Von meinen schönsten Kindheitserinnerungen sind die Sonntage mit meinem Opa nicht wegzudenken. Wir hatten immer unser eigenes Ritual, bis ins Detail durchgeplant. Nach einem gemütlichen Frühstück – er hatte Filterkaffee mit Kondensmilch und ich einen Kakao – zogen wir uns in das Gästezimmer zurück. Auf dem Teppichboden lag ein alter Perserteppich und in der Ecke stand ein alter Röhrenfernseher, auf dem wir beide am Abend zusammen die Nachrichten schauten.
Dort holte mein Opa das alte, hölzerne Schachbrett hervor, und auf dem massiven Holztisch begann der erste Wettkampf des Tages. Er spielte nie absichtlich schlechter für mich und ließ mich nie gewinnen. Mir machten meine regelmäßigen Niederlagen nichts aus – ich liebte es, ihm dabei zuzusehen, wie er mit voller Konzentration seine Züge machte und mir mit einem verschmitzten Lächeln erklärte, was ich hätte besser machen müssen. Sobald die Schachfiguren wieder in die Schachtel geräumt waren, wurde das Brett umgedreht, und wir begannen eine Partie Mühle. Hier hatte ich bessere Chancen und manchmal schaffte ich es sogar, zu gewinnen.
Danach folgte ein langer Spaziergang durch den Park und um einen Teich herum. Ich tobte da gerne ausgelassen herum, doch mein Opa zog mich zurück. Er hatte einen in sich gekehrten Gang mit gesenktem Blick. Er mochte es nicht, in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ein Erbe aus seiner Kindheit in der dunkelsten Zeit unserer Geschichte. Diese ist auch der Grund, weshalb ich so schöne Erinnerungen an meinen Opa habe – meine Mutter jedoch ihren nie kennenlernen konnte.
Vor dem Naziregime
Mein Urgroßvater Oswald Behrens wurde im November 1901 in Hamburg geboren. Als zweites von drei Kindern jüdischer Eltern, Richard Philipp und Thecla Behrens, zeigte er früh Interesse und Talent für die Musik, die sein Leben prägte. Als ein Kind einer gutbürgerlichen Familie standen ihm alle Türen offen – und er wurde einer der vielseitigsten Komponisten, Dirigenten, Pianisten und Musikpädagogen, die Hamburg hervorbrachte.
Nach seinem Abschluss am Realgymnasium des Johanneums 1917, das mein Urgroßvater in der Hansestadt Hamburg besuchte, legte er ein Freiwilligenjahr ab. An der Münchener Universität in den frühen 1920er Jahren widmete er sich der Philosophie, während er parallel dazu an der Akademie der Tonkunst Komposition bei Siegmund von Hausegger und Dirigieren bei Hans Knappertsbusch studierte. Zu seinen weiteren Lehrern zählten der Musikwissenschaftler Adolf Sandberger und der Komponist Joseph Haas, und er erweiterte seine Fähigkeiten durch Privatunterricht in Kontrapunkt und Partiturlesen bei Karl Blessinger.
Seine Ausbildung war vielseitig und umfassend, was ihn zu einem kompetenten und angesehenen Musiker und Lehrer machte. Im April 1924 nahm er eine Stelle als Notenlektor bei der Mandruck A.-G. in München an, wo er Korrekturarbeiten ausführte und Kompositionen arrangierte. 1925 kehrte mein Urgroßvater nach Hamburg zurück, um am Brahms-Konservatorium als Klavier- und Theorielehrer zu arbeiten. Dort unterrichtete er unter anderem Fächer wie Harmonie, Formenlehre und Musikgeschichte. Er heiratete Margarete Hoff aus Karlsruhe, und das Paar bekam 1929 einen Sohn, meinen Großvater Thomas.
Neben seiner Lehrtätigkeit am Konservatorium war er auch Kapellmeister des St. Georg-Orchestervereins, mit dem er Konzerte in Hamburg veranstaltete. Seine Kompositionen fanden Anklang, und 1930 erhielt er ein Stipendium für seine „Sonate für zwei Klaviere“. Mein Urgroßvater genoss zunehmende Anerkennung und wurde in die Jury des Hamburger Tonkünstlervereins berufen. Doch dieser berufliche Aufstieg fand mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein abruptes Ende.
Nach 1933: Repressionen, Zuchthaus und Deportation nach Auschwitz
In den Jahren nach 1933 schrieb mein Urgroßvater weiterhin Musik. Besonders bekannt wurde seine Komposition für eine Chanukka-Feier des Jüdischen Kulturbunds 1936 in Hamburg, bei der er auch die musikalische Leitung übernahm. Er arbeitete eng mit anderen jüdischen Künstlern zusammen und setzte seine musikalischen Projekte trotz der immer schärfer werdenden Repressionen fort. Doch der zunehmende Druck auf ihn und seine Familie wurde unübersehbar.
1938 wurde mein Urgroßvater wegen „Rassenschande“ verhaftet – eine Anschuldigung, die während der Nazi-Zeit gegen viele Juden erhoben wurde. Im März 1938 kam er in Untersuchungshaft, der darauffolgende Prozess zog sich bis ins Frühjahr 1939. Seine damalige Frau, Margarete, beschrieb später, wie sehr ihn die Haft gezeichnet hatte: „Sein volles schwarzes Haar war weiß geworden, seine Augen starr, seine Sprache stockend.“
Oswald Behrens wurde zu fast 20 Jahren Zuchthaus verurteilt und 1939 in das Gefängnis in Bremen-Oslebshausen gebracht. Im Januar 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert, wo er nur wenige Wochen später, am 1. Februar 1943, ermordet wurde. Seine Familie, darunter seine Mutter und Schwestern, hatte es noch geschafft, nach England zu fliehen. Doch das Leben meines Urgroßvaters wurde vom nationalsozialistischen Regime brutal beendet.

Erst nach dem Krieg wurde die Verurteilung meines Urgroßvaters größtenteils aufgehoben, und seine Arbeit begann wieder Aufmerksamkeit zu erlangen. 1958, fünfzehn Jahre nach seinem Tod, fanden mehrere Gedenkveranstaltungen zu seinen Ehren statt – darunter eine Radioaufführung seiner „Sonate für zwei Klaviere“ und ein Konzert in Hamburg, bei dem einige seiner ehemaligen Schülerinnen auftraten.
20 Jahre nach der Ermordung erhielt mein Großvater eine kleine, unangemessene Geldsumme als Entschädigung für die durch die Enteignung entstandenen Schäden an Eigentum und Vermögen sowie eine Rückerstattung der familiären Emigrationskosten. Mein Opa sprach selten über seine Kindheit – ich möchte mir nicht vorstellen, was er in dieser Zeit durchmachen musste. Auch er sollte in den letzten Monaten des Krieges deportiert werden, doch ein Funken Menschlichkeit rettete ihn und ermöglichte somit mir das Leben. Im Januar 1945 sollte er sich bei der Gestapo melden, doch er wurde von einem Beamten mit den Worten „Geh nach Hause, Junge, das hier ist bald vorbei“ weggeschickt.
Im Mai 2016 wurde auf Drängen meiner Mutter ein Stolperstein an dem ehemaligen Wohnsitz von Oswald Behrens eingesetzt. So sieht jeder nun, dass in der Lessingstraße 24 in Hamburg nicht irgendjemand gewohnt hat, sondern mein Urgroßvater Oswald Behrens. Die emigrierte Verwandtschaft lebte bis zu ihrem Tod im Vereinigten Königreich. Keine D-Mark und auch kein goldener Stolperstein wird ihm je Gerechtigkeit bringen.
Für meinen Großvater Thomas (*4. Februar 1929, ✝ 1. März 2015 in Hamburg) und meine Mutter Beatrice.
Bewegende, persönliche Zeitgeschichte. Schön, dass der Nachfahre des Verfolgten nun über ihn berichten kann. Schrecklich, dass dies in Zeiten geschieht, in denen Antisemitismus wieder gesellschaftsfähig geworden ist.
„Sie haben ihre Eliten ermordet.“ So beschrieb Ephraim Kishon seine Erfahrungen unter dem Nazi-Regime. Vielleicht erklärt das zu einem Teil den geistigen Niedergang Deutschlands in der heutigen Zeit.
Danke, Herr Albrecht, für diesen berührenden Bericht.
Sie können stolz sein auf ihre Vorfahren!
vielen dank für diesen berührenden beitrag!
und für ihre arbeit bei apollo….
Mein Großvater Arthur wurde im Alter von siebzehn Jahren von seinen Eltern als “unnützer Esser” an die Wehrmacht übergeben. Als Angehöriger der sechsten Armee nahm er an den grauenhaften Feldzügen in Polen und der Ukraine teil. Anschließend ging es direkt nach Stalingrad.
Er diente als Sturmpionier beim Unternehmen Hubertus. Er kämpfte in den Gefechten um die Apotheke. Er nahm an den Auseinandersetzungen in der Konverterhalle des Stahlwerks “Roter Oktober” teil und kämpfte auf dem Werksgelände der Traktorenfabrik “Barrikaden”.
Im Februar 1943 geriet er im Nordkessel in Gefangenschaft.
1955 kam er nach Hause zurück.
Ich habe ihn gefragt: Vater, hasst du die Russen? Er sagte: Aber nein. Und du darfst das auch nicht. Versprichst du mir, niemals die Hand gegen sie zu erheben?
Ja, Vater.
Vielen Dank für diesen Beitrag!
Ich habe noch eine persönliche Frage an Herrn Albrecht: Überwiegt der Stolz über das Lebenswerk Ihres Urgroßvaters oder die Wut über sein schreckliches Schicksal?
Eine bewegende Lebensgeschichte! Eine meiner Urgroßmütter war Köchin bei einer jüdischen Familie bis sie sich um meinen Großvater kümmern musste. Ihr Ehemann verstarb bei einem Grubenunglück. Anschließend zog sie zu ihren Geschwistern östlich von Posen ins damalige Polen. Sie erlebte die Flucht vor der Roten Armee und eine meiner Großtanten wurde wohl auch vergewaltigt (man sprach nie wirklich darüber).
Alle meine Großeltern waren 1933 noch Teenager. Mein einer Großvater sollte mit seiner Einheit nach Stalingrad, jedoch war der Kessel beim Eintreffen bereits geschlossen. Mein anderer Großvater wurde vor Moskau schwer verwundet und bei seiner Bergung starben 2 Kameraden. Als Kriegsuntauglicher sollte er 1945 noch an ein Flakgeschütz, jedoch floh er mit meiner Großmutter auf‘s Land. Diese Großmutter erlebte bis zur Flucht den Bombenterror im Ruhrgebiet.
Im August 2020 starb meine Großmutter als letzter meiner Großeltern wenige Tage nach ihrem Geburtstag.