300.000 Menschen reisen in Autos, Bussen und Sonderzügen nach Bonn. Sie wollen in den Hofgarten in der Bundeshauptstadt zur bisher größten Demonstration in der Geschichte der Bundesrepublik.
Es ist 1981, der Kalte Krieg ist in seiner letzten, heißen Phase. Die Angst vor der Eskalation zwischen den Blöcken ist real – im Westen sitzt der kompromisslose Antikommunist Ronald Reagan, im Osten herrscht die alte Garde um Leonid Breschnew. Die Sowjets zielen mit den neuen Mittelstreckenraketen SS-20 auf Westeuropa. Der Westen will auf Betreiben von Bundeskanzler Helmut Schmidt nachrüsten – Millionen wollen das nicht. Von Hamburg bis Stuttgart demonstrieren Menschen gegen die Nachrüstungspolitik, die von vielen einseitig verteufelt wird. Lieber rot als tot – große Teile der bundesrepublikanischen Gesellschaft scheinen in dieser Zeit bereit, ja geradezu freudig-bereit, sich Sowjetrussland im Zweifel zu unterwerfen. Einige, die damals da waren, gaben gegenüber Schmidt später zu, er habe vielleicht doch recht behalten.
Dass es die Sowjetunion war, die die Rüstungsspirale mit ihren SS-20 weitergedreht hatte, war für das Narrativ nicht von Bedeutung: die Friedensbewegung in Westdeutschland dämonisierte vor allem den Westen und seine Reaktion. Stimmen der Friedensbewegung, wie die Grünen-Gründerin Petra Kelly, SPD-Politiker Erhard Eppler oder Oskar Lafontaine, redeten damals gerne von drohender Apokalypse und vom Atomtod und zeigen dabei auf Schmidt und Reagan. Kritik am Sozialismus, an der militärischen Bedrohung durch die sowjetische Expansions- und Aufrüstungspolitik, findet hingegen nicht statt. Forschungen von internationalen Historikern legen nahe, dass diese Haltung zumindest in Teilen auf das Konto von Einfluss-Agenten des KGB und der Stasi geht.
Die Geheimdienste des Ostblocks hatten ein dezidiertes Interesse an der Friedensbewegung. Die westdeutsche DKP umgab sich in Abstimmung mit der marxistischen Internationalen mit zahlreichen Neben- oder Tarnorganisationen wie der „Sozialistischen Deutschen Arbeiter Jugend“ (SDAJ) oder der „Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes – Bund der Antifaschisten“ (VVN/BdA) sowie der „Deutschen Friedens-Union“ (DFU). Über solche Gruppen beeinflusste man die Friedensbewegung. Organisationen wie das „Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit“ (KOFAZ) und die „Krefelder Initiative“ wurden von DKP-nahen Spendern sowie aus Kassen der SED direkt finanziert. Professor Gerhard Kade, führender Kopf der Bewegung und Geschäftsführer einer Initiative namens „Generale für den Frieden“, wurde später als Agent der DDR enttarnt.
Die „Generale für den Frieden“ waren eine 1980 von der Staatssicherheit ins Leben gerufene Initiative von westlichen Ex-Militärs, die die sowjetische Position im Westen verbreiten sollte. Ein führender Kopf der Gruppe war Gert Bastian. Als pensionierter Bundeswehrgeneral gilt er in der Friedensbewegung als Rüstungsexperte. Ermittlungen der Bundesanwaltschaft sollten 1993 ergeben, dass die Gründung der Gruppe auf eine Initiative der Stasi-Auslandsabteilung HVA zurückging. In Hunderten Beiträgen in Wort, Schrift und Bild wiederholten Inoffizielle Mitarbeiter wie Bastian seine Position, wonach die Gefahren für Europa von den USA ausgingen und nicht von der sowjetischen Rüstungspolitik.
Sowjetunion und DDR führten einen Informations- und Geheimdienstkrieg gegen die Bundesrepublik – sie setzten auf die Angst der Deutschen und stärkten gezielt Narrative und Strömungen, die ihnen dienlich sind. Die SPD wird zur Spielwiese dieser Strömungen – selbst Willy Brandt macht sich mit ihnen gemein. Helmut Schmidt hingegen hat eine klare Haltung.
