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Exzess-CSD in Berlin

Das Recht, in Ruhe gelassen zu werden

Hundemasken, Sexspiele in aller Öffentlichkeit und „Free Palestine"-Rufe: Die heutigen Pride-Paraden sind inhaltsleer und drehen sich um alles und nichts. Dabei ging es einst nur um ein selbstverständliches Menschenrecht: Das Recht, in Ruhe gelassen zu werden.

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Es war 01:28 Uhr in einer Nacht zum Sonntag, als plötzlich Polizisten das Lokal an der Christopher Street in New York stürmten. Razzia. Mal wieder. Für die Besucher des „Stonewall Inn“ war das nichts neues – Razzien der Polizei in Schwulenbars und Nachtclubs waren 1969 noch regelmäßige Ereignisse in der Homosexuellenszene überall in den Vereinigten Staaten. Diese Gängelungen waren die Anwesenden an diesem Abend sicher gewohnt.

Was in dieser Nacht neu war: Am Ende fuhr die Polizei nicht mit einem Laster voller Verhafteter ab. Stattdessen mussten sich die Beamten unter einem Hagel von Schlägen in die Bar zurückziehen, die sie gerade gefilzt hatten. Die Protestierenden warfen Steine und Flaschen und skandierten „Gay Power!“.

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In dieser Nacht entlud sich plötzlich die Wut über die Art, wie Homosexuelle seit Jahrzehnten von der Polizei behandelt worden waren. Das Unverständnis darüber, ständig gegängelt, belästigt und misshandelt zu werden – warum konnte der Staat sie nicht einfach in Ruhe lassen? Daraus entwickelte sich eine Bürgerrechtsbewegung, die souverän und selbstbestimmt sein wollte. Kein Opfer mehr sein, nicht auf Staat und Mehrheitsgesellschaft warten, sondern die eigene Lage selbst in die Hand nehmen.

Seit 1969 hat sich viel geändert – auch dank der „Gay Power“ dieser selbstbewussten Bürgerrechtsbewegung. Zumindest in den Ländern des globalen Westens ist Homosexualität nicht nur nicht mehr strafbar, sondern gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Schwule und Lesben sitzen heute offen und überall – als Entertainer im Fernsehen, als Abgeordnete im Parlament, als Firmenchefs an Schreibtischen – nur nicht im Gefängnis.

Worum geht es heute?

Was gibt es da denn noch zu erreichen? Viele sind heutzutage der Meinung, in Sachen Gleichberechtigung von Homosexuellen habe man alles erreicht. Rechtlich stimmt das auch fast. Und auch gesamtgesellschaftlich ist die Inklusion Homosexueller weitgehend erreicht – auch, wenn es nach wie vor Homophobie, Gewalt und Ausgrenzung gibt. Auf den CSD-Paraden dieser Tage ist viel Platz für andere Themen, andere Dinge. Wo es früher um Bürgerrechte ging, geht es heute – naja, um alles. Und damit irgendwie auch um nichts.

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Wäre ein „Stonewall“-Aufständischer aus dem Jahr 1969 ins Berlin des Jahres 2023 gereist, hätte er wahrscheinlich nicht schlecht gestaunt. Über die Paradestraßen der deutschen Hauptstadt ziehen hunderttausende. Es wird gefeiert, getanzt, gesungen – aber nicht nur das. Sexspiele werden auf offener Straße ausgelebt. Nackte Männer laufen neben Männern in Hundemasken, sie sich devot an der Leine über die Straße führen lassen. Womit hat das etwas zu tun? Mit Stolz und Würde eher nicht. Dabei wird immer wieder betont, wie politisch das alles sei. Dass „Pride“ kein hedonistisches Festival der Triebe, des Trinkens und der Drogen sei, sondern in der Tradition der Befreiungsbewegung und ihrer Aufstände stehe. Tut es das?

Ein Teilnehmer der Pride-Parade in Berlin mit Fetischkleidung und Schweinemaske

Pride ist gekapert

Es ist schön, dass diese Gesellschaft mittlerweile so weit gekommen ist, Schwule und Lesben nicht mehr zu verfolgen, zu gängeln oder zu unterdrücken. Das ist auch Verdienst der Bewegung, die 1969 am Stonewall Inn ihren Anfang nahm. 1969 ging es darum, in Ruhe gelassen zu werden und gleiche Rechte zu haben. Das war damals politisch – und sollte es heute nicht mehr sein. Das ist der ganze Ursprungszweck einer Bewegung, die im Westen ohne viele noch zu erreichenden Ziele zunehmend entgleist. Nicht nur in Exzess und perversen Hedonismus, sondern auch in neue Überpolitisierung. Eine Befreiungsbewegung wird mit ihr völlig fremden Anliegen überladen, die gerade linkspolitisch „en Vogue“ sind. Gemäß der neulinken Grundsatztheorie des „Intersektionalismus“ sind alle Kämpfe echter oder vermeintlich unterdrückter Gruppen ineinander verwoben. So kamen zum Beispiel der schwarze und braune Streifen in die Regenbogenflagge – als Zeichen gegen Rassismus. So kommen auch Rufe zur „Befreiung“ Palästinas auf eine Pride-Parade. Es geht um alles mögliche – und damit um nichts wirklich. So ist der Ursprungscharakter der Pride längst ausgelöscht: Wer eine Emanzipationsbewegung für andere Zwecke kapert, ist im Ergebnis kaum besser als der, der sie bekämpft.

Dabei ging es eigentlich um das selbstverständlichste Menschenrecht: Das Recht auf Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ohne Gängelung und Unterdrückung. Stonewall drehte sich nicht um „Queer-Beauftragte“, um das Recht auf Drogen-Sex in der Öffentlichkeit oder um Palästina. Es ging um das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Das, und nicht mehr, wünschen sich viele Homosexuelle noch heute.

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