Von Gysi zu Hayek – Die Geschichte einer ungewöhnlichen politischen Jugend, Teil II
Von Marius Marx | Mein Abitur habe ich 2020 gemacht. Wir – die Abschlussklasse von 2020 – waren der erste von bislang drei Corona-Jahrgängen. Und damit ein historischer: Als vermutlich erster Jahrgang in Friedenszeiten überhaupt blieben uns Mottowoche und Abi-Ball und damit ein würdiger Abschied von der Schule gänzlich verwehrt. Nur eine abgespeckte Zeugnisverleihung in kleinem Rahmen, wohlgemerkt mit recht willkürlicher Personenobergrenze, Mitte Juni war gerade noch so für uns drin. Mein Jahrgang verbrachte seine letzten Schulwochen nicht in fröhlich-sentimentaler Vorfreude auf das baldige Ende der gemeinsamen Zeit auf der Schulbank, sondern am heimischen Laptop. Wir lernten nicht wie dutzende Generationen vor und hoffentlich auch wieder nach uns miteinander für unsere Prüfungen, sondern jeder mehr oder weniger für sich allein, zu Haus in seinem stillen Kämmerlein: Die letzten zwei Wochen meiner Schullaufbahn fielen dem ersten allgemeinen Lockdown Mitte März 2020 zum Opfer.
Durch die ungeheure Anzahl, Intensität und Frequenz der Ereignisse in den letzten zweieinhalb Jahren mittlerweile überschattet und gleichsam vernebelt, erinnere ich mich nur noch vage an die letzten Unterrichtsstunden in meinem Leben. Die Meldung der beschlossenen Schulschließung erreichte uns jedenfalls an einem Freitagnachmittag. Es lief die letzte Unterrichtsstunde an diesem trist-trüben Märztag an der Stadtgrenze Berlins – wir hatten zum Leidwesen meiner Klasse Französisch -, da sickerte zu uns auf digitalem Wege die immer noch unglaubliche, aber gewissermaßen schon intuitiv erwartete Nachricht durch.
In einer bereits damals – sogar in der Regierungslogik – eigentlich himmelschreienden Unsinnigkeit wurde der Schulbetrieb allerdings nicht sofort eingestellt, sondern sollte noch den kommenden Montag und Dienstag fortdauern und erst ab Mittwoch ausgesetzt werden. Der noch unermesslichen viralen Gefahr trotzend, absolvierten wir also noch die letzten zwei Schultage in Präsenz und veranstalteten eine improvisierte zweitägige Mini-Mottowoche. Düster entsinne ich mich noch dem letzten Schul-Dienstag. Satirisches Motto des Tages war die Pandemie. So kamen wir dann mit Schutzanzügen, Hauben und Masken verkleidet in die Schule, amüsierten uns darüber und ahnten nicht, dass wir damit unserer Zeit nur wenige Wochen voraus waren. Nach der letzten Schulstunde versammelte sich die halbe Klasse vor dem Klassenzimmer und nahm vorläufig voneinander Abschied, dabei allerdings noch völlig gefangen in der gutmütigen wie naiven Annahme, unsere Welt und unser Leben würden nach zwei läppischen Wochen „flatten the curve“ wieder normal in den altbekannten Bahnen weiterlaufen.