„Ich habe es für absolut verboten gehalten, der Friedensbewegung nach dem Munde zu reden.“ Die Russen zielten plötzlich mit Mittelstreckenraketen mit sogenannten Trident-Sprengköpfen auf Deutschland – eine Rakete konnte Köln, Düsseldorf und Essen in einem Schlag auslöschen. „Die waren bereit, das hinzunehmen“, sagt Schmidt. „Ich war nicht bereit, das hinzunehmen.“
Auf Guadeloupe in der Karibik treffen sich die Amerikaner, Briten, Franzosen und Westdeutschen. Die Alliierten – immerhin noch Besatzungsmacht – auf Augenhöhe mit dem Bundeskanzler. Das ist, neben Schmidts enger Freundschaft zum französischen Präsidenten Giscard d’Estaing, auch seiner klaren Haltung zu verdanken. Amerikaner feiern gerne Ronald Reagan dafür, dass er die Sowjetunion im Wettrüsten besiegt habe. Zurecht – doch den Grundstein für diese Politik legte nicht Reagan, sondern Helmut Schmidt.
Wohlwissend, dass Deutschland im Eskalationsfall zum Kriegsschauplatz werden würde, beschritt er eine Politik nicht der Eskalation, sondern der Konfrontation – nicht aus Kriegslust, sondern aus einem pragmatischen Verständnis von Geopolitik heraus. Schmidt schlägt 1979 den Nato-Doppelbeschluss vor. Politik der Stärke: Den SS-20 setzen die Amerikaner erst ein Angebot zur Abrüstung entgegen – als das im Sande verläuft, kommen die Mittelstreckenraketen Pershing-2. Damit ziehen die Amerikaner mit den Sowjets gleich.
Die sowjetisch beeinflusste Friedensbewegung in der Bundesrepublik verteufelt das als Eskalation. Menschenketten von Ulm nach Stuttgart, Massendemonstrationen in ganz Westdeutschland. Die SPD zerbricht fast an dieser Politik – der prominenteste Gegner von Kanzler Schmidt ist sein Vorgänger. Willy Brandt, der Kanzler von „Wandel durch Annäherung“, protestierte gegen seinen Genossen und Bundeskanzler, trat auch als Redner bei Friedenskundgebungen auf. Das Tischtuch zwischen den beiden Sozialdemokraten Willy und Helmut war da längst zerschnitten. Doch Schmidt hält Kurs, auch sein Nachfolger Helmut Kohl tut das.
In der Sowjetunion regieren damals die alten Herren Breschnew, Andropow, Tschernenko, die innerhalb weniger Jahre abtreten – der schwerkranke Andropow etwa regierte nur 15 Monate bis zu seinem Tod. Vor seinem Tode, 1983, droht er mit der gesamten Welt noch einmal an den Rand des nuklearen Infernos zu kommen, als die Sowjets die realistische NATO-Übung „Able Archer“ für einen Erstschlag halten – doch die Situation entschärft sich in letzter Sekunde dank Geheimdienstinformationen.
Andropow stirbt bald darauf, sein noch älterer Nachfolger verstarb ebenso nach rund einem Jahr im Amt. Mit Mikhail Gorbatschow kehrt dann die Einsicht in Moskau ein, dass das rote Imperium zu morsch und dem Rüstungswettstreit mit dem Westen nicht gewachsen ist. Es droht die Sowjetunion in den Bankrott zu stürzen, die in den 80er-Jahren mit den systematischen Problemen des Sozialismus, einem teuren Krieg in Afghanistan und Wirtschaftsflauten konfrontiert ist. Moskau ist gezwungen, aus der Spirale des Wettrüstens auszusteigen.
In Westdeutschland wären die Friedensbewegten gerne ausgestiegen – und hätten vor der Sowjetunion die Waffen gestreckt. Dass der Friedenswunsch vieler Demonstranten und Aktivisten damals ehrlich war, will niemand bezweifeln – es ist ihre Tragik, dass ehrliche Motivation und Angst sie zu Einfluss-Objekten des Kremls und der Stasi machte. Glück ist es hingegen, dass ein Bundeskanzler wie Helmut Schmidt diese Politik durchsetzte – sein Kurs, den Helmut Kohl fortführte, führte letztendlich mit zum Ende des Kalten Krieges. „Ich bin fest überzeugt, auch heute noch, dass ich von einer unangreifbaren moralischen Position aus gehandelt habe“, sagt Schmidt im Rückblick. Und: „Herr Gorbatschow hat mir bestätigt, dass der NATO-Doppelbeschluss tatsächlich zum ersten sowjetisch-amerikanischen Abrüstungsvertrag geführt hat.“
In Diskussionen, wo heute wieder gezielt auf die deutsche Angst vor dem Atomtod gesetzt wird, tut die Erinnerung daran gut, dass die ständige nukleare Bedrohung des Kalten Krieges nicht mit Friedenstauben und Ostermärschen, sondern durch eine Politik der Stärke entschärft wurde. Nur Frieden durch Stärke kann nachhaltig sein, beweisen Vergangenheit und Gegenwart. Helmut Schmidt sagte: „Diejenigen, die aus ihrer friedlichen Gesinnung heraus damals Riesendemonstrationen zustande gebracht haben, waren moralisch untadelig. Aber sonst haben sie nichts zustande gebracht.“
Erstaunlich, wie man als Zeitzeuge des Wettrüstens in einer Zeit der Atomalarm-Spiele in der Schule und der Pflicht, in jedem Keller einen Bunkerraum einzubauen, plötzlich von Jungspunden belehrt wird, dass das Alles nur von den bösen Russen ausging und Reagan ein Friedensengel war. Es reicht einigen nicht, keine Ahnung von dieser Zeit zu haben, sie müssen diese auch noch verbreiten.
