„Wider den undeutschen Geist“ – 90 Jahre Bücherverbrennung

Von Marius Marx | In der Nacht vom 18. auf den 19. Februar diesen Jahres spielten sich in Berlin-Mitte für Unkundige mehr als außergewöhnliche Szenen ab. Auf dem Bebelplatz im Zentrum der Hauptstadt hatten sich mehrere hundert, wenn nicht sogar tausende Menschen eingefunden. Von 20 Uhr abends bis 6 Uhr früh war zudem die angrenzende Prachtmeile Unter den Linden zwischen Friedrichstraße und Spandauer Straße für den Autoverkehr gesperrt. Und auch der Bebelplatz selbst war mit blickdichten Zäunen vor neugierigen Augen abgeschirmt. Nichts, was in dieser Nacht auf dem Berliner Bebelplatz vor sich ging, sollte nach außen dringen. Was Zäune im Gegensatz zu Blicken jedoch nicht aufhalten können, das sind Rauchschwaden und verdächtige Geräusche. Wer sich als Passant in jener Nacht zufällig zwischen Museumsinsel und Brandenburger Tor herumtrieb, konnte bei günstigem Wind so durchaus einige merkwürdig anmutende Wortfetzen wie „Heil“-Rufe erhaschen und sich über Rauch und Aschepartikel in der Luft wundern. Und wer am Abend des 18. Februars 2023, einem Samstag, die Berliner Staatsoper besuchte, um dort der Oper Samson et Dalila des französischen Romantikers Camille Saint-Saëns beizuwohnen und aus dem altehrwürdigen Operngebäude einen flüchtigen Blick auf den Bebelplatz wagte, der traute vermutlich einem kurzen Augenblick lang seiner Wahrnehmung nicht. Marschierten dort unten gerade hunderte SA- und SS-Männer, Schutzpolizisten in veralteten Uniformen, Mitglieder des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes und anachronistisch gekleidete Zivilisten auf? Und was taten sie da? Warfen sie, begleitet von patriotischen Parolen und hetzerischen Reden, tatsächlich Unmengen historischer Bücher auf einen entzündeten Scheiterhaufen, dessen Flammen sich meterhoch in den Berliner Nachthimmel emporzüngelten? Ja, wirklich. All dies trug sich dort vor ihren Augen zu. Eine anfängliche Beunruhigung in ihren Gesichtern mag aber bald schon einem verständnisvollen Interesse gewichen sein. Denn – unmöglich zu übersehen – realisierten sie wahrscheinlich rasch, wessen sie hier unvermutet Zeuge geworden waren. Hier ereignete sich kein historischer Augenblick, hier wurde am historischen Ort Geschichte nachgespielt. Bücher, Feuer, Rauch und Menschen waren zwar „echt“, bei Letzteren handelte es sich jedoch um hunderte Komparsen und Statisten – unter ihnen einer meiner Mitbewohner -, die dort im Rahmen eines neuen Filmprojektes die Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz (dem heutigen Bebelplatz) detailreich und aufwendig inszenierten. 

Heute nun, am 10. Mai, jährt sich dieser beschämende Schandfleck in der deutschen Geschichte zum 90. Mal. Anlass genug für einen Rückblick:

 

„Gesamtaktion gegen den jüdischen Zersetzungsgeist“

 

Im April 1933 startete die Deutsche Studentenschaft unter Führung des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes die „Aktion wider den undeutschen Geist“. Nur wenige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten sollte damit eine Wende in Richtung nationalsozialistischer Erziehung eingeleitet werden. Gleichzeitig markierte die Kampagne den Beginn der systematischen Verfolgung jüdischer, oppositioneller oder sonstiger politisch unliebsamer Schriftsteller und Autoren im Deutschen Reich.

In einem Rundschreiben vom 6. April an die jeweiligen studentischen Ortsgruppen heißt es dazu erläuternd: „Die Deutsche Studentenschaft plant anläßlich der schamlosen Gräuelhetze des Judentums im Ausland eine vierwöchige Gesamtaktion gegen den jüdischen Zersetzungsgeist und für volksbewußtes Denken und Fühlen im deutschen Schrifttum. Die Aktion beginnt am 12. April mit dem öffentlichen Anschlag von 12 Thesen ,Wider den undeutschen Geist’ und endet am 10. Mai mit öffentlichen Kundgebungen an allen deutschen Hochschulorten. Die Aktion wird – in ständiger Steigerung bis zum 10. Mai – mit allen Mitteln der Propaganda durchgeführt werden, wie: Rundfunk, Presse, Säulenanschlag, Flugblätter und Sonderartikeldienst der DSt-Akademischen Korrespondenz.“

 

Bücherverbrennungen als trauriger „Höhepunkt“

 

Den Höhepunkt dieser studentischen Aktion bildete am 10. Mai 1933 reichsweit die öffentlichkeitswirksame Verbrennung von Schriften verfemter und fortan indizierter „Schund- und Schmutz“-Autoren. Zu ihnen zählten, um nur einige zu nennen: Erich Kästner, Ernst Glaeser, Heinrich Mann, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky und Stefan Zweig.

