Von Gysi zu Hayek – Die Geschichte einer ungewöhnlichen politischen Jugend Teil I
Von Marius Marx | Mein Interesse an Politik begann sich relativ spät, mit etwa 16 oder 17 – jedenfalls erst zu Beginn der Sekundarstufe II – auszubilden. In einem weitgehend apolitischen Elternhaus aufgewachsen, fiel dann wenig überraschend dem Freundeskreis und der Schule die Aufgabe meiner politischen Sozialisation in die Hände. Die „integrativ-kooperative“ Schule im nördlichen Berliner Speckgürtel, die ich besuchte – nach einer verstorbenen brandenburgischen SPD-Politikerin benannt -, war stolzer Träger des Labels „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, mit dem sie Lehrer und Schüler selbstverpflichtet, sich gegen jede Form von Diskriminierung einzusetzen.
Zentral über der Tafel schwebend war auf dem Smartboard-Beamer in unserem damaligen Klassenzimmer ein schwarzer Aufkleber angebracht, auf dem in weißen Großbuchstaben „FCK AFD“ zu lesen war; ähnliche Schmierereien oder Sticker, die auf Gängen und Fluren für Klimaproteste und Kundgebungen warben, erfreuten sich ebenso einiger Beliebtheit. Und im Jungsklo direkt neben meinem Klassenzimmer stand auf Kopfhöhe über dem Pissoir mit dickem, schwarzem Edding „refugees welcome“ geschrieben. Mein 17 jähriges Ich konnte in dieser Praxis überhaupt keine Widersprüchlichkeiten ausmachen und hatte mit all dem überhaupt kein Problem; ganz im Gegenteil. Schließlich wurden doch ganz im Sinne einer vielfältigen Gesellschaft die Richtigen und Guten willkommen geheißen und nur die Schlechten und Bösen verdammt. Und wer diese Bösen waren, schien für uns damals immer naturgesetzlich und geradezu unverrückbar in Stein gemeißelt: die Ausländerfeinde, die Faschos, die Populisten, die Klimaleugner: eben „die Rechten“. Und wer als solcher zu gelten hatte, bestimmten bequemerweise wir.
Unser Klassensprecher – ein gleichermaßen charismatischer wie begabter Rhetoriker, der in dieser Zeit nicht nur auf mich ungeheuren Einfluss ausgeübt hat, war bekennendes Mitglied der lokalen „Linksjugend [solid]“. In für mich bis heute nicht gänzlich nachvollziehbarer Weise gelang es ihm – dem wahrlich Antikonservativsten unter allen meinen Klassenkameraden – einmal sogar sich bei einer Wahl auf Gemeindeebene von der CDU aufstellen zu lassen und immerhin einige wenige hundert Stimmen auf sich zu vereinigen. In Geschichte hielt er enthusiastische Referate über Marx, in Deutsch über Stuckrad-Barre; bei Fußballturnieren und Konzerten gegen „rechts“ spielte er als Frontsänger mit seiner Band vornehmlich Songs von den „Toten Hosen“ und am ersten Mai lief er im schwarzen Block durch Berlin. Wüsste ich es nicht besser oder würde mir eine solche Figur in einem Roman oder Film begegnen, würde ich sie als zu klischeehaft, zu übertrieben stereotypisch und kitschig abtun. Aber so war er eben, unser Klassensprecher. Und sein Einfluss auf die politische Debatte in unserer Klasse kann nicht hoch genug geschätzt werden.
Vor nicht allzu langer Zeit hat mir so bspw. einer meiner besten Freunde – ein heute im besten Sinne liberal-konservativer Geist – erzählt, er habe unter dem Einfluss des wesentlich von ihm dominierten politischen Klimas unserer Klasse, ja eigentlich das unserer gesamten Stufe, bei seiner ersten Wahl „die Linken“ gewählt. Der Rest meiner Abi-Klasse konnte – unerhebliche Ausnahmen und politisch Desinteressierte ausgenommen – ohne weiteres ebenfalls dem links-grünen Spektrum zugeordnet werden.
So auch ich selbst. Der Zeitpunkt, da ich begann, mich ernsthaft mit dem politischen Zeiteschehen auseinanderzusetzen, fiel in etwa mit dem zusammen, da ich mit besagtem Klassensprecher zusammen in die 11. Klasse kam.
Und so hielt auch ich in Deutsch „gesellschaftskritische“ Vorträge; und so zierte mit 18 Jahren schließlich ein Aufkleber der Linksjugend meinen ersten eigenen Laptop. Den Sticker hatte ich auf der ersten Demo meines Lebens zugesteckt bekommen, als anlässlich eines Treffens der AfD-Granden um Andreas Kalbitz und Alexander Gauland im Nachbarort eine Gegenkundgebung unter dem Motto „Birkenwerder bleibt bunt“ initiiert wurde. Dort fuhr ich nach dem abendlichen Fußballtraining mit einigen Freunden vorbei, hielt Plakate und Banner hoch, rief „Nazis raus“ als Kalbitz‘ Wagen sich näherte und grinste dümmlich in die Kameras der Lokalreporter.
