Gegen Aiwanger war das Gedenken an das Dritte Reich plötzlich politisches Instrument. SPD-Kandidat von Brunn zeigt mit einem Scholl-Vergleich das neue Niveau der "Erinnerungskultur". Nachdenken verboten.

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»Du sagst: „Der deutsche Schäferhund hat ein braunes Fell.“ Und der Zuschauer macht: „OH!“ Warum? Weil sein Hirn verstopft ist. Zugemüllt mit schlechten Comedy-Sendungen, in denen der Begriff „Braun“ der Gipfel dessen ist, was irgendeinem Autor zum Thema drittes Reich eingefallen ist.«

Harald Schmidt hat mit diesen Sätzen eigentlich schon vor vielen Jahren alles gesagt, was man zur sogenannten Debatte um die Affäre Aiwanger wissen muss. Braun – OH! Das ist der Gipfel dessen, was dem veröffentlichten Durchschnitt zum Nationalsozialismus einfällt. Aiwanger – Böse!

Wie hohl das deutsche Gedenken an die NS-Verbrechen längst geworden ist, offenbarte jüngst Florian von Brunn – das ist der Mann, der für die SPD bayerischer Ministerpräsident werden will. Auf dem Gillamoos, einer Art politischem Volksfest, will der Kandidat dem Hubert Aiwanger so richtig einen mitgeben und sagt den Satz: „Sophie Scholl hatte Flugblätter gegen die Nazis verteilt und wurde dafür hingerichtet. Und Hubert Aiwanger hatte in seiner Tasche Flugblätter in denen tapfere Frauen wie Sophie Scholl verhöhnt wurden“, ruft von Brunn in ein Sozen-Bierzelt hinein.

Der aufmerksame Zuhörer wird sich fragen: Was hat Sophie Scholl damit zu tun? Die 22-Jährige Studentin wurde 1943 von den Nazis hingerichtet, weil sie Flugblätter gegen Hitler verteilt hatte. 80 Jahre später wirft ein blasser Politiker ihren Namen durch einen Raum voll mit Bierdunst und angetrunkenen Genossen, um einen Punkt im Polit-Gehaue gegen Aiwanger zu erzielen. Warum? Weil sie auch Flugblätter verteilte, wie angeblich Aiwanger? Sophie Scholl starb auch nicht im KZ. Offensichtlich hat von Brunn überhaupt keine Ahnung vom Schicksal der Scholl-Geschwister. Er wollte nur irgendwas gesagt haben – irgendwas gegen Aiwanger und mit Nazi-Bezug. Da passte Sophie Scholl gerade recht.

Deutschlands Erinnerungskultur karikiert die Nazis – echte Auseinandersetzung findet nicht statt

An der Causa Aiwanger habe die deutsche Erinnerungskultur „Schaden genommen“, meinen viele. Ja, das hat sie. Aiwanger habe diese torpediert, sagt Felix Klein, Antisemitsmusbeauftragter der Bundesregierung. Aber gibt es da denn noch viel zu torpedieren?

Von Brunn ist nur der Gipfel der Gedankenlosigkeit in einem politischen Skandal, der mal wieder offenbart, wie wenig Substanz das deutsche Gerede über die eigene „Erinnerungskultur“ wirklich hat. Wenn der Chef der KZ-Gedenkstätte Dachau einen öffentlichen Besuch von Hubert Aiwanger jetzt ablehnt, wie Felix Klein ihn vorgeschlagen hat, dann ist es einer der wenigen Lichtblicke. Eine Art Wallfahrt vor Kameras zu einem Konzentrationslager wäre genau die falsche Reaktion auf diesen Skandal: Als wäre Dachau eine Kathedrale, in der Sünder Abbitte leisten können. Das ist alles, was viele in den alten Konzentrationslagern noch sehen: Einen Ort der eigenen Reinwaschung. Das Ticket zum Betreten der Gedenkstätte wie ein Ablassbrief.

Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus findet nicht mehr statt: Die Frage, was die Ideologie der Nazis ausmachte und vor allem, wie sie Deutschland übernehmen konnte. Ja, irgendwas mit Weimar und dann war der Hitler da. Als sei der Führer als das fleischgewordene Böse direkt aus der Hölle in die Reichskanzlei heraufgefahren. Was dieses Böse ausmacht – egal. Dass es eben das Banale, das Menschliche ist, was den NS gefährlich und eben auch erfolgreich machte, wie Hannah Arendt sagte, darüber wird gar nicht mehr gegrübelt. Ihr Bericht über Holocaust-Organisator Adolf Eichmann vor Gericht zeichnete das Bild eines Mannes, der von Ton und Auftreten her auch Sachbearbeiter in einer KFZ-Stelle oder beim Bürgeramt sein könnte – und keinen cartoonhaften Bösewicht, bei dem der Hass und das Höllische aus jeder Pore trieft.

Um das zu Begreifen, müsste die Auseinandersetzung mit zwölf Jahren Hitler-Herrschaft mehr sein als nur der Besuch einer KZ-Gedenkstätte und das mantraartige Feststellen, dass Hitler das böseste in der Geschichte des Bösen sei und seine Taten das schlimmste Verbrechen in der Geschichte der Verbrechen – mindestens. Dabei ist die Frage im Zentrum doch, wie es soweit kommen konnte. Wie eine Gesellschaft in den entgrenzten Hass auf eine Minderheit abgleiten kann.

Und eigentlich wäre die Frage rund um das Flugblatt vom Aiwanger-Bruder sehr interessant für solche Gedanken. Natürlich wird aus den widerwärtigen Zeilen keine ernsthafte nationalsozialistische Gesinnung deutlich. Aber warum will ein Pubertärer ausgerechnet mit Auschwitz provozieren? Woher kommt das Faszinosum Hitler, das ja so viele in diesem Alter haben. Warum imitiert man den Führer in seiner markanten Redeweise so häufig an deutschen Schulen? Das sind sicher nicht bloß verkappte Faschisten – aber was ist es? Was an unserer Erinnerungskultur produziert das? Ist das unvermeidbar? Was bedeutet es für uns als Gesellschaft? Eigentlich sollte man darüber nachdenken, tief nachdenken. Stattdessen drischt man hohl auf Hubert Aiwanger ein, nach 36 Jahren. Es geht längst sowieso um den Wahlkampf.

Die Selbstbeweihräucherung des „Tätervolks“

Aber damit man nicht nachdenken muss, gibt es ja eben die neue deutsche „Erinnerungskultur“. Sie ist Kreation einer Gesellschaft, die mit ihrer Vergangenheit längst Frieden geschlossen und den Holocaust mit Hilfe der „Wiedergutmachung“ zu ihrem Unique Selling Point umgedeutet hat. So formuliert es der Publizist Henryk M. Broder, Sohn einer Auschwitz-Überlebenden. Recht hat er: „Erinnerungskultur“ ist schon seit Jahren nicht viel mehr als eine Selbstbeweihräucherung. Wenn deutsche Politiker heute sagen, dass es „kein Deutschland ohne Auschwitz“ gäbe, meinen sie das nicht mit Scham – es ist kaum verhohlener Stolz, der aus diesen Worten dringt. Stolz darauf, wie toll man mit der eigenen Vergangenheit umgeht. Er kommt dann zum Vorschein, wenn sie die Israelis belehren, dass „gerade sie“ es ja besser wissen müssten, als die Palästinenser zu diskriminieren. Wenn sie den Amerikanern, ohne die Dachau noch heute in Betrieb wäre, großkotzig erklären, wie sie mit ihrer eigenen Vergangenheit umzugehen hätten. Moderner deutscher Nationalismus und Chauvinismus existieren nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Die Deutschen sind Erinnerungsweltmeister – und haben sich vor dem Altar der KZ-Gedenkstätten selbst die Absolution erteilt.

Ab und an kann man das dann auch mal für politische Schmutzkampagnen nutzen. Freilich nur ausgewählte Politiker. Dass die SPD-Jugend mit der Palästinenserorganisation Fatah zusammenarbeitet, deren Chef einen akademischen Abschluss in Holocaustleugnung gemacht hat und das Verbrechen relativiert; die den israelischen Staat und damit auch all seine jüdischen Bewohner „ins Meer treiben“ und vernichten will, ist egal. Dass ehemalige deutsche Außenminister diesen Mann als einen guten Freund betiteln können, ist egal. Nur der Aiwanger, der ein Flugblatt mit KZ-Bezug in der Tasche hatte – der ist derjenige, der die Erinnerungskultur beschädigt, untergräbt, torpediert.

Die Affäre Aiwanger zeigt auch, dass sich zunehmend die DDR-Strategie einer Erinnerungskultur verfestigt: Das Gedenken als politisches Instrument – und die Einbettung der Geschehnisse ins ideologische Weltbild. Nach dem Krieg wollte man im Osten echtes Nachdenken über die Geschehnisse oder gar Schuldgefühle ganz bewusst verhindern, um das Volk ohne großes Umdenken vom Nationalsozialismus in den Sozialismus reibungslos zu überführen. Schuld waren dann eben die paar Großkapitalisten und Propagandisten. Eigentlich war die bundesrepublikanische Form der Erinnerungskultur eine andere: Sie sollte das Nachdenken in den Mittelpunkt stellen. Das Hinterfragen. Das Grübeln.

Wir sind beim Gegenteil angekommen. Bitte nicht nachdenken. Lieber Parolen rufen. Sich selbst am eigenen Gutsein berauschen.

Aiwanger – OH! Böse. Nazi.

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