Nein, das Wettrüsten ging nicht allein vom Russen aus. Nein, den Russen mochte keiner. Nein, man verteufelte nicht den Ami als alleinig Bösen. Man wollte nur Frieden, weil man wusste, was die Folgen einer Eskalation bedeuten. Aber heute macht sich bei den Jungen, die diese Bedrohung nie erleben mussten, auf die niemals Raketen gerichtet waren, die nie als junger Wehrpflichtiger einen nächtlichen Kriegsalarm erleben mussten, so ein „die Friedensbewegten sind eh alles linke Spinner und ein Atomkrieg ist jetzt auch nicht so schlimm“-Geschwurbel breit, dass einem schlecht wird.
Jetzt warte ich auf einen Artikel, der etwa so heißen könnte:
„Die NATO und ihr Wandel vom Verteidigungsbündnis zum Angriffs- und Eroberungsbündnis“.
Auch ein anderes Thema fiele mir noch ein:
„Die Doppelmoral im Rahmen von Sezession: Der US-Sezessionskrieg vs. die Versuche Russlands, die ehemalige Sowjetunion zusammenzuhalten“.
Oder – noch ein Vorschlag:
Warum ehemalige Sowjetrepubliken sich von der UdSSR abspalten dürfen – und die Nordiren, Schotten und Katalanen nicht von ihren Kolonialherren.
Bin ich nun „böse“?
Ja – wenn die Doppelmoral zur Normalität wird.
Jetzt wo es ernst wird muss man signalisieren, dass es bei Putin-Boomern doch nur um Klicks geht.
Zu wenig, zu spät.
Viele von uns glaubten damals daß die Sowjetunion die Erde neun Mal, und die USA sechs Mal vernichten konnte. Also wofür Geld verschwenden in Nachrüstung? Hatte eher mit Vernunft zu tun als mit Politik… Die Welt war ander. In Indien verhungerten viele Menschen… Von Afrika nicht zu reden…
Die Wehrhaftigkeit ist die Grundlage Frieden zu erhalten. Wer inneren Frieden sucht, kann sich auch im Kloster zum Beten einschliessen und wird dann in der Regel auch von Besatzern verschont. In muslimischen Ländern aber als Christ eventuell auch nicht verschont. Wer sich den Russen unterwerfen will, arbeitet vielleicht bereits an sozialistischen Zielen und sehnt sich nach solchen Verhältnissen. Befremdlich ist mir, das die Russen so plötzlich vom Freund zum Feind geworden sind. Ein Freundschaftsspiel mit den Russen wäre mir lieber, ein zurück zu unserer Wehrhaftigkeit steht dem aber ja nicht entgegen. Den Respekt der Anderen muss man sich erst erarbeiten. Also lieber erst mal aufrüsten. Eigene Waffen in die Hände anderer Länder zu geben sollte stets sehr gut überlegt sein.
Ein weiteres Highlight dieser Reihe! Auch die Aufstände der APO dürften durch die Stasi mitbeeinflußt worden sein. Einige Terroristen der RAF haben in der DDR Unterschlupf gesucht und wurden durch die Wiedervereinigung eiskalt erwischt.
Ich habe nichts gegen linke Ansichten; zu einer funktionsfähigen Demokratie gehören auch solche Meinungen! Womit ich ein Problem habe, sind die radikalen Kräfte, die mir permanent verkaufen wollen, daß echte Demokratie nur sozialistisch sein kann. Das ist Blödsinn!
Leider hat keine Partei im linken Spektrum eine glaubwürdige Agenda, um sich von solchen Leuten zu trennen. Ich komme daher zum Fazit, daß Demokratie nicht erwünscht ist, sondern nur als Mittel zum Zweck (Weltrevolution) mißbraucht werden soll.
Niemals lasse ich es zu, daß man mir Bürger meine Demokratie wegnimmt! Wenn ihr mich zum Schweigen bringen wollt, müsst ihr mich schon umbringen! Ich selbst werde Euch diesen Gefallen nicht tun – egal wie sehr Ihr Euch auch anstrengt! 🧐
Weder Helmut Schmidt noch Helmut Kohl war Rüstungslobbyist. Der eine oder andere heute ist es.