Auch ich, damals noch gänzlich von einem Urvertrauen in die Autoritäten – Medien, Wissenschaft und Politik – eingenommen, war völlig überzeugt, dass es sich dabei nur um eine kurze, zwar bemerkenswerte, gleichwohl aber nicht weiter beachtenswerte Episode in unserem jugendlichen Dasein handeln würde. Und so verließen wir gutgläubig die Schule und bereiteten uns in der Quarantäne auf die anstehenden Prüfungen vor. Dort, bei uns zu Hause, begann die Stimmung mit Blick auf die „Bilder von Bergamo“ und die Geschehnisse in New York aber zunehmend nervöser zu werden. Diese Bilder im Hinterkopf, waren mein Bruder und ich Ende März noch unheimlich stolz und erleichtert, unsere Bundesregierung von einer Koryphäe wie Christian Drosten beraten zu wissen. Und so waren wir nicht nur froh, als Deutschland auf seinen Rat hin härteste Maßnahmen anordnete, sondern wünschten uns angesichts der Horrorbilder aus Italien und den USA insgeheim ein noch restriktiveres Vorgehen. Meiner Mutter, die im Krankenhaus arbeitet, befahlen wir, auf der Arbeit Maske zu tragen und sich dort im Umgang mit den Patienten so vorsichtig wie nur irgend möglich zu verhalten. Und in den Sozialen Medien lieferte ich mir in dieser Zeit die wildesten und emotionalsten Diskussionen mit „Coronaverharmlosern“. Auch meinem Vater trichterten wir unduldsam ein, auf Arbeit und beim Einkaufen aufzupassen, geisterten doch zu dieser Zeit die wildesten Prognosen, Hochrechnungen und zweistellige Sterblichkeitsraten unter Erwachsenen durch die Medien.
Einzige Beruhigung in dieser Zeit war mir ein geradezu patriotischer Glauben an die vermeintliche Überlegenheit der deutschen Wissenschaftler, allen voran Christian Drosten, die Deutschland – follow the science – schon besser als alle anderen Nationen durch diese verrückte Zeit bringen würden. Und wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich wirklich nicht, ob ich eigenständig jemals das Vermögen und den Mut aufgebracht hätte, dieses Weltbild anzuzweifeln. Aber im Laufe des Aprils, als die erste Panik- und Horrorwelle langsam im Abflachen begriffen war, wollte mein Bruder, Physik-, Mathe- und Statistikass in Personalunion, nicht mehr glauben, nicht mehr den Autoritäten blind vertrauen, nicht mehr spekulieren und vermuten – nein, er wollte endlich selber wissen.
Aufbauend auf den damals kursierenden Zahlen stellte er eigene Analysen, Modelle und Prognosen an. Das Problem: Keine davon ist in der Realität jemals eingetroffen. Als in New York irgendwann die Testpositivenrate die 20%-Marke überstieg, hätten bei zweistelligen Sterblichkeitsraten eigentlich alleine in den folgenden Tagen zehn-, ja hunderttausende dahinraffen müssen. Schon prognostizierte auch er ein beispielloses Massensterben und verzweifelte beinahe an der Tatsache, dass noch immer Flüge von den USA nach Berlin gingen. Als dann aber überall die tatsächlichen Todeszahlen um mehrere Größenordnungen unter den vorher von ihm und allen anderen in der allgemeinen Panik erwarteten Horrorszenarien zurückblieben, bemerkte er, dass irgendetwas Grobes nicht stimmen konnte. Damit konfrontierte er mich, der an diesen Apriltagen 2020 noch an die Unfehlbarkeit der Experten glaubte, und ich versuchte diese unwiderlegbaren Tatsachen zu widerlegen, um mein Weltbild aufrechtzuerhalten. Nur: es gelang mir nicht. Seine Beweisführung, seine Argumente waren zu entblößend, zu stichhaltig und offenkundig unwiderlegbar. Jeder Mensch, der sich diesen Tatsachen undogmatisch stellte, hätte das anerkennen müssen. Die einzig logische Schlussfolgerung, die man nämlich aus der enormen Diskrepanz von Prognosen und Wirklichkeit ziehen konnte, war die, dass sämtliche Horrorprognosen auf fundamental falschen Annahmen beruhten: Die offiziellen Zahlen mussten schlicht um Dimensionen falsch sein.
Bereits im April 2020 waren so für meinen Bruder und mich die wesentlichen Standbeine des Pandemienarrativs völlig klar und unzweifelhaft in sich zusammengebrochen. Und damals glaubten wir naiver Weise, dass dieser für uns offensichtliche Irrtum, dieses unglückliche Missgeschick bald auch von Journalisten und Wissenschaftlern bemerkt werden und die Regierung ihren Kurs daraufhin natürlich drastisch verändern würde. Aber zu unserer Verwunderung, ja zu unserem Entsetzen, geschah dann das exakte Gegenteil. Anstatt den Lockdown aufzuheben, diesen als Fehler einzugestehen und sich dafür zu entschuldigen, wurde er bis in den Mai verlängert. Und auch die Wissenschaftler und Journalisten setzten völlig unbeirrt ihren einmal eingeschlagenen Kurs fort. Wir konnten es nicht fassen und sahen uns wirklich täglich angesichts dessen, was um uns herum geschah, ungläubiger an. Dutzende Male fragten wir uns, ob wir oder die Mehrheit der Gesellschaft den Verstand verloren hatten, mehrfach prüften wir selbstkritisch unsere Ansichten, rechneten nach, zweifelten an uns selbst und je mehr wir uns dadurch mit dem Thema beschäftigten, je mehr wir für uns begriffen und verstanden, desto weniger verstanden wir.
Fortan führte ich wieder wilde und emotionale Debatten, nur stand ich dieses Mal selber auf der völlig gegenüberliegenden Seite. In meinem Freundeskreis stand ich mit meiner Meinung ziemlich alleine da. Niemand konnte und wollte glauben, dass sich sowohl Wissenschaft und Medien so kollektiv irrten. Politisch war ich jedenfalls innerhalb weniger Tage völlig heimatlos geworden: Die Linke war mit ihren Forderungen nach einem „solidarischen Lockdown“, der die sonst viel angeprangerte Schere zwischen arm und reich noch drastisch vergrößerte und gerade ihrer eigenen Wählerschaft, den sozial Schwächsten, am stärksten schadete, vollkommen unwählbar geworden. Und die Grünen, die sich mit Bündnis 90 zu einem nicht unwesentlichen Teil aus der einstigen DDR-Bürgerrechtsbewegung zusammensetzen, konnten gar nicht genug von Bürgerrechtseinschränkungen bekommen, vertraten am lautstärksten diskriminierende Maßnahmen wie 2 oder 3G und standen den irrwitzigen Zero- und No-Covid Konzepten politisch am nächsten.
Leidvoll musste ich erfahren, dass der freiheitlich-rechtsstaatliche Grundkonsens, den ich bis dato in allen Parteien vermutet hatte, entweder nicht existierte oder innerhalb kürzester Zeit über Bord geworfen wurde. Immer ist es so, dass ein Mensch das Normale erst dann zu schätzen lernt und dass ihm seine wichtigsten Werte und Ideale erst dann vollständig bewusst werden, wenn er diese als bedroht oder eingeschränkt wahrnimmt. Ebenso wie jemand, der Kopfschmerzen hat, erst unter Schmerzen den Normalzustand des physischen Wohlbefindens zu schätzen lernt, ist mir erst in diesen Wochen wirklich klar geworden, welchen hohen Stellenwert geistige Unabhängigkeit, persönliche Freiheit und Selbstbestimmung für mich haben. In Opposition zum Pandemiemanagement stehend, schien mir so einzig der politische Liberalismus eine adäquate und befriedigende Antwort auf den vorherrschenden illiberalen Zeitgeist zu bieten.
In der Absicht, nicht nur dagegen zu sein, sondern vielmehr auch für etwas zu kämpfen, erschloss ich mir dann Stück für Stück, die Welt freiheitlicher Ideen und Philosophien. Auch durch mein Politikstudium motiviert befasste ich mich mit liberalen Staatstheoretikern, mit Locke, Arendt und Rawls und bin dadurch mehr denn je davon überzeugt, dass eine aufrichtig und leidenschaftlich liberale Partei – im Gegensatz zur nur mehr dem Namen nach liberalen FDP – heute riesiges, bislang schlicht brachliegendes und ungenutztes Wählerpotenzial hätte.
Las ich noch vor knapp zwei Jahren Gysi, Neubauer und Co, so habe ich mich in den vergangenen Monaten durch die liberalen Denker gearbeitet. Nach diesem bereits vielversprechenden Einstieg in freiheitliches Denken, habe ich mir nun die Klassiker vorgenommen: Popper, Mises und Hayek. Ich bin sehr gespannt!
Kriege ich ein Autogramm?