Nachdem in den Vorwochen in Vorbereitung auf den 10. Mai an nahezu sämtlichen deutschen Universitäten bereits die „12 Thesen wider den undeutschen Geist“ plakatiert und kurz darauf überwiegend jüdische Professoren boykottiert und Werke verhasster Schriftsteller an sogenannte „Schandpfähle“ genagelt wurden, wurde im unmittelbaren Vorfeld der Bücherverbrennung von überall her – aus privaten, städtischen und Universitätsbibliotheken sowie Buchhandlungen – auf Grundlage „schwarzer Listen“ massenhaft „zersetzendes Schrifttum“ zusammengerafft. Tags zuvor, am 9. Mai, wurden wiederum per Rundschreiben die sogenannten „Feuersprüche“, die während der Durchführung rezitiert werden sollten, versandt. 

Dabei handelte es sich um eine Abfolge von insgesamt neun Parolen, die landesweit bei den Bücherverbrennungen ertönen sollten. Beispielsweise hieß es dort dann: „Gegen Gesinnungslumperei und politischen Verrat, für Hingabe an Volk und Staat! Ich übergebe der Flammen die Schriften von Friedrich Wilhelm Foerster.“

 

Am 10. Mai selbst fanden die Vorbereitungen dann tagsüber mit dem Aufschichten der Scheiterhaufen ihren Abschluss. Der Ablauf des Abends folgte allerorten einem zentralen – man könnte auch sagen: Gleichgeschalteten – Ablaufplan und begann zwischen 20:30 und 22:00 Uhr mit Kundgebungen im Auditorium der jeweiligen Hochschule. Von dort setzten sich dann Fackelzüge in Bewegung, die die auserkorenen und angeblich unmoralisch-zersetzenden Werke zum vorgesehenen Ort der Bücherverbrennungen brachten. An diesem wurde zwischen 23 Uhr und Mitternacht der eigentliche „Verbrennungsakt“ nach einem penibel ausgearbeiteten Schema zelebriert.

Vom Berliner Opernplatz, auf dem Propagandaminister Joseph Goebbels um Mitternacht eine Rede hielt, berichtete der Deutschlandsender sogar live. Weitere Schauplätze dieser symbolischen „Reinigung“ von „zersetzender“ Literatur waren neben dem Berliner Opernplatz auch der Wilhelmsplatz in Kiel, der Greifswalder Marktplatz, die Bismarcksäule in Hannover, das Kaiser-Friedrich-Ufer in Hamburg, der Adolf-Hitler-Platz in Göttingen (dem heutigen Albaniplatz im Osten der Altstadt) und zahlreiche zentrale öffentliche Plätz in über zwanzig weiteren deutschen Universitätsstädten. Reichsweit beteiligten sich rund 70.000 Menschen an der Aktion, die zum Teil noch bis in den Herbst hinein fortgeführt wurde. Viele Tausende mehr schauten tatenlos oder beteiligten sich gar frenetisch begeistert; etwa 25.000 Bücher verbrannten in dieser Nacht alleine in Berlin. Mit den Worten: „Hier ist der Deutschlandsender. Wir befinden uns auf dem Opernplatz, unter den Linden, Berlin. Die deutsche Studentenschaft, Kreis 10, verbrennt zur Stunde Schriften und Bücher der Unmoral und Zersetzung“ begann der Radiosender seine Live-Schalte. Überliefert sind zudem eine Reihe von Video- und Tonaufnahmen, Zeitzeugenberichten und schriftlichen Erinnerungen in Memoiren oder autobiografischen Werken.

