Über das falsche Ideal der gerechten Gesellschaft | Teil 1
Von Jonas Kürsch | Gerade im linksliberalen Milieu scheint die Selbstbemitleidung für das Versagen im eigenen Leben immer gefährlichere Auswüchse im politischen Leben anzunehmen. Anstatt selbst für das persönliche Scheitern Verantwortung zu übernehmen, werden entweder unsere freiheitliche Lebensweise an sich oder die hart arbeitenden und fest im Leben stehenden Mitglieder unserer Gesellschaft für die eigenen Unzulänglichkeiten verantwortlich gemacht: das eigene Versagen sei nur eine Folge der wachsenden ‚Ungerechtigkeit’ in unserem unfairen Staatswesen.
Diese verbitterten Nihilisten, die jeden Glauben an sich selbst und ihre eigenen Fähigkeiten verloren haben, fordern daher einen übergriffigen Staatsapparat, nicht etwa um die eigene Situation zu verbessern, sondern vor allem auch um das Leben der freien, heiteren Mitmenschen zu verschlechtern, sie für ihre Glückseligkeit und innere Ausgeglichenheit zu bestrafen. Begründet wird dieser nach außen projizierte Selbsthass unter dem fadenscheinigen Deckmantel der „sozialen Gerechtigkeit“, die im öffentlichen Diskurs immer häufiger zum absoluten Ziel einer jeden demokratischen Politik verklärt wird.
Der Begriff der „Gerechtigkeit“ ist in diesem Kontext als Kampfbegriff zu verstehen, der wenig mit dem nachvollziehbaren Wunsch nach einer fairen Gesellschaftsordnung zu tun hat, sondern die Forderung nach einer Gesellschaft bekräftigt, in der man jedweden Willen zum Erfolg mit Neid und Missgunst bestrafen will.
Diese ignorante Liebe zur Fremdbestrafung hat sich in den letzten Jahren anhand verschiedenster Phänomene immer stärker in der Öffentlichkeit manifestiert: linke Aktionsterroristen kleben sich auf deutschen Autobahnen fest, weil man ihnen in den letzten zehn Jahren mit zunehmender Dramatik eingeredet hat, ihre gesamten Lebenschancen seien an den Folgen der sogenannten „Klima-Ungerechtigkeit“ zugrunde gegangen. Dabei werden auch Kollateralschäden, wie die Arbeitsbehinderung von medizinischen Einsatzkräften, billigend in Kauf genommen. Neo-Feministinnen und woke „Social-Justice-Warrior“ kämpfen für Frauen- und Migrationsquoten, um „marginalisierten“ Gruppen zu mehr Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit zu verhelfen – Leistung und echte Kompetenz spielen dabei keine Rolle mehr. Irrationale Corona-Fanatiker fordern mit hassverzerrtem Gesicht eine Impfpflicht, weil sie die selbstbestimmte Entscheidung für oder gegen einen derartigen Eingriff als existenzgefährdend und gesellschaftsschädigend empfinden. Und sozialistische Gesinnungsethiker versuchen mit immer stärker steigenden Staatsschulden, der Einführung neuer Gesetze zur politischen Enteignung und der arroganten Bevormundung ihrer eigenen Bevölkerung, das Konzept eines utopischen Idealstaates zu verwirklichen, in dem ausnahmslos jeder Bürger zur Gerechtigkeit durch totale Gleichheit verdammt sein soll.
Und obwohl es sich bei diesen Ideen um offenkundige Absurditäten handelt, findet sich heutzutage kaum noch jemand, der diesem Fanatismus Einhalt gebietet, vor allem die öffentlich-rechtlichen Medien und ein großer Teil der deutschen Parteipolitik tragen zu diesem kollektiv-neurotischen Aberglauben an die Notwendigkeit einer verabsolutierten Gerechtigkeit in einem lächerlichen und vor allem verantwortungslosen Ausmaße bei. Es bedarf daher einer detaillierten Aufklärung über das zerstörerische Potenzial des philosophischen und politischen Begriffs der „Gerechtigkeit“, welcher schon seit Jahrtausenden als fadenscheinige Rechtfertigung für die Ausbeutung, Vernichtung und Zerstörung unzähliger Menschenleben missbraucht wurde und auch heutzutage immer noch missbraucht wird.
