„Wollt ihr den Totalen Krieg?“: 80 Jahre Sportpalastrede
Von Marius Marx | Spätsommer 1942 – Seit bereits etwas mehr als einem Jahr tobt der von NS-Deutschland vom Zaun gebrochene und systematisch geführte Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Und das ist durchaus ungewöhnlich. Bislang waren Hitlers Feldzüge „Blitzkriege“ gewesen, die Feinde stets binnen nur weniger Wochen vernichtend geschlagen: Noch drei Jahre zuvor konnte Polen der deutschen militärtechnischen Überlegenheit wenig entgegensetzen und musste Anfang Oktober 1939 gerade mal einen Monat nach dem deutschen Überfall kapitulieren. Ebenso ein Jahr später Frankreich, das nach anderthalb Monaten besiegt war. Verhältnismäßig lange dauerte mit knapp zwei Monaten da schon das „Unternehmen Weserübung“, wie der Überfall der deutschen Wehrmacht auf Norwegen und Dänemark im Frühjahr 1940 mit Decknamen hieß. Ende des Jahres war so nahezu ganz Kontinentaleuropa in deutscher Hand und Hitler innen- wie außenpolitisch auf dem Höhepunkt seiner Macht.
Angriff auf Stalingrad soll die Entscheidung bringen
Zwei Jahre später – Ende August 1942 – war Stalins Rote Armee auch nach über einem Jahr noch nicht geschlagen. Das als Blitzkrieg angelegte „Unternehmen Barbarossa“ geriet im Herbst des Vorjahres vor den Toren Moskaus im russischen Dauerregen nachhaltig ins Stocken. Zum ersten Mal gelang es der Wehrmacht nicht, einen raschen Sieg auf dem Schlachtfeld herbeizuführen. Das sollte sich nun mit einer zweiten Sommeroffensive ändern. Ihr Ziel: Die nach Hitlers Widersacher Stalin benannte und sowohl industriell als auch symbolisch bedeutsame Stadt Stalingrad an der Wolga. Die gesamte Heeresgruppe B, darunter die berühmte 6. Armee unter ihrem General Friedrich Paulus, alles in allem etwa 850.000 Mann schickt Hitler in den Kampf. Ihnen gegenüber standen am Ende wohl knapp doppelt so viele sowjetische Soldaten. Bald schon entwickelt sich die Schlacht in der von der deutschen Luftwaffe rücksichtslos zerbombten Stadt, in der sich zu Beginn noch hunderttausende Zivilisten befinden zum ebenso erbitterten wie zermürbenden Häuser- und Straßenkampf. Um jedes Haus, jede Gasse, jedes Zimmer, jedes Kellerloch und jede Fabrikhalle wird erbarmungslos gerungen. Teilweise wechselt manch besonders umkämpftes Gebäude – bspw. der Stalingrader Bahnhof – an nur einem einzigen Tag mehrmals ihren Besitzer. Nachdem die deutschen Angreifer zunächst einen Großteil der Stadtbezirke unter ihre Kontrolle bringen und bis an die Ufer der Wolga vorrücken konnten, werden in Folge einer großangelegten sowjetischen Gegenoffensive ab November 1942 rund 300.000 von ihnen in der Stadt eingekesselt.
Deutsche Niederlage als Kriegswende
Anstatt allerdings den eingeschlossenen Truppen den Rückzug und den Ausbruch aus dem Kessel zu befehlen, ordnet Hitler an, um jeden Preis in der Stadt auszuharren. Er zieht es vor, eine ganze Armee zu opfern, statt sich der Schande des Rückzugs preiszugeben.
Anfang Februar 1943 liegen dann insgesamt mehr als eine halbe Million Soldaten verbündeter italienischer und rumänischer Armeen tot in den Ruinen Stalingrads. Alleine im Kessel erfroren, verhungerten oder starben bei Kampfhandlungen zudem etwa 150.000 Deutsche. Und von den mehr als hunderttausend Soldaten in Gefangenschaft, kehrten nach dem Krieg nur etwa 5% lebend wieder in ihre Heimat zurück.
Den Verlust einer ganzen Armee in Stalingrad konnte die Wehrmacht in der Folge zu keinem Zeitpunkt mehr weder quantitativ noch qualitativ aufwiegen. Das Heft des Handelns und mithin die Initiative an der Ostfront sollte von Stalingrad an bis zur bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht 1945 fest in sowjetischer Hand verbleiben.
Reaktionen auf Stalingrad: Studenten stehen auf?
Väter, die ihre Kinder nie mehr wiedersahen, Ehemänner, die ihre Frau nie wieder in den Arm nehmen konnten, Söhne, die nie mehr zu ihren Eltern zurückkehrten, junge Männer, die ihre Verlobte nie mehr zur Frau nehmen und Studenten, die nie wieder eine Universität von innen sehen würden. Hunderttausende ausgelöschte Leben für nichts und wieder nichts als den blinden Fanatismus eines Mannes, dem starres Dogma und Ideologie stets wichtiger als militärische Vernunft und Humanität waren.
Nur vier junge Medizinstudenten und eine Biologie- und Philosophiestudentin aus München wollten dabei nicht weiter tatenlos zusehen. Und so wurde die deutsche Niederlage in Stalingrad zu einem entscheidenden Wendepunkt nicht nur für den weiteren Kriegsverlauf. Bereits ein knappes halbes Jahr zuvor begann die im engsten Kern fünfköpfige Gruppe ihr Engagement gegen das sinnlose Sterben an der Ostfront und den diktatorischen NS-Staat. Die Rede ist von den Geschwistern Hans und Sophie Scholl, von Alexander Schmorell, Willi Graf und Christoph Probst, die Rede ist von der Weißen Rose. Die studentische Widerstandsgruppe, die mutig im Namen der überzeitlichen Ideale von Zivilcourage, Humanismus und Freiheit Anklage erhob, intensivierte nach Bekanntwerden der Zerschlagung der 6. Armee ihre aktivistischen Anstrengungen.
Wäre Stefan Zweig nicht ein knappes Jahr zuvor im brasilianischen Petrópolis freiwillig aus dem Leben geschieden, er wäre nicht überrascht gewesen. In seinem 1936 veröffentlichten Werk „Castellio gegen Calvin oder ein Gewissen gegen die Gewalt“, in dem er – dessen Bücher in Deutschland seit 1933 verboten waren – mit der Geschichte des einsamen und rein intellektuellen Kampfes des Humanisten Sebastian Castellios gegen den despotischen Genfer Reformator Jehan Calvin seine Kritik am Nationalsozialismus verschlüsselte, schreibt er auf der letzten Seite: „(…) mit jedem neuen Menschen wird ein neues Gewissen geboren und immer wird eines sich besinnen seiner geistigen Pflicht, den alten Kampf aufzunehmen um die unveräußerlichen Rechte der Menschheit und der Menschlichkeit, immer wieder wird ein Castellio aufstehen gegen jeden Calvin und die souveräne Selbständigkeit der Gesinnung verteidigen gegen alle Gewalten der Gewalt.“ Es kann kein Zweifel daran bestehen: Eben wie Castellio gegen Calvin im 16. Jahrhundert, so verteidigt auch die Weiße Rose in der der NS-Zeit einsam die „Idee aller Ideen“, die Idee der geistigen Freiheit.
In drei Nacht- und Nebelaktionen Anfang Februar 1943 bringen so Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf, die zusammen als sogenannte „Hilfsärzte“ die brutale Realität an der Ostfront erlebt haben, an Münchener Mauern und Hauswänden Freiheitsparolen an. An den Eingang des Universitätsgebäudes schreiben sie am 4. und am 9. Februar 1943 mit schwarzer Teerfarbe in großen Buchstaben mehrmals „Freiheit“ und „Nieder mit Hitler“. An mehreren Gebäuden am Marienplatz und am Viktualienmarkt sind zudem am 16. Februar die Aufschrift „Massenmörder Hitler“ und durchgestrichene Hakenkreuze zu sehen. Insgesamt an etwa 30 Fassaden prangen in dieser Nacht die Parolen der Weißen Rose.
Daneben gab die vernichtende Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad auch Anlass für das bereits sechste Flugblatt der Weißen Rose. Über Helmuth von Moltke, den Begründer der Widerstandsgruppe des Kreisauer Kreises gelangte dieses Flugblatt bis nach England und wurde Ende 1943 unter dem Titel „Ein deutsches Flugblatt – Manifest der Münchner Studenten“ hunderttausendfach aus Flugzeugen der Royal Air Force über Deutschland abgeworfen.
Darin heißt es einleitend an ihre deutschen Kommilitonen gerichtet: „Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir! Es gärt im deutschen Volk: Wollen wir weiter einem Dilettanten das Schicksal unserer Armeen anvertrauen? Wollen wir den niedrigen Machtinstinkten einer Parteiclique den Rest der deutschen Jugend opfern? Nimmermehr.“ Und weiter: „Im Namen der ganzen deutschen Jugend fordern wir von dem Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut des Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen hat. (…) Freiheit und Ehre! Zehn lange Jahre haben Hitler und seine Genossen die beiden herrlichen deutschen Worte bis zum Ekel ausgequetscht, abgedroschen, verdreht, wie es nur Dilettanten vermögen, die die höchsten Werte einer Nation vor die Säue werfen. Was ihnen Freiheit und Ehre gilt, haben sie in zehn Jahren der Zerstörung aller materiellen und geistigen Freiheit, aller sittlichen Substanz im deutschen Volk genugsam gezeigt. Auch dem dümmsten Deutschen hat das furchtbare Blutbad die Augen geöffnet, das sie im Namen von Freiheit und Ehre der deutschen Nation in ganz Europa angerichtet haben und täglich neu an richten.“ Am Ende ihres denkwürdigen Appels für persönliche und Meinungsfreiheit, Wissenschaftlichkeit und Widerstand gegen den NS-Terror rekurrieren sie dann erneut auf Stalingrad: „Beresina und Stalingrad flammen im Osten auf, die Toten von Stalingrad beschwören uns! (…) Unser Volk steht im Aufbruch gegen die Verknechtung Europas durch den Nationalsozialismus, im neuen gläubigen Durchbruch von Freiheit und Ehre!“
Der 18. Februar 1943: Deutsche Sternstunde und deutscher Abgrund
Heute vor genau 80 Jahren ereignete sich dann in den Gemäuern der Ludwigs-Maximilians-Universität etwas, das Stefan Zweig wahrscheinlich mit Recht als eine Sternstunde der Menschheit bezeichnet hätte.
Kurz vor 11 Uhr betreten die Geschwister Scholl durch den Haupteingang die Universität. Beide tragen mehrere hundert Exemplare des besagten sechsten Flugblattes bei sich, die sie stoßweise vor den noch geschlossenen Hörsälen und auf den Gängen auslegen. Als sie bereits dabei sind, das Gebäude über den Ausgang an der Amalienstraße zu verlassen, entscheiden sich die Beiden spontan und vielleicht berauscht an der eigenen Courage dazu, noch einmal umzukehren. Im zweiten Stock angekommen, wirft Sophie im Wissen, sich damit in Lebensgefahr zu begeben, die restlichen Flugblätter über die Brüstung. Für einen Moment, einen kurzen Augenblick liegt im Lichthof der altehrwürdigen Ludwigs-Maximilians-Universität wortwörtlich Freiheit in der Luft. Doch nur allzu kurz währt diese denkwürdige Sternstunde, dieser gerade ob seiner Aussichtslosigkeit bis heute leuchtende Versuch mit der bloßen Kraft des Geistes der Allmacht des Terrors und der Diktatur entgegenzutreten. Doch das die ewige Bestimmung derjenigen, die als einzelne den Ungeist ihrer Zeit anprangern, doch das das tragische Schicksal aller einsamen Helden: Am Ende sind sie Vorboten einer kommenden Zeit, aber in ihren Leben scheitern sie.
Noch bevor das letzte Flugblatt auf den Marmorboden des Lichthofes niedergesunken ist, werden die Geschwister Scholl vom Hausmeister und Hörsaaldiener Jakob Schmid beobachtet, dann festgesetzt und schließlich der Gestapo übergeben. Am selben Tag noch beginnen die Vernehmungen. Schon am 22. Februar 1943 werden Christoph Probst und Sophie und Hans Scholl vom Volksgerichtshof wegen „landesverräterischer Feindbegünstigung, Vorbereitung zum Hochverrat und Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt. Die Urteile werden noch am selben Tag im Gefängnis München-Stadelheim mit dem Fallbeil vollstreckt. Die letzten Worte Hans Scholls sind: „Es lebe die Freiheit!“
Die andere Reaktion auf Stalingrad: Goebbels Sportpalastrede
Während die Scholls noch in der Münchener Gestapo-Zentrale im Wittelsbacher Palais vernommen werden, tritt im vollbesetzten Berliner Sportpalast ein anderer ehemaliger Student der Ludwigs-Maximilians-Universität ans Rednerpult. Joseph Goebbels, einst während des Wintersemesters 1919/20 in München immatrikuliert und mittlerweile Reichspropagandaminister im NS-Staat hält dort vor eigens ausgewähltem, besonders regimetreuen Publikum eine beinahe zweistündige Rede. Über ihm prangt dabei ein riesenhaftes Transparent, auf dem in Großbuchstaben steht: „Totaler Krieg – Kürzester Krieg“.
Diese Rede, die zeitgleich über alle deutschen Rundfunksender ausgestrahlt wurde, sollte das Vertrauen zur nationalsozialistischen Führung wiederherstellen, obwohl sich Goebbels selbst wohl keine Illusionen mehr über den „Endsieg“ machte. Der Text wurde von ihm mehrfach redigiert; er selbst hielt ihn für ein rhetorisches Glanzstück. In einer Tagebuchnotiz schreibt er mit Blick auf seine Rede im Berliner Sportpalast: „Wenn ich den Leuten gesagt hätte, springt aus dem dritten Stock des Columbushauses, sie hätten es auch getan.“ Ebenso wie für das sechste Flugblatt der Weißen Rose, sind auch für Goebbels die Vorgänge rund um Stalingrad im Frühjahr 1943 und die damit offen zu Tage tretende Sinnlosigkeit einer Weiterführung des Krieges Anlass der Rede. Freilich zieht er aus den militärischen Tatsachen gänzlich andere Schlüsse als die Mitglieder der Weißen Rose: Er fordert nicht die Beendigung, sondern ganz im Gegenteil, die Intensivierung und Totalisierung des Krieges.
Berühmt geworden ist vor allem der Schlussteil der Rede, in dem er dem Publikum zehn rhetorische Fragen stellte. „Wollt ihr den totalen Krieg?“, fragte er und die anwesende 15.000 Zuschauer sprangen von ihren Sitzen auf und schrien begeistert: „Ja!“ Goebbels setzte nach: „Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt vorstellen können?“ Und wieder tobte der Saal – Szenen exzessiver Massenhysterie. Noch 20 Minuten blieb der Großdeutsche Rundfunk auf Sendung, um die Radiohörer an der euphorischen Stimmung teilhaben zu lassen. Wieder einmal hat Stefan Zweig in seiner unnachahmlichen, beinahe prophetischen Art und Weise Recht behalten: „Millionen sind wie in einer Bezauberung bereit, sich nehmen, befruchten, ja vergewaltigen zu lassen, und je mehr ein solcher Verkünder und Versprecher von ihnen fordert, desto mehr sind sie ihm verfallen“, schreibt er bereits 1936.
Goebbels forderte im Sportpalast totale Opferbereitschaft und die völlige Unterordnung aller „Volksgenossen“ unter das Ziel des Endsiegs, hetzte die geradezu ekstatischen Zuhörer gegen äußere und innere Feinde auf, die „mitten im Krieg Frieden spielen und die Not des Volkes zu eigensüchtigen Zwecken ausnutzen wollen“ und beschwor die bolschewistische Bedrohung. Nach rund 108 Minuten schloss er dann mit den Worten: „Der Führer hat befohlen, wir werden ihm folgen. Wenn wir je treu und unverbrüchlich an den Sieg geglaubt haben, dann in dieser Stunde der nationalen Besinnung und der inneren Aufrichtung. Wir sehen ihn greifbar nahe vor uns liegen; wir müssen nur zufassen. Wir müssen nur die Entschlusskraft aufbringen, alles seinem Dienst unterzuordnen. Das ist das Gebot der Stunde. Und darum lautet von jetzt ab die Parole: Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!“
Anstatt einem schnellen Endsieg folgten allerdings noch die mit Abstand verlustreichsten zwei Kriegsjahre, in denen der Krieg zunehmend auf seinen Verursacher zurückfiel und an dessen Ende Deutschlands Städte einem einzigen Trümmerfeld glichen.
Am Ende steht daher die klare Erkenntnis: Totaler Krieg ist nicht der kürzeste, er ist nur der menschenverachtendste Krieg. Totaler Krieg bedeutet vor allem totale Zerstörung und totale Gleichgültigkeit gegenüber dem Eigenwert zivilen menschlichen Lebens. Und Kriege, seien es nun totale oder nicht, haben doch immer eines gemeinsam: Sie bringen nur das Schlechteste im Menschen hervor.
Ein sehr guter und konzentrierter Abriss der damaligen Geschehnisse.
Ich denke, dass unsere Politik und insbesondere unsere Außenpolitik genau in diese Richtung geht. Diplomatie ist leider nicht mehr angesagt.