Das Ideal wäre, dass dicke Personen ein „normaler Teil der Gesellschaft“ sind, sagt ein schlanker Soziologe lächelnd in die Kamera. Er wird in einem Beitrag des ÖRR-Jugendsenders funk interviewt, diesmal geht es um die Stigmatisierung von, wie die Macher der Doku sagen, „hochgewichtigen“ Personen. Über knapp eine halbe Stunde begleitet die Reporterin eine stark übergewichtige junge Frau, die sich als „Fat-Acceptance-Aktivistin“ und Feministin versteht und damit hadert, eine chirurgische Magenverkleinerung durchführen zu lassen. Ihr Vorbehalt: Sie möchte sich sicher sein, dass sie die OP nicht nur durchführt, um einem Schönheitsideal zu entsprechen – denn der gesellschaftliche Druck, diesem Ideal gerecht werden zu müssen, mache sie „wahnsinnig wütend“.
Der ÖRR-Beitrag passt zum sogenannten Body-Positivity-Trend, der sich seit einiger Zeit in der Mode und den Sozialen Medien beobachten lässt. Dort zeigen mitunter stark übergewichtige Frauen und Männer stolz ihre Hautfalten und hängenden Bäuche, predigen „Akzeptanz“ und „Liebe“ fettleibiger Körper. Selbst Werbeplakate und Frauenmagazine werden immer öfter von sehr dicken Frauen geziert.
Eine Gegenbewegung zum Schlankheitswahn
Es ist ein Trend, der in mir als Frau gemischte Gefühle auslöst. Einerseits bin ich sehr froh, dass der Schlankheitswahn in unserer Gesellschaft offenbar langsam aus der Mode kommt. Immerhin kenne ich kaum eine Frau in meinem Alter, die gerade in ihren Teenagerjahren nicht unter dem unrealistisch dünnen Schönheitsideal gelitten hat, das uns über Magazine und Modelshows vermittelt wurde. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig es für junge Frauen ist, sich von diesem Wahn zu lösen, normal zu essen und zu akzeptieren, dass der Bauch mitunter nicht bretthart und flach ist. Ärzte beobachten schon seit einigen Jahren, dass die Anzahl der essgestörten jungen Patienten immer weiter zunimmt, alarmierend ist vor allem, dass die Betroffenen immer jünger werden, teilweise schon in der Grundschule mit Diäten anfangen. Vor diesem Hintergrund hat die Body-Positivity-Bewegung in ihrem Kern durchaus auch etwas Gutes, ja Befreiendes.
Allerdings unterschlägt der Fettleibigkeitstrend eine ganz entscheidende Tatsache: Nicht nur Untergewicht, sondern auch Fettleibigkeit ist potentiell tödlich. Doch dazu später mehr. Zunächst möchte ich festhalten: Auch wenn ich selbst meine Probleme mit dem bisherigen Schönheitsideal des untergewichtigen Kinderkörpers habe, wäre es gelogen, zu behaupten, dass ich beim Anblick der Menschen, die nun „Fett-Akzeptanz“ predigen, keine Abneigung empfinde. So ist es auch in dem genannten funk-Beitrag.
Die übergewichtige Nora, die dort gezeigt wird, löst durchgängig mehr Ablehnung in mir aus, als dass sie mein Mitgefühl erregt. Dabei ist die 36-Jährige tatsächlich ungewöhnlich selbstreflektiert in Bezug auf ihr Übergewicht, gibt offen zu, dass sie unter ihrer Immobilität leide, dass es ihr körperlich und psychisch so nicht gut gehe, sie oft depressiv sei. Sie schildert auch den vermutlichen Auslöser ihrer Fettleibigkeit: Als sie zwölf Jahre alt war, haben sich ihre Eltern getrennt und das sei psychisch sehr belastend für sie gewesen. „Ich habe immer geguckt, wie ich an Essen komme“, beschreibt sie. „Essen war immer da, … eine sichere Bank“. Seitdem würde sie immer wieder aus emotionalem Stress essen, mache deswegen auch eine Psychotherapie.