Die transzendente Idee einer absoluten Gerechtigkeit
Die Wurzel allen Übels findet, wie es nur allzu häufig der Fall mit politischen Irrtümern zu sein scheint, in der extremistischen Ideenlehre des antiken Philosophen Platon seinen abscheulichen Ursprung. Während zu Beginn noch die Natur mit ihrer physikalischen Grundordnung als Fundament der Gerechtigkeit betrachtet wurde, änderte sich die Definition des Begriffes im Rahmen der philosophischen Weiterentwicklung durch die großen Athener Philosophen massiv: Platon und Aristoteles erklärten, dass sich die Eudaimonia, also das glückliche Leben, nur dann von einem Menschen erreichen ließe, wenn dieser auch über die Tugend der Gerechtigkeit als festen Bestandteil seiner Persönlichkeit verfüge. Daraus ergibt sich die entscheidende Frage, nach welchen Kriterien man diese Tugend bemessen will, oder anders formuliert: auf welche Art soll ein Mensch handeln, um wirklich gerecht zu sein und somit ein glückseliges Leben führen zu können?
In seiner Ideenlehre schildert Platon, dass die irdische Welt lediglich eine minderwertige Reflexion der sogenannten “transzendenten Sphäre der Ideen” sei. Dabei handelt es sich um einen außerirdischen Kosmos, der eine Reihe von unvergänglichen Entitäten beherbergt, welche sich als unveränderliche Essenzen der objektiven Realität beschreiben lassen. Platon verabsolutiert im Rahmen dieser Denkstruktur das Konzept der Gerechtigkeit zu einer transzendenten Ur-Form, die er als „das Gerechte an sich“ bezeichnet. Eine menschliche Tat kann daher im platonischen Sinne nicht gerecht sein, vielmehr kann die Seele eines Menschen durch dessen Handlungen an der transzendenten Idee der Gerechtigkeit teilhaben. Ein ‚gerechter‘ Zustand wird erst dann auf Erden erreicht, „wenn man das Seine tut und nicht vielerlei Dinge treibt“, die eigenen Handlungen also auf das von Obrigkeiten zugeschriebene Verhalten beschränkt: die ethische Konsequenz seiner Ideenlehre ist daher ein lustloses Leben in nicht enden wollender Askese und nihilistischem Verzicht.
Wie aber soll ein Mensch wissen, welche Handlungen an der Ur-Form von Gerechtigkeit teilhaben und welche nicht? Die Antwort ist einfach: durch eine Grundausbildung in logischem Denken, denn für Platon ist Logik das Ein und Alles. Es ist das erkenntnistheoretische Ziel seiner Philosophie, zu einem durch Vernunft geprägten Verständnis von den ewigen Ideen zu gelangen, um so in jeder Situation erkennen zu können, wie die Essenzen der transzendenten Formen „Güte“ und „Gerechtigkeit“ bestehen. Hier kommt der nächste große Haken in Platons Philosophie: Nur die am besten ausgebildeten, weisesten Männer und Frauen einer Gesellschaft können diesen tiefen Einblick in die Essenzen der objektiven Realität erlangen. Daher sind es auch allein jene wenigen Individuen, denen laut Platon eine gerechte Regentschaft über das Volk als Philosophenkönige anvertraut werden darf.
Mit dieser Denkweise hat der Philosoph den Grundstein für das gelegt, was wir heute als autoritären Dogmatismus bezeichnen würden. Der individuelle Mensch und seine Wahrnehmung werden durch die platonische Denkweise nahezu vollständig ausgