Juli 1942, UdSSR – Ein junger Mann erwartet seinen Einzug in die Rote Armee. Er ist erst 16 Jahre alt und hat gerade die Schule abgeschlossen. Sein Vater war bereits einige Monate zuvor einberufen worden. Mittlerweile zieht die verzweifelte Sowjetarmee selbst Zehntklässler ein. Dann kommt der entscheidende Brief: Der junge Mann soll sich beim Wehrkommando melden. Dort bekommt er ein kleines Päckchen in die Hand gedrückt. Mit fetten Buchstaben steht dort: GEHEIM. Der Adressat: Der Kommandeur einer Wehreinheit in Tscheljabinsk, dem Ort, wo schon der Vater des Jungen stationiert sein soll. Die Großstadt liegt im Süden Russlands, nahe der Grenze zur damaligen Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik.
In dem Glauben, sich zu seiner Einheit aufzumachen, verlässt der junge Mann sein kleines Dorf in Nordkirgisien und tritt die lange Reise nach Norden an – mehrere Tage muss er mit dem Zug reisen, dann kommt er endlich an. In der Stadt findet er die lokale Wehrkommandatur. Dort erfährt er: Sein Paket ist an eine Wehreinheit adressiert, die im „Bakalstroi“ liegt, einem Werk, so sagt man es ihm, das 15 Kilometer von der Stadt entfernt liegt. Das Werk ist dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten – besser bekannt unter seiner Abkürzung NKWD – unterstellt. Auch das vermeintliche Werk hat eigentlich einen anderen Namen, offiziell heißt es „Besserungsarbeitslager Bakal“.
Anders als der junge Mann denkt, wurde er nicht in die Rote Armee eingezogen, sondern zum Beginn seines Leidensweges im sowjetischen GULAG-System gelockt. Sein Verbrechen: Er ist Deutscher. Er, der eigentlich Waldemar Giesbrecht heißt, entstammt einer Familie von deutschen Mennoniten. Im frühen 19. Jahrhundert flohen sie wegen religiöser Verfolgung, wie tausende andere mennonitische Familien, aus Westpreußen ins russische Imperium, wo ihnen ein sicheres Leben versprochen wurde. Doch nun, fast 150 Jahre später, zählen Waldemar, sein Vater, seine Mutter, seine Schwester und Dutzende seiner Verwandten zu den über 350.000 Russlanddeutschen, die in den Arbeitslagern Josef Stalins einsitzen. Zehntausende werden ein anderes Leben nicht mehr kennenlernen.
Der Krieg gegen die Russlanddeutschen begann schon früh
Vor Jahren, noch lange vor dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion, begann der Krieg der sowjetischen Diktatur gegen die rund 900.000 Russlanddeutschen in der UdSSR. Sie lebten seit Jahrzehnten, praktisch isoliert von der eigentlichen russischen Bevölkerung, in eigenen Kolonien. Sie galten als arbeitsam und landwirtschaftlich fähig. Die meisten Deutschen blieben auch nach der antiklerikalen russischen Revolution tief religiös. Bereits da begannen die Leiden der Deutschen. Die Priester der Gemeinden wurden zunehmend verfolgt, religiöse Schriften wurden verboten und Kirchen wurden geschlossen.
Nachdem in Deutschland Hitler an die Macht gekommen war, schlug vonseiten des russischen Regimes den Russlanddeutschen zusätzliches Misstrauen entgegen. Deshalb lebten viele in den deutschen Dörfern bereits während des großen Terrors in Angst. Zu dieser Zeit wurde der Deutschunterricht zunehmend eingeschränkt, deutsche Kultureinrichtungen wurden geschlossen. Viele der Deutschen Autonomiegebiete, etwa der „Deutsche Nationale Rayon“, wurden bereits 1938 aufgelöst.

Die Zeit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion, die mit dem Ende der vergleichsweise liberalen Neuen Ökonomischen Politik im Jahr 1929 begann, traf die mehrheitlich landwirtschaftlich geprägten deutschen Gemeinden besonders stark. Die deutschen (wie auch die anderen) Bauern wurden mit Gewalt, wirtschaftlichem Druck (etwa deutlich erhöhten Abgaben für Einzelbauern) und Enteignung in kollektive landwirtschaftliche Betriebe, Kolchose genannt, organisiert.
Es kam zu massivem Widerstand, auch von deutschen Bauern, der brutal niedergeschlagen wurde. Tausende Deutsche wollten emigrieren. Das wurde jedoch rasch unterbunden – die Ausreise der kollektivierten Bauern wurde unterbunden, Bauern, die sich in der Hoffnung auf eine Ausreise nach Moskau oder in andere Städte aufgemacht hatten, wurden in ihren Kolchos zurückgebracht. Infolge der Kollektivierung kam es zu einer massiven Hungersnot, die in der gesamten Sowjetunion bis zu sieben Millionen Opfer forderte. Unter ihnen befanden sich auch zehntausende Russlanddeutsche, allein im deutschen Wolgagebiet über 50.000.
Mit dem Krieg kamen die Deportationen
Dem Schrecken der gewaltsamen Kollektivierung entging die Familie von Waldemar größtenteils, sowohl sein Vater als auch seine Mutter waren Lehrer. So wuchs er in verschiedenen deutschen Dörfern der 30er Jahre auf. Die Familie lebte vornehmlich in den deutschen Siedlungsgebieten in der einsamen Kulunda-Steppe Westsibiriens. Das Leben war hart und archaisch. Die kommunistischen Repressionen hatten das Leben der deutschen Gemeinden zunehmend aufgewühlt. Keiner konnte jedoch ahnen, was noch kommen würde.
Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs auf sowjetischem Territorium begannen die Deportationen. Die Deutschen wurden unter Generalverdacht gestellt. Am 28. August 1941 ordnete der Oberste Sowjet der UdSSR in dem Erlass Nr. 21/160 die Deportation der Russlanddeutschen an und warf ihnen vor, „Tausende und Zehntausende von Saboteuren und Spionen“ unter ihnen zu verstecken – ein freilich absurder Vorwurf gegenüber der einfachen Zivilbevölkerung.

Die Deutschen wurden dann aus ihren angestammten Lebensgebieten, etwa an der südlichen Wolga oder aus den Kolonien am Schwarzen Meer, nach Sibirien und in die zentralasiatischen Teilrepubliken deportiert. Waldemar und seine Familie zogen aus ihrem Dorf Halberstadt, dem Zentrum des ehemaligen Deutschen Nationalen Rayons, nach Kirgisien und kamen so einer Deportation zuvor.
In ihrer neuen, fremden Heimat – sie waren die einzige deutsche Familie im Dorf – schlugen sie sich noch irgendwie durch. Dann wurde Waldemars Vater, Abram, wie die Familie dachte, in die Armee eingezogen. Nur wenige Monate später folgte Waldemar selbst. Doch wie bereits erwähnt, kam er stattdessen in ein Straflager, genauer in den „Bautrupp Nr. 15“ der „Bakalstroi“, in dem praktisch nur Deutsche inhaftiert waren. Waldemar wird unfreiwillig Teil der „Arbeitsarmee“ (Trudarmija) und damit zur Zwangsarbeit verpflichtet.
Das Leben im Lager
Das Leben im Lager ist hart. Es ist von mehreren hohen Zäunen, Wachtürmen und Sperrzonen umringt. Beim Betreten der Sperrzonen haben die Wachen einen sofortigen Schießbefehl. Die Lagerbewohner schlafen in engen Militärzelten zu je 200 Mann auf Drei-Etagen-Pritschen. Tag ein, Tag aus müssen die Bewohner schuften – die Arbeiten reichen dabei vom Pflücken von Pflanzen bis zum Bau von Gebäuden. Offiziell dauert ein normaler Arbeitstag 12 Stunden, immer fallen jedoch Überstunden an, sodass sich der Tag oft auf bis zu 16 Stunden hinauszieht.
Es herrscht eine strenge Ordnung, und wer gegen sie verstößt, wird hart bestraft. Das Verbreiten von „anti-sowjetischer Propaganda und Agitation“, das Simulieren von Krankheiten, Arbeitsverweigerung oder Diebstahl wird mit zusätzlichen langen Gefängnisstrafen und nur allzu oft mit dem Tod bestraft. Gleichzeitig ist die Versorgung im Lager sehr schlecht: Die Bewohner sollen mit Brot, Brei und Wasser überleben. Die Ruhr und die Mangelkrankheit greifen im Lager um sich.

Wer nicht erschossen wird, sich zu Tode arbeitet oder einer Krankheit erliegt, wird psychologisch zermürbt. Das erfährt auch Waldemar aus nächster Nähe. Im Lager hat er einen alten Schulfreund aus Halbstadt, Johannes, wiedergetroffen. Auch er entstammt einer deutschen Familie und hatte, bevor er ins Lager kam, an der Front für die Rote Armee gekämpft – bis er schwer verwundet wurde. Dann wurde er ins Lager gebracht. Schnell sind er und Waldemar in der lebensfeindlichen Umgebung zu Freunden geworden.
Johannes ist schwach und wurde von Anfang an nur „Leichtarbeiten“ zugeordnet. Vor allem hält er aber das Leben im Lager nicht aus. Er schottet sich zunehmend ab, sitzt in seiner freien Zeit für Stunden regungslos da. Er wird ins Lazarett gebracht, doch auch dort kann ihm keiner helfen. Nur die täglichen Besuche von Waldemar muntern ihn auf. Dann, als Waldemar eines Tages zu Besuch kommt, ist Johannes nicht mehr auf seinem Bett. Ein Sanitäter verwies Waldemar wortlos auf eine Trage im Flur. Dort lag Johannes, unter einem dünnen Laken regungslos da. Er wurde nur 22 Jahre alt.
Selbst mit dem Ende des Krieges endet der Leidensweg nicht
Auch an Waldemar ist das Leben im Lager nicht spurlos vorbeigegangen. Auch wenn er von ernsthaften Krankheiten verschont bleibt, reicht seine Essensration für die schwere Arbeit, unter anderem auf dem Bau und im Betonwerk, nicht aus. Am Ende der Zeit seiner körperlichen Arbeit wiegt er bei einer Körpergröße von 1,72 Metern nur noch 47 Kilogramm. Doch er hat Glück – ein Mann, der sich bei ihm als ein entfernter Verwandter vorstellt, lässt ihn Anfang 1944 ins „Zentrallabor für Materialproben“ versetzen, wo Waldemar eine körperlich deutlich weniger fordernde Arbeit ausführen muss.
Er arbeitet sich hoch und wird zu einem Spezialisten für die Prüfung von Baumaterial. Immer noch lebt er in der unerbittlichen Umwelt des Lagers. Selbst mit dem Sieg der Alliierten über Nazideutschland nimmt das Leid der Russlanddeutschen kein Ende. Noch 1948 wird Stalin die Russlanddeutschen in einem Erlass als „für alle Zeiten verbannt“ erklären. Erst nach dem Tod des Diktators wird die schrittweise Rehabilitierung der Russlanddeutschen beginnen.
Für Waldemar bietet sich jedoch bereits im Juni 1946 die Möglichkeit, dem brutalen Lagersystem zu entfliehen. Dank seiner Kenntnisse bei der Prüfung von Baumaterialien wird er auf das streng geheime „Bauprojekt Nr. 859“, später besser bekannt als „Tscheljabinsk-65“, verlegt. Es ist das Ende seiner Lagerzeit und damit auch das Ende der vollkommenen Unfreiheit. Vor ihm steht jedoch eine ungewisse Zukunft.
Das Ende der Russlanddeutschen
In „Tscheljabinsk-65“ wird er dann am Aufbau der Anlage beteiligt sein, die der Geburtsort des sowjetischen Nuklearprogramms werden wird. Dort wird Waldemar seine Frau kennenlernen, mit der er nach dem Ende seiner Tätigkeit in „Tscheljabinsk-65“ im Jahr 1948 eine Familie gründen wird. In seinem Berufsfeld wird er ein erfolgreicher Bauingenieur werden.
Trotz dem Ende seines Lageraufenthaltes wird Waldemar jedoch, wie die meisten Deutschen, bis zum Oktober 1954 in der Arbeitsarmee verbleiben. Er wird also für insgesamt 12 Jahre dem Sowjetregime komplett untergeordnet bleiben; jede Versetzung, jeder Wohnortwechsel, praktisch jede Entscheidung in seinem Leben muss erst durch die Behörden genehmigt werden. Bis 1956 werden er und die anderen Russlanddeutschen einem strengen Sondersiedler-Regime unterworfen sein.

Erst 1964 werden sie durch einen lange Zeit geheimen Erlass des Obersten Sowjets all ihre Bürgerrechte offiziell zurückerhalten. Eine Entschädigung der Regimeopfer oder eine nennenswerte Aufarbeitung in Russland wird jedoch nie betrieben werden. Die Russlanddeutschen, die das Regime überlebt haben, werden zu großen Teilen im Zuge des Aussiedlerprogramms in die Bundesrepublik ausreisen. Über 150 Jahre deutscher Kultur in Russland findet dann nahezu vollständig ihr Ende.
Auch Waldemar wird es 1995 zurück in die Heimat seiner Ahnen ziehen. Er wird sich in Regensburg niederlassen. Lange Zeit wird er in der mennonitischen Gemeinde aktiv sein, seine Memoiren schreiben und ein allgemein friedliches Familienleben führen. Am 15. Dezember 2019 wird er im hohen Alter von 93 Jahren das Ende seines Lebensweges erreicht haben.
Ich bin froh, dass ich diesen großartigen Mann, meinen Urgroßvater, noch kennenlernen konnte. Seine Memoiren, die er im Selbstverlag mit der Hilfe mehrerer Gemeindemitglieder veröffentlichte, sind ein wichtiger Zeugenbericht aus dieser düsteren Zeit der Russlanddeutschen. Bis heute ist ihre Geschichte in der deutschen Gesellschaft kaum bekannt. So wird das Thema etwa im Geschichtsunterricht nicht angesprochen, auch die wenigen Initiativen für eine Verbreitung der Russlanddeutschen Geschichte ändern das nicht.
Sie haben brisante Insider-Informationen oder Leaks? Hier können Sie uns anonyme Hinweise schicken.
Vielen Dank für die Geschichte ihres Großvaters.
Manchmal denke ich, dass niemand den Russen, Russland und den anderen Einwohnern je größeres Leid zugefügt als die Russen sich selbst.
Ein verdammtes Land.
Berührend!
Dazu von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
:::::
Materialien zu Sowjetische Straf- und Arbeitslager: »Gulag«
Gulag-Zeitzeugenarchiv der Bundesstiftung Aufarbeitung
Über mehrere Jahrzehnte hat der Historiker Dr. Meinhard Stark etwa 300 ehemalige Lagerhäftlinge bzw. ihre Kinder in Russland, Polen, Kasachstan, Litauen und Deutschland interviewt. Im Rahmen eines von der Bundesstiftung geförderten Projektes der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn sind die über 1.200 Stunden umfassenden Gespräche von Dr. Meinhard Stark ebenso wie die schriftlichen Unterlagen im Umfang von mehr als 46.000 Blatt digitalisiert worden. 2015 hat die Bundesstiftung Aufarbeitung die Interviews in ihr Archiv übernommen. …..
mehr hier
https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/sowjetische-straf-und-arbeitslager-gulag/materialien
Macht schon sehr betroffen,was Menschen durchmachen müssen und in Kollektivhaftung fern der Heimat gelegte Hölle verbracht werden und quasi zum Todesurteil getrieben durch Mangelernährung, Psychoterror und physischer subtiler und offentsichtlicher Gewalt .
Der Mensch, der sich als Mittäter einer Diktatur unterordnet und mitschuldig macht, wird kollektiv gesehen zur Bestie .
Russland ist wahrhaftig für andersdenkende Ethnien lebensgefährliche verbrannte Erde zu allen Zeiten .
Nun ja Deutschland Diktaturen waren nicht besser dran , dennoch erleben wir aktuell wieder solchen starken Tendenzen .
Eine Kombination aus mangelnde Bildung – und Selbstbewusstsein , leichter Beeinflussung durch ausländische Grossmächte und Lobbyisten übelster Sorte aus Wirtschaft, Finanz, Kirche, Geheimbünde , ausserirdischer Spezies(?)
Gott bewahre unser Deutschland vor weiteren Diktaturen . Ohne Gott in Uns wirds schwer !!
Danke das Sie Ihre Geschichte mit uns teilen, es hat mich sehr bewegt diesen Artikel zu lesen.
Einer meiner Großväter entstammt der Ukraine (Schwarzes Meer, Bessarabien). Die Familiengeschichte in der Richtung ist eher dunkel. Danke für eine Teilerhellung. Mein Familienname ist, ähh, kurios.
Meine Großmutter aus Ostpreußen war ab 1945 lange in einem sowjetischen Arbeitslager. Diese schrecklichen Zeiten sind zum Glück vorbei. Das dachte man bis vor kurzem. Nun müssen die Russen wieder Angst vor aggressiven Politikern haben, die sich als Deutsche ausgeben, obwohl die meisten Deutschen die chronische westliche Hetze gegen Russland ablehnen.
Ein später Rückblick auf ein System, dessen Inspiration jahrzehntelang die deutsche Demokratie belästigt hat. Nicht nur im Nachhinein ist es das reine Idiotentum, dem sowjetischen System irgendwas Gutes für die Menschheit anzudichten. Mit mehr Opfern ist keine vermeintliche Heilslehre in der Geschichte gescheitert als die Verwirklichung des ‚Marismus‘.