 

Die Bücherverbrennung im Spiegel zeitgenössischer Beobachter

 

Als einziger der zahlreichen von nationalsozialistischen Studenten ins Fadenkreuz genommenen Autoren wohnte Erich Kästner den Ereignissen auf dem Berliner Opernplatz persönlich bei und musste dort mitansehen, wie seine Bücher in Flammen aufgingen. Im seinem Vorwort von „Bei Durchsicht meiner Bücher“ schreibt er mit Blick auf den 10. Mai: „Und im Jahre 1933 wurden meine Bücher in Berlin, auf dem großen Platz neben der Staatsoper, von einem gewissen Herrn Goebbels mit düster feierlichem Pomp verbrannt. Vierundzwanzig deutsche Schriftsteller, die symbolisch für immer ausgetilgt werden sollten, rief er triumphierend bei Namen. Ich war der einzige der Vierundzwanzig, der persönlich erschienen war, um dieser theatralischen Frechheit beizuwohnen. Ich stand vor der Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, den Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners. Begräbniswetter hing über der Stadt.“

 

Ähnlich eindrücklich wie beklemmend muten die Schilderungen ausländischer Korrespondenten an, die sich 1933 im Auftrag ihrer Zeitungen als Journalisten in der deutschen Reichshauptstadt aufhielten. Eine von ihnen war Stéphane Roussel. Sie war die erste französische Auslandskorrespondentin überhaupt und als solche für die Tageszeitung Le Matin in Berlin tätig. In ihrem Buch „Die Hügel von Berlin: Erinnerungen an Deutschland“ schildert sie ihre Beobachtungen jenes Tages: „Seit dem Nachmittag schaffen offene mit Büchern beladene Lastwagen aus allen Stadtteilen heran was sie an Büchern aus städtischen Bibliotheken und privaten Sammlungen holen konnten. Studenten schwenken Fahnen und singen im Chor Nazi Lieder.“ Ihr Kollege Antoni Graf Sobanski, seines Zeichens polnischer Reporter in Berlin beschrieb die makabre Szenerie folgendermaßen: „Die Polizei patrouillierte auf dem abgesperrten Platz. In der Mitte befand sich ein Scheiterhaufen. Auf einem speziell errichteten Podium standen Scheinwerfer, Filmkameras und Mikrofone. Dächer und Fenster der umliegenden Gebäude waren ebenfalls vom Publikum besetzt. Die Stimmung war heiter denn es ist ja Frühling. Studenten umringten den Stapel und warfen ihre Fackeln hinein. Die Musik spielte unentwegt weiter. Dann traten 20 Studenten vor. Jeder hatte ein Buch in der Hand und während er es ins Feuer warf, rief er gleichzeitig immer denselben Spruch. Die weißen Blätter der Bücher öffneten sich und flatterten von den Flammen beleuchtet wie Vögel herunter. Große Traurigkeit ergriff mein Herz. Ich trauerte um die Bücher als sterbende Gegenstände. Ich trauerte um das Volk, das diese Schande auf sich lud. Ich war beschämt als gaffender Ausländer Zeuge der Schande gewesen zu sein. Langsam erlosch das Feuer. Die Feuerwehr half mit Wasserspritzen nach und die Asche verwandelte sich in Schlamm.“

 

„Literatur (…) war wegrasiert“

 

Erkenntnisreiche Einblicke in den (Geistes-)Zustand Deutschlands im Frühjahr1933 bieten auch die Erinnerungen zweier herausragender deutschsprachiger Schriftsteller. Beim ersten von ihnen handelt es sich um Sebastian Haffner. Haffner, der nach dem Krieg und dem Exil in England berühmter Journalist in der BRD wurde, und zum Zeitpunkt der Bücherverbrennung Rechtsreferendar am Berliner Kammergericht war, schreibt 1939 aus dem Exil in seiner „Geschichte eines Deutschen: „Die symbolische Bücherverbrennung im Mai war eine Zeitungsnachricht gewesen, aber wirklich und unheimlich war, dass nun die Bücher aus den Buchhandlungen und Bibliotheken verschwanden. Die lebende deutsche Literatur, so gut oder schlecht sie nun sein mochte, war wegrasiert. Die Bücher des letzten Winters, zu denen man vor April noch nicht gekommen war, würde man nicht mehr lesen. Ein paar Autoren, die man aus irgendeinem Grunde geduldet hatte, standen einsam wie Kegelkönige im Leeren. Im Übrigen gab es nur die Klassiker – und eine plötzlich wild aufschießende Blut- und Bodenliteratur von entsetzlicher Qualität. Die Bücherfreunde – gewiss nur eine Minderheit in Deutschland, und, wie sie jetzt täglich hören durften, eine höchst unbeachtliche – sahen sich über Nacht ihrer Welt beraubt. Und da man sehr schnell begriffen hatte, dass jeder Beraubte obendrein Gefahr lief, bestraft zu werden, fühlten sie sich gleichzeitig sehr eingeschüchtert und schoben ihre Heinrich Manns und Feuchtwangers in die zweite Reihe des Bücherschranks; und wenn sie noch wagten sich über den letzten Joseph Roth oder Wassermann zu unterhalten, steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten wie Verschwörer.“

 

„Jenseits aller Fassbarkeit“

 

Bei dem Zweiten Schriftsteller handelt es sich um Stefan Zweig. Liest man in Zweigs „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers“ bekommt man einen geradezu plastischen Eindruck jener bestürzenden Fassungslosigkeit, die 1933 innerhalb humanistisch gebildeter, bürgerlich-liberal gesinnter Kreise gleichsam epidemische Ausmaße annahm. Völlig eingenommen von einer naiven Gutgläubigkeit an Rechtsstaat und Weltgewissen hielten breite Gesellschaftsschichten nicht für möglich, was nur wenige Wochen später bittere Realität sein sollte: „Man kann dreißig oder vierzig Jahre inneren Weltglaubens schwer abtun in einigen wenigen Wochen. Verankert in unseren Anschauungen des Rechts, glaubten wir an die Existenz eines deutschen, eines europäischen, eines Weltgewissens und waren überzeugt, es gebe ein Maß von Unmenschlichkeit, das sich selbst ein für allemal vor der Menschheit erledige.“ (…) „Sofort nach dem Reichstagsbrand sagte ich meinem Verleger, es werde nun bald vorbei sein mit meinen Büchern in Deutschland. Ich werde seine Verblüffung nicht vergessen. „Wer sollte Ihre Bücher verbieten?“ sagte er damals, 1933, noch ganz erstaunt. „Sie haben doch nie ein Wort gegen Deutschland geschrieben oder sich in Politik eingemengt.“ Man sieht: all die Ungeheuerlichkeiten, wie Bücherverbrennungen und Schandpfahlfeste, die wenige Monate später schon Fakten sein sollten, waren einen Monat nach Hitlers Machtergreifung selbst für weitdenkende Leute noch jenseits aller Fassbarkeit. (…) Nichts Genialeres hat Hitler geleistet als diese Taktik des langsamen Vorfühlens und immer stärkeren Steigerns gegen ein moralisch und bald auch militärisch immer schwächer werdendes Europa.“ (…) „Und die deutschen Studenten, froh jeder Gelegenheit, reaktionäre Gesinnung bekunden zu können, rotteten sich folgsam an jeder Universität zusammen, holten Exemplare unserer Bücher aus den Buchhandlungen und marschierten unter wehenden Fahnen mit dieser Beute auf einen öffentlichen Platz. Dort wurden die Bücher entweder nach altem deutschen Brauch – Mittelalter war mit einemmal Trumpf geworden – an den Schandpfahl, an den öffentlichen Pranger genagelt (…), oder sie wurden, da es leider nicht erlaubt war, Menschen zu verbrennen, auf großen Scheiterhaufen unter Rezitierung patriotischer Sprüche zu Asche verbrannt.“

 

Historische Lehren

 

Was Zweig hier mit einem zynischen Kommentar bedacht hat, nämlich, dass 1933 „nur“ Bücher und keine Menschen verbrannt wurden, sollte sich schon bald als Wink mit dem Zaunpfahl herausstellen: In der von ihm eigens beschrieben Salami-Taktik drehten die Nazis auch hier eifrig an der Eskalationsspirale. Denn das, was er das „Schicksal völliger literarischer Existenzvernichtung“ nennt, beschränkte sich bald nicht mehr nur auf die Textkorpora, sondern griff auch auf die physischen Körper der Schriftsteller über. Aus Verfemten und Verleumdeten wurden im „Dritten Reich“ auf diese Weise Verfolgte und Bedrohte. Viele der betroffenen Autoren befanden sich etwa zum Zeitpunkt der Verbrennung ihrer Werke bereits im Ausland, waren wie Carl von Ossietzky oder Erich Mühsam in KZs verschleppt oder traten bald den Weg in die Emigration an.

 

So kann der Satz, den Heinrich Heine über hundert Jahre zuvor in seinem „Almansor“ formulierte, als wahre Prophezeiung gelten: „Das war ein Vorspiel nur. Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“

 

 

 

Bildquelle: Immanuel Giel via Wikimedia Commons