Wenn der Fall Aiwanger eines zeigt, dann dass große Teile der SPD ohne mit der Wimper zu zucken ihren eigenen Bruder ausliefern würden. Selten wurde die Spaltung zwischen politischem Berlin und Bevölkerung treffender eingefangen: Loyalität galt noch in jedem totalitären Regime als reaktionär. 

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Als der Sultan des Osmanischen Reiches, Mehmed III. 1595 den Thron bestieg, ließ er all seine 19 Brüder hinrichten – „um der Ordnung der Welt willen“. Diese Praxis des kardeş katli (Brudermord) war in Konstantinopel üblich, um Erbfolgekriegen vorzubeugen.

Die Politik hat den Hang zum Brudermord nicht verloren. In Deutschland haben Sozialdemokraten die Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ in „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“ abgeändert. Formal wegen der „Geschlechtersichtbarkeit“, im Ernst aber, weil Brüderlichkeit der Linken fremd geworden ist – schwingt im Begriff eben nicht nur Solidarität mit, sondern auch Loyalität. Und das ist längst reaktionär. Alle totalitären Regime attackierten zu allererst menschliche Verbindungen, Familien und brüderliche Freundschaften, weil sie sie (zurecht) als größte Bedrohung für sich betrachteten. Nicht ohne Grund schützt das Grundgesetz Menschen davor, gegen ihre Familie Aussagen zu müssen. 

Das ist das spannendste an der Debatte um Aiwangers Hetz-Pamphlet: wie er vor 30 Jahren seinen Bruder deckte und der heute ihn. Genau dafür wollen ihn seine politischen Gegner jetzt attackieren und genau damit werden sie Aiwanger zum Sieger dieser Debatte machen. 

Lang lebe die Schülerehre

Der Grünen-nahe Schauspieler Mittermeier meint: „Zusammenfassung: Aiwanger hat das Flugblatt nicht verfasst. Der Bruder von Aiwanger wars. Aiwanger selbst hat nur die Blätter in der Tasche gehabt und seinen Bruder gedeckt.“ Karin Prien twittert: „Blutsbande gegen antisemitische Grundhaltung; überzeugt mich politisch nicht.“ Der BR fragt: „Warum hat Hubert Aiwanger es nicht geschafft, seinen Bruder Helmut davon abzuhalten, dieses Flugblatt überhaupt zu verbreiten?“

Die ZEIT schreibt: „Der Schüler Aiwanger, so suggeriert seine Erklärung, habe den Autor eines widerlichen antisemitischen Textes nicht nur damals gekannt und gedeckt; nein, er brüstet sich heute immer noch damit, die Nachforschungen der empörten Lehrerschaft vereitelt zu haben, und erheischt auch noch Sympathie für sein damaliges und heutiges Verständnis von Schülerehre“. Und: „Wem will er damit imponieren?“ 

Mir imponiert Schülerehre jedenfalls. 

Über alle Zivilisationen hinweg ist die Loyalität in Familien Grundlage persönlicher Ehre – und das Verhältnis zwischen Brüdern, Grundlage von Freundschaften. Natürlich würden die meisten SPD-Politiker ihre Brüder ausliefern, um politische Karriere zu machen.

Moral kann auch einfach sein

Oft wird über den Wegfall der politischen Kultur philosophiert. Den gibt es. Nur geht es dabei nicht um „polarisierende“ Sprache oder harte inhaltliche Rhetorik. Was fehlt ist die Schülerehre. Eigentlich war die SPD mal die Partei der Brüderlichkeit, davon geblieben ist nur das innerparteiliche Duzen – das allerdings karikiert sich täglich durch ganz besondere Ekligkeiten zwischen den Genossen. Man erinnere sich etwa an der Erledigung von Sigmar Gabriel durch Martin Schulz. Oder der Demontage von Andrea Nahles. Du, liebe Andrea – wir haben dich politisch um die Ecke gebracht.

