Über das falsche Ideal der gerechten Gesellschaft | Teil 2
Von Jonas Kürsch | Bei aller Kritik am Gerechtigkeitsbegriff möchte ich an dieser Stelle jedoch noch einmal klar betonen, dass ich mich nicht als Gegner von echten Gerechtigkeitskämpfern sehe. Im Gegenteil, der Kampf gegen echte Ungerechtigkeiten, wie sie leider nur allzu häufig von politischen Autoritäten in den letzten Jahren ausgeübt worden sind, ist in jeder Hinsicht zu unterstützen. Ich möchte im Rahmen dieses Artikels lediglich daran erinnern, dass dieses komplexe Konzept nicht zum erneuten Aufleben eines fundamentalistischen Denkens führen darf. Wer einen anderen Grundsatz als den Schutz des Menschen und seiner Rechte in den Vordergrund des politischen Handelns stellt – und sei es auch das noch so noble Ziel einer absolut gerechten Gesellschaft – wird zwangsweise zur Gefahr für die Demokratie, denn er verleugnet die pluralistische Natur einer jeden gesunden Gesellschaft.
Der französische Philosoph und ehemalige Politiker Alexis de Tocqueville hat diese Erkenntnisse gut in seinem epochalen Werk über die amerikanische Demokratie zusammengefasst. Tocqueville erkannte, dass in einem idealen demokratischen Staat Freiheit und Gleichheit in Balance sein müssen, da jeder Bürger in seiner Bewegungs- und Handlungsfreiheit somit einen erstrebenswerten Zustand der Gleichheit zu allen anderen Individuen erlangen würde. Sollte sich jedoch aus dieser mühsamen Gleichheit in der Freiheit keine sofortige Chancengerechtigkeit entwickeln, würden die Menschen aus Bequemlichkeit eher die Gleichheit in der Unfreiheit wählen und sich zu willenlosen Sklaven der Regierenden machen. Daher sei Gleichheit laut Tocqueville zwar eine Grundbedingung für eine funktionierende Demokratie, jedoch dürfe diese ein gewisses Maß niemals überschreiten. Erklärte man sie zum höchsten Ziel eines demokratischen Staates, würde sich die Gesellschaftsordnung schnell von den wichtigsten Grundsätzen einer freiheitlichen Philosophie entfernen.
In schwachen Demokratien, also Systemen mit einer wenig beachteten Verfassung und weitestgehend zentral gesteuerten Institutionen, kann der einzelne Mensch daher schnell zum Opfer einer ‚Tyrannei der Massen‘ werden, bei der die Meinungsmehrheit sich über demokratische Wahlen die Möglichkeit verschafft, oppositionelle Minderheiten mithilfe der Legislative und Judikative zu schikanieren. Laut Tocqueville dürfe dies niemals als Anzeichen einer belebten Demokratie falsch verstanden werden, sondern als Anfang eines diktatorischen Systems mit demokratischen Elementen. Es lassen sich dutzende historische Beispiele finden, die diese Erkenntnis bestätigen: das kurzfristige Ende der englischen Monarchie durch die Militärdiktatur Cromwells in den 1640er Jahren, das Scheitern der französischen Revolution durch die Tyrannei des Robespierre gegen Ende des 18. Jahrhunderts und die demokratische Wahl Adolf Hitlers im Jahr 1933, die den Anfang des blutrünstigen NS-Terrors markierte.
Laut Tocqueville ließe sich das bürgerliche Verständnis von Gleichheit durch Freiheit nur in einem föderal aufgebauten Staat sichern, der die Bürger eines Landes durch seine Beschaffenheit dazu zwänge, selbstverantwortlich und auf niedrigster Ebene Entscheidungen über die Gestaltung des öffentlichen Lebens zu treffen, denn je stärker die Autorität einer zentralen Bundesregierung sei, desto größer werde die Gefahr einer möglichen Tyrannei der Mehrheit. Müssten sich die Menschen hingegen mit anderen Meinungen auf lokaler Ebene auseinandersetzen, so würden sich Kompromisse zum Wohle der Allgemeinheit ganz organisch aus der Verfolgung eigener Interessen entwickeln. Man würde keinen Zwang zur Kooperation brauchen, denn der vernünftige Mensch würde irgendwann erkennen, dass er zwangsweise auf die Hilfe anderer angewiesen ist, um eigene Ziele in einem freien Staat zu erreichen. Ein föderales System würde einen gesunden Ideenwettbewerb sowie den respektvollen Umgang zwischen den Vertretern unterschiedlicher Meinungen daher besser vorantreiben als eine egalitäre Diktatur der totalen Gleichheit.
Sind wir zu einer ‚Tyrannei der Gerechtigkeit‘ verdammt?
Auch in den Ausführungen von Tocqueville erkennen wir viele Parallelen zur heutigen Situation. Das totalitäre Streben nach einer Gerechtigkeit durch Unfreiheit hat sich im politischen Denken der Deutschen stark verankert, so dass der Fortbestand der Freiheit in unserem Land auf ernsthafte Art und Weise bedroht wird. Es ist spürbar, dass gerade durch den unbedachten Wunsch nach einer umfassenden sozialen Gerechtigkeit, ein zunehmend ideologisches Klima der Angst und Unterdrückung geschaffen wurde, das mit allen Mitteln der Meinungs- und Kunstfreiheit zu bekämpfen ist. Daher ist es jetzt wichtig, wieder ein gesundes und weniger fanatisches Verständnis vom Gerechtigkeitsideal in einem freiheitlich-demokratischen Staat zu entwickeln.
Jeder Mensch muss sich aufgrund seiner individuellen Fähigkeiten einen guten Lebensstandard aufbauen und ein erfolgreiches Leben führen können. Dazu bedarf es allerdings keiner linksgrünen Tyrannei der totalen Gerechtigkeit, stattdessen müssen wir nur eine wichtige Erkenntnis wieder verinnerlichen, die den meisten Menschen weitestgehend abhanden gekommen ist: Nicht jeder Mensch verfügt über die Willenskraft und Ausdauer, um seine Chancen zur Verbesserung des eigenen Lebens auch wirklich vollends auszunutzen. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Mensch mit Eifer, Einfallsreichtum und Begeisterung für die eigenen Ideen eine gerechte Chance hat, sich selbst zu verwirklichen. Dieser Prozess ist für viele Menschen aber zu mühsam, sie bevorzugen die Bequemlichkeit. Gerechtigkeit ist daher keine Einbahnstraße, vielmehr erfordert sie zuweilen auch ein hohes Maß an Selbstdisziplin und Resilienz, zwei Eigenschaften, die dem woken Milieu ganz offensichtlich fehlen. Anders ausgedrückt: wer nicht spielt, kann auch nicht gewinnen.
Ich will es bei einem alten Satz aus der Bibel belassen, der auch heute nichts an Relevanz verloren hat und mein Verständnis von Gerechtigkeit hervorragend zusammengefasst: wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.