Von der Akropolis und Ruinen deutscher Lebensfreude

Von Jonas Kürsch | Als ich bei meiner ersten Post-Corona-Reise nach Athen reisen und mit absoluter Begeisterung erstmalig die Akropolis besuchen durfte, musste ich voller Erschrecken feststellen, dass Deutschland sich nach der Pandemie in einem wesentlich desolateren Zustand befindet als viele seiner Nachbarn. Denn das deutsche Kulturgefühl und die deutsche Freude am Leben sind, vor allem im Kontrast zu vielen anderen Ländern Europas, fast gänzlich verloren gegangen.
Die Ästhetik des Alltags
Schon auf den ersten Blick war ich von der Akropolis schwer fasziniert. Besonders ihre viel gepriesene Ästhetik beeindruckte mich zutiefst. Doch anders als die meisten Menschen verbinde ich mit der Akropolis nicht nur die Geschichte des antiken Griechenlands: für mich ist das Monument auch auf sehr skurrile Art und Weise mit Deutschland und unserer jüngeren Geschichte verbunden. Denn wann immer jemand die Akropolis auch nur zu erwähnen gedenkt, habe ich sogleich die legendäre Anfangssequenz des weltberühmten deutschen Films „Olympia – Fest der Völker“ vor Augen, der während der olympischen Spiele in Berlin 1936 von der umstrittenen Filmemacherin Leni Riefenstahl gedreht wurde.
In Anlehnung an die antiken olympischen Spiele eröffnet Riefenstahl ihren Kunstfilm mit einigen imposanten Aufnahmen der Athener Ruine. Sie zeigt die hohen Säulen der Akropolis und blendet dazu die idealisierten Statuen von griechischen Götzenbildern über das alte Bauwerk ein. Die Statuen verwandeln sich dann im Übergang von der einen auf die andere Szene mit damals völlig unvergleichbaren Effekten in die Berliner Olympiaathleten, die in statischen Sportlerposen beim Diskuswerfen oder Hochsprung verewigt wurden.
Die dargestellten Motive bilden einen hochinteressanten und in vielerlei Hinsicht auch heute noch aktuellen Kontrast zwischen dem deutschen Wunsch- und Selbstbild einer romantischen Alltagsästhetik sowie der erschütternden Realität des Landes. Schon damals, in dieser grässlichsten Zeit der Deutschen, schien der Wunsch nach körperlicher, geistiger und kultureller Schönheit größer zu sein als je zuvor. Dieses Schönheitsverständnis entspringt der römisch-griechischen Lebensphilosophie und ist eine starke Inspiration für die Renaissance gewesen. Die Deutschen haben diese Werte vollständig aus dem Auge verloren und widmen sich heute eher plakativer Pseudomoral anstelle von wirklich ästhetischen Dingen.
Die Innenstadt Athens wirkte durch die Wirtschafts- und Finanzkrisen der vergangenen Jahre schwer angeschlagen, das möchte ich hier nicht unerwähnt lassen. Viele Geschäfte stehen leer und auch die deutlichen Auswüchse der steigenden Obdachlosigkeit zeigen sich auf den Straßen (obgleich auch nicht in einer derartig drastischen Entwicklung, wie ich sie im Ruhrgebiet wahrnehmen muss). Dennoch merkt man den Griechen eine gewisse Leichtigkeit und Lebenslust an, die in Deutschland völlig verloren gegangen ist. Hier ist es noch möglich in lachende, ausdrucksstarke Gesichter zu blicken, während die Deutschen immer grauer und immer erschöpfter aussehen.
Man erkennt bei vielen Südländern – also auch den Italienern und Spaniern – eine grundsätzliche und ehrliche Verehrung ihrer Kultur und ihres eigenen Lebensstils, die ich als unglaublich befreiend empfinde. Die Menschen gehen mit großem Selbstbewusstsein und einer tiefen Verbundenheit zu ihrer freiheitlich und westlich geprägten Identität an die Herausforderungen des Alltags. Diese Selbstachtung schafft ein ästhetisches und harmonisches Gesamtbild, das selbst den Dreck in manchen Athener Stadtbezirken charmanter erscheinen lässt als den von resignierten Junkies okkupierten Theaterplatz meiner Krefelder Heimatstadt.
Rebellionswille als nationales Kulturgut
Im Anschluss an meinen Griechenlandbesuch konnte ich noch für einige Tage nach London reisen und dort die aufgeklärte, demokratische Kultur Großbritanniens genießen. Es ist nicht schwer festzustellen, dass den Engländern die Rebellion einfach in die Wiege gelegt zu sein scheint. Ganz egal, wo man hinschaut, die Briten behalten sich auch in Tagen von Black Lives Matter und anderen PC-Bewegungen ihr Recht vor, ihren altbekannten politisch inkorrekten Humor auszuleben. Hier kann man sich noch immer an dem legendären Kultmusical „The Rocky Horror Show“ erfreuen, in dem ein transsexueller, außerirdischer Wissenschaftler mit mörderischem Größenwahn an der Schöpfung des perfekten Liebhabers arbeitet, ohne einen Vortrag der grünen Genderlobby über die „Diskriminierung der LGBTQI*+-Community“ befürchten zu müssen. Hier ist es noch möglich, den einfachen und ungezwungenen Menschen in England dabei zuzuhören, wie sie Liz Truss, die freiheitliche und stark von Margaret Thatcher inspirierte Anwärterin auf das Amt des konservativen Parteivorsitzes, für ihre zentrale Forderung nach großen Steuersenkungen sowie ihren Plan zur konsequenten Bekämpfung illegaler Immigration lautstark loben, ohne dabei von grünen Social-Justice-Warriors in aller Öffentlichkeit als Nazi diffamiert zu werden.
Großbritannien beweist mir auch in diesem Jahr wieder, dass es der europäische Nukleus für kulturelle Freiheit und demokratische Debattenführung ist. Das spiegelt sich gerade auch am West End wieder: in diesem Sommer kehrte das russische Theaterstück „Die Möwe“ von Anton Tschechow auf die Bühnen der britischen Hauptstadt zurück. Eine linksliberale Scheindebatte darüber, ob es ethisch vertretbar sei, russisches Kulturgut in Zeiten des Ukrainekriegs der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, gab es hier nicht. Stattdessen erfreute man sich einfach an der hohen Schreibkunst Tschechows.
Man kann durchaus sagen, dass London und die Briten in vielerlei Hinsicht das erreicht haben, was die Deutschen immer wieder vorgeben zu sein: es ist ein Ort von wahrhaftiger künstlerischer, politischer, gesellschaftlicher und kultureller Vielfalt. Anders als Berlin oder Köln müssen die Briten sich dabei aber nicht hinter einer ideologisch-woken und heuchlerischen Regenbogenmentalität verstecken. Den Briten ist die schöpferische Kreativität während der Coronazeit nämlich keineswegs abhanden gekommen.
Mit einem erfrischenden Willen zur Rebellion und einem ebenso großen Respekt vor der eigenen Kultur, wie die Südeuropäer ihn an den Tag legen, haben die Bürger des vereinigten Königreichs schon so manche geschichtsträchtige Krise gut überwunden. Bei den Deutschen hingegen zeigt sich im Antlitz des langsam wieder zurückkehrenden Coronawahns immer mehr, dass der preußische Philosoph Friedrich Nietzsche mit seinem harten Urteil über die eigenen Landsleute nicht ganz falsch lag: der Deutsche wäre der beste Hegelianer, selbst wenn es Hegel nie gegeben hätte. Will heißen: die Deutschen würden die Selbstunterdrückung selbst dann wählen, wenn es niemanden gäbe, der sie unterdrücken könnte.
Die Deutschen müssen ihr kulturelles Selbstverständnis verändern
Meine langersehnten Reisen in diesem Sommer haben das bestätigt, was ich ohnehin schon lange vermutet habe: die Deutschen zerstören mit ihrem Kurs der kulturellen Selbstgeißelung und Selbstvernichtung die eigene Lebensfreude. Wenn die Politik die Verachtung unserer eigenen Werte sowie die Ablehnung unserer eigenen Kultur weiterhin als neue deutsche Tugend verklärt, wird Deutschland auf einen Pfad der absoluten Identitätslosigkeit geführt, der unserem Land massiv schadet. Es kann nicht sein, dass wir eine Bundestagsvizepräsidentin Özoguz (SPD) dulden, die in der Vergangenheit mehrmals behauptete, es gebe neben der Sprache keine nennenswerten deutschen Kulturbeiträge. Und es darf nicht akzeptiert werden, dass das Amt der Innenministerin von einer Dame bekleidet wird (ebenfalls von der SPD), die den Heimatbegriff erst positiv umdeuten lassen muss, um damit überhaupt etwas anfangen zu können. Gleiches gilt für einen Wirtschaftsminister Habeck (B’90/Die Grünen), der Vaterlandsliebe stets „zum Kotzen“ fand.
Mit dieser nihilistischen Geisteshaltung wird man lebensfrohe Staatsbürger ins Ausland vertreiben. Schon jetzt werden immer mehr Leistungsträger zu Flüchtlingen der deutschen „Transformationspolitik“ unserer kulturfremden Ampelregierung. Ich befürchte, dass sich dieser Trend in den nächsten Jahren noch weiter verschärfen und Deutschland letztlich an seine sozialen und wirtschaftspolitischen Kapazitätsgrenzen führen wird. Gerade auch in meiner Generation entwickelt sich eine zunehmende Abneigung gegen die deutsche Identität, die ihren Ursprung nicht etwa in der Ablehnung unserer deutschen Literatur, Musik, Kunst, Philosophie oder Geschichte findet, sondern in einer frustrierten Enttäuschung über den politischen und kulturellen Totalitarismus, der unser Land in seinen Bann gezogen hat.
Gut beschrieben wurden diese Entwicklungen bereits im August 2019 durch den chinesischen Dissidenten und Performance-Künstler Ai Weiwei, der seinen Exilwohnsitz von Berlin nach London verlegte und die deutsche Mentalität mit der chinesischen Autoritätshörigkeit verglich: „Es ist eine Kultur, die offen sein möchte, aber vor allem sich selbst beschützt. (…) Es gibt kaum Raum für offene Debatten, kaum Respekt für abweichende Stimmen.“ Dieses Zitat stammt wohlgemerkt aus einer Zeit, in der das Coronavirus noch gar nicht existierte. Schon damals sah er in Deutschland ein Land, dessen nationale Psyche „intolerant, bigott und autoritär“ (seine Worte, nicht meine!) geprägt sei. Den Deutschen gefalle, so Weiwei, die Bequemlichkeit der Unterdrückung so gut, wie noch nie zuvor. Vor allem zum Schutz seines jungen Sohnes, den er nicht in einer Gesellschaft des neuaufkeimenden „Nazismus“ aufwachsen sehen wollte, kehrte Weiwei unserem Land den Rücken.
Die Deutschen empörten sich über diese Aussagen und die heiß geliebten „unabhängigen Faktenchecker“ widerlegten prompt die Stellungnahme des Künstlers mit altdeutscher Effizienz, aber eine echte, gesellschaftliche Debatte gab es über dieses tiefsitzende Problem nicht – wer würde es schon wagen, das eigene Selbstbild des „besten Deutschlands, das es jemals gab“ infrage zu stellen?
Daher wird es Zeit, dass wir jetzt eine breite, öffentliche Diskussion über die kulturelle Selbstwahrnehmung in unserem Land führen: denn kein Mensch kann in der Lage sein, das eigene Heimatland zu lieben, wenn es sich selbst im Kern so sehr verachtet!
„Ein Mensch, der sich selbst nicht achtet, kann auch nichts und niemanden anderes achten.“ – Ayn Rand
Sehr treffender Beitrag!
Ich plane das immer totalitärer werdende „beste Deutschland, das es jemals gab“ diesen Winter in freiheitlichere Gegenden ohne selbstverschuldeten Energiemangel und Maskenpflicht einzutauschen. Vielleicht wird auch ein längeres Verlegen des Lebensmittelpunktes daraus, ich bin da offen.