Fettleibigkeit löst Abneigung aus
Eine eigentlich berührende Geschichte, für die man beim Zusehen jedoch nur schwer mitfühlen kann – hauptsächlich, weil Nora immer wieder wie ein Kind jammert, weint und trotzig in die Kamera schaut. Das lässt sogar die Reporterin nicht unkommentiert. Als Nora einen geplanten Drehtermin unter vielen Menschen am Drehtag absagt, weil ihr das zu viel Druck sei, erklärt die Journalistin aus dem Off, dass es ihr „nicht immer leicht“ falle, geduldig und verständnisvoll zu bleiben. Als sich Nora schließlich für die Magenverkleinerung entscheidet, sagt die Reporterin, dass sie sich darüber freue. Die beiden sind privat befreundet. Nach der OP wird Nora glücklich auf einem Fahrrad fahrend gezeigt. Schließlich folgt das moralische Fazit der Journalistin: Noras Geschichte zeige, „wie brutal unsere Gesellschaft mit Menschen umgehen kann“, und das man selbst immer wieder hinterfragen sollte, warum man „Menschen in Schubladen“ steckt.
Eine Schlussfolgerung wie aus dem Kita-Morgenkreis. Ich glaube nicht, dass es damit getan ist. Denn unsere Gesellschaft droht mit dem „Body-Positivity“-Trend den gleichen Fehler zu machen, den sie schon beim Schlankheitswahn gemacht hat: Sie kümmert sich nicht darum, was gesund für den Körper ist. Genauso wie viele diäthaltende Teenies nicht wissen, dass etwa jede zehnte Magersüchtige an ihrer Krankheit stirbt, scheinen auch die „Fat-Acceptance“-Aktivisten jeden Sinn dafür verloren zu haben, dass starkes Übergewicht ebenso gesundheitsschädigend wie Untergewicht ist. Wichtig ist hier zu betonen, dass das wirklich nur bei sehr starker Fettleibigkeit, also ab einem Body-Maß-Index (BMI) über 35, der Fall ist. Zum Vergleich: Die im funk-Beitrag gezeigte Nora ist 36 Jahre alt und 1,68 Meter groß. Sie würde schon ab einem Gewicht von 99 Kilogramm einem BMI über 35 haben. Ihr äußeres Erscheinungsbild lässt jedoch vermuten, dass sie mindestens zwanzig Kilo mehr wiegt.
Der Unterschied zwischen Übergewicht und Fettleibigkeit
Der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer hat das in seinem Buch „Esst endlich normal“ einmal sehr gut aufgearbeitet. Er stellt dort beispielsweise eine großangelegte amerikanische Studie vor, deren Datenerhebungen er wie folgt auswertet: Sowohl Untergewichtige (BMI kleiner 18,5) als auch Fettleibige (BMI größer 30) haben gegenüber „Normalgewichtigen“ (BMI 18,5 bis 24) ein stark erhöhtes Sterberisiko, sie sterben also im Schnitt deutlich früher. Anders ist das bei den Übergewichtigen (BMI 25 bis 29) – sie weisen im Schnitt sogar eine geringere Sterblichkeit als Normalgewichtige auf. Der Wahn (auch vieler Ärzte), den BMI ja nicht über die magische Zahl 25 klettern zu lassen, ist also genauso Humbug wie die Verharmlosung von Fettleibigkeit. Etwas Übergewicht wirkt gerade im Alter lebensverlängernd, nur extremes Übergewicht ist schädlich für den Körper.
Diese Differenzierung macht die Body-Positivity-Bewegung nicht. Auch im funk-Beitrag sagt die Reporterin nur einmal am Rande, dass „hohes Übergewicht gesundheitsschädigend“ sein könne. Deutlich mehr Sendezeit wird auf die Magen-OP verwendet, der sich die übergewichtige Nora schließlich unterzieht. Der Eingriff wird ambivalent beleuchtet – jedoch nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern allein, weil sich viele Dicke nicht „für sich selbst“ für die OP entscheiden würden, sondern wegen des Drucks, den die böse Gesellschaft auf sie ausübt. Zwar wird gezeigt, dass Nora nach der OP mit Übelkeit, Schwindel und Magenschmerzen zu tun hat, es überwiegt jedoch der Eindruck, dass Nora durch diesen Eingriff jetzt ein freierer, lebendigerer Mensch sei und eine Magenverkleinerung eine gute Sache, solange man sie „nicht für andere“ machen lässt.
Eine Magenverkleinerung ist kein Heilsbringer
Diese Darstellung ist meiner Meinung nach schädlicher für Dicke, als es selbst bösartige Hänseleien je sein könnten. Denn, was viele Menschen, auch erschreckend viele Ärzte, bei diesen Magenverkleinerungen verschweigen ist, dass dieser Eingriff bedeutet, dass die Betroffenen für den Rest ihres Lebens sehr leiden müssen. Vier von fünf Operierten haben einem NDR–Bericht zufolge dauerhaft erhebliche Beschwerden – darunter: Sodbrennen, Bauchschmerzen, Blähungen, Übelkeit und Völlegefühl, sowie Nährstoffmangel und Muskelschwund, die zu extremer Schlappheit führen können.
Durch den chirurgisch verkleinerten Magen wird der Körper in einen dauerhaften Magelzustand versetzt, den er nicht kompensieren kann, weil schon bei geringen Essmengen ein Brechreiz ausgelöst wird. Viele Operierte werden so verzweifelt durch den Dauerhunger, dass sie fast den ganzen Tag durchgängig kleine Mengen essen. Nora beschreibt selbst in der funk-Doku, dass sie gehört habe, dass manche Betroffene Nutella in der Mikrowelle verflüssigen, um mehr davon aufnehmen zu können, ohne dass ihnen übel wird. Es ist durchaus diskutabel, ob die tatsächlich beeindruckende Gewichtsreduktion, die durch diese Eingriffe erreicht werden kann, diese Leiden wert sind. Und ob sie tatsächlich – wie sich die Ärzte erhoffen – lebensverlängernd wirken. Immerhin sind Nährstoffmangel und Muskelschwund ebenfalls mit enormen Gesundheitsrisiken verbunden.
Wer Fettleibigkeit verharmlost, gefährdet die Betroffenen
Wer sich ernsthaft für die psychische und körperliche Gesundheit von sehr dicken Menschen interessiert, hilft ihnen nicht, indem er sie von der Realität fern hält und ihnen sagt, dass sie ihren Körper so annehmen sollen, wie er ist. Die unbequeme Wahrheit ist: Hohes Übergewicht ist mit erheblichen Gesundheitsrisiken verbunden – und: Wer erst einmal extrem dick geworden ist, hat anscheinend kaum Aussicht darauf, ohne erhebliches Leid aus diesem Zustand herauszukommen. Umso wichtiger ist es, dass man verhindert, dass es überhaupt so weit kommt.
Es ist auffällig, dass die übergewichtige Nora offenbar jahrelang in psychotherapeutischer Behandlung war, ohne ihren Impuls des emotionalen Essens zu überwinden. Ob das nun daran lag, dass Nora einen schlechten Therapeuten hatte, oder an ihrer eigenen Weigerung, sich mit den sicherlich dort aufgekommenen negativen Gefühlen auseinanderzusetzen, wissen wir nicht. Klar ist aber: Emotionales Essen zu überwinden, ist möglich. Schließlich kann man lernen, unangenehme Gefühle auszuhalten, anstatt sie mit Essen zu ersticken.
Wer sehr Dicken helfen will, sollte sie also ermutigen, die Mechanismen hinter ihrem Essverhalten zu verstehen und zu überwinden, anstatt sie in ihrem Verhalten zu bestätigen. Das kann im Zweifel auch ein Besuch beim Arzt statt beim Psychotherapeuten bedeuten: Immerhin sind einige Menschen nicht aus psychischen, sondern aus erblichen oder krankheitsbedingten Gründen stark übergewichtig. In jedem Fall gilt: Extremes Übergewicht zu normalisieren, wird keinem helfen, am wenigsten den Dicken.
Vielen Dank für diesen informativen und gleichzeitig sehr berührenden Artikel. Hauptsache „woke“ – so wird jede Woche eine neue Sau durchs Dorf getrieben – wie es den Betroffenen damit geht, egal ob es um Fettleibige oder oder andere Probleme geht, ist den Schreiberlingen und Videomachern völlig egal. Eine seriöse Beschreibung von Problemen wie in diesem sehr gelungenen Artikel gibt es kaum noch. Zum Glück gibt’s Apollo News!
Ich habe erst neulich mit meinem Fitnesstrainer darüber gesprochen, dass die Ärzte zu ihren Patienten eigentlich darüber reden sollten, dass sie sich mehr bewegen und weniger essen sollen anstatt irgendwelche Physio und Pillen zu verordnen. Er war der Meinung, dass das früher oder später noch kommen wird, aber ich denke nicht. Vom Arzt erwartet man keine unverblümte Wahrheit, sondern ein Rezept. Liegt die Fettleibigkeit in der Psyche, muß sie da angegangen werden, zusammen mit einem gesunden Ernährungs- und Bewegungsplan. Es ist ja nicht so, dass heutzutage nicht jedes Fitnessstudio Kurse dafür anbietet.