Auch die Berufswünsche, die ich damals hegte, sprechen eine eindeutige Sprache: Mein Berufsleben wollte ich ganz in den Dienst des Planeten, der Ökologie und Nachhaltigkeit stellen. Ein Studium im Bereich der Umweltwissenschaften, Energie- und Klimatechnik oder im weiten Feld des Naturschutzes schwebte mir vor. Etwa zur gleichen Zeit begann ich dann auch erstmals politische Literatur zu konsumieren: Die ersten beiden Bücher die ich las waren von Gregor Gysi; zuerst nahm ich mir seine Autobiographie und anschließend ein verschriftliches Gespräch über seine Erlebnisse aus über zwei Jahrzehnten bundesdeutscher Politik vor.
Und ich muss offen gestehen: ich war begeistert von ihm, seinen Ansichten, seiner Art zu schreiben und natürlich von seiner Rhetorik. In kürzester Zeit habe ich dann in der freien Zeit nach der Schule sämtliche im Netz abrufbare Bundestagsreden und Best-ofs von ihm geradezu in mich aufgesogen. Und als wir dann für unsere individuelle Seite im Abi-Buch während unseres letzten Schuljahres gefragt wurden, wer uns persönlich in den vergangenen drei Jahren jeweils am stärksten geprägt hat, musste ich nicht lange überlegen: ganz klar – Gregor Gysi!
So ist also ausgerechnet auf meiner persönlichen Seite der Name Gregor Gysi unauslöschlich verewigt und durch mich sein Name dauerhaft in das Abi-Buch der Abschlussklasse 2020 der Regine-Hildebrandt-Schule eingeschrieben.
Aber um mich nun endgültig zu desavouieren und das Who-is-Who der links-grünen Szene zu komplettieren, sei an dieser Stelle ein weiterer entscheidender Name in meiner jugendlichen politischen Biographie genannt: Luisa Neubauer. Als im Sommer 2019 die Fridays-for-Future Bewegung in Deutschland ihren bisherigen Höhepunkt erreichte und es einige Klassenkameraden und Schüler niedrigerer Stufen auf die Freitagsdemos in Berlin trieb, blieb ich nur aus Faulheit, den verpassten Stoff nachholen zu müssen, in der Schule. Allerdings habe ich mir umgehend nach dem Erscheinen Neubauers erstes Buch „Vom Ende der Klimakrise“ besorgt und – nach dem Lesen in meinen Ansichten bestärkt – natürlich versucht, im privaten und familiären Umfeld das mir Mögliche für die „gute Sache“ beizusteuern.
So habe ich in einer jugendlichen Unbedarftheit und moralischen Selbstsicherheit, die im völligen Gegensatz zu meiner politischen Bildung stand, kräftig die Werbetrommel gerührt, um meinem Umfeld bei der zur „Klimawahl“ erklärten Europawahl 2019 zum richtigen, nämlich grünen Kreuz, zu verhelfen. Als mir dann kurz nach der Wahl zwei meiner besten Freunde und eine gute Freundin offenbarten, sie hätten es doch tatsächlich gewagt die FDP zu wählen, bin ich tatsächlich beinahe vom Glauben abgefallen. Ich konnte wirklich nicht fassen, wie man in einer solch prekären Situation und unter dem Eindruck des zurückliegenden Hitzesommers, eine solche „Klimasünder-Partei“ wählen konnte. Meine Entgeisterung konnte dann nur noch dadurch gesteigert werden, dass in weiteren privaten politischen Auseinandersetzungen auch noch die Regierungspolitik Donald Trumps verteidigt wurde.
Damals war ich – das muss im Rückblick unumwunden eingestanden werden – ganz im Sinne Rezos davon überzeugt, es gebe in Anbetracht des Klimawandels nur eine einzige legitime politische Meinung. Und das war – wie praktisch – meine eigene. Ich bin als Teenager, ohne mich auch nur ansatzweise mit ihm vergleichen zu wollen, wie schon einst der große Karl Popper in seinen Jugendjahren, wohlklingenden sozialistischen Ideen, oder wie Ralf Dahrendorf es einst so treffend formulierte, den „Versuchungen der Unfreiheit“ anheimgefallen . Um den Weg zum politischen Liberalismus zu finden und den Wert der Freiheit schätzen zu lernen, bedurfte es erst einer globalen Gesundheitskrise, die nicht unwesentlich auch eine der Freiheit war.
Der zweite Teil des Artikels erscheint morgen…
Bildquelle Gysi: Bundesarchiv, Bild 183-1990-1202-011 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons