche Familienmitglied schützt? (Ungeachtet des moralischen Hintergrundes der SZ und ob jemand nach 3 Jahrzehnten für Jugendsünden in Rechenschaft gezogen werden soll. )