Was man in Berlin noch nicht verstanden hat: Menschen wählen am Ende eben Menschen. Und Bruder-, Vater- oder Muttermörder gelten allgemein, als niederste moralische Kategorie. Schon im 18. Jahrhundert dichtete man: „Allen Sündern wird vergeben, nur dem Vatermörder nicht.“

Diese besonderen „Schmutzeleien“ (den Begriff erfand Seehofer einmal treffend über Söder), sind aber Charaktereigenschaft vieler Politiker. Brudermörder sind eben nicht nur skrupellos (das könnte man ja noch respektieren), sondern zugleich schwach und unsicher sind – und gerade aus der Schwäche heraus werden sie brutal gegenüber denjenigen, die eigentlich ihre Loyalität verdient hätten.

Eine solche Schmutzelei ist es, wenn Markus Söder seine Loyalität zu seinem Minister so ausdrückt: Er lasse Aiwanger nicht fallen, bis die Berichte sich nicht bestätigt hätten. Die Kontraposition: Wenn Aiwanger tatsächlich etwas mit dem 30 Jahre alten Hetzpapier zutun hat, lässt Söder ihn fallen. Für Dienstag sammelt er sein Kabinett, man kann es durchaus als wahrscheinlich ansehen, dass Aiwanger gefeuert wird. Söder wäre der große Profiteur einer öffentlichen Demontage Aiwangers. Natürlich wird dafür der Einsatz von Schmutzeleien erwogen.

Die Ablehnung brudermörderischer Charakterzüge ist tief in unsere Kultur eingebrannt. Wegen dieses Grundempfindens lügen Schüler füreinander – von den vergessenen Hausaufgaben, bis zum eingeworfenen Fenster, bis zur karrieregefährdenden Hetz-Schrift. Das ist oft der erste Nachweis von Charakter. Viele SPD-Politiker waren freilich eher von der Fraktion, die den Lehrer nochmal auf die Kontrolle der Hausaufgaben hingewiesen haben, damit die unliebsamen Mitschüler auffliegen.

Damit hätte keiner rechnen können!

Die Rückabwicklung der Affäre Aiwanger läuft. Genau hatte man sich die Sache ausgeklügelt: Mit dem Artikel in der Süddeutschen Zeitung sollte Aiwanger am Freitag politisch zunächst angeschossen werden. Dann wurde ein Gutachten über die Schreibmaschine zunächst zurückgehalten, das belegen soll, dass Aiwanger das Flugblatt wirklich selbst geschrieben hat. Die SZ wartete mit der Veröffentlichung bis Aiwanger seine Autorschaft abstritt. Dann brachte die SZ das Gutachten und rieb sich die Hände: Das sollte der Abschuss sein. 

Nur mit einem hatten sie nicht gerechnet: Aiwangers Bruder deckt Aiwanger, während Aiwanger seinen Bruder deckte, als dieser das Hetz-Pamphlet schrieb. Eine menschliche Regung, die im politischen Berlin nicht vorgesehen ist. Und aufeinmal fällt die ganze Geschichte in sich zusammen. Man reagiert gereizt: Ohne das transparent anzuzeigen ändert die SZ ihre Geschichte mehrmals. Veröffentlicht später: „im Kern“ hätten sich die Vorwürfe „bestätigt“. „Neu ist nur, dass er am Samstag seinen Bruder Helmut als Verfasser der Hetzschrift aus dem Hut zauberte.“ Die Geschichte „Aiwanger soll als Schüler antisemitisches Flugblatt verfasst haben“ stimmt laut SZ also „im Kern“ – mit der winzigen Ausnahme, dass Aiwanger das Flublatt eben nicht geschrieben hat. Es sind selbstentlarvende Rückzugsgefechte.

Mit dieser Wendung hat eben keiner gerechnet. Doch genau dafür wird Aiwanger gewählt werden. Als Schlag gegen die politische Klasse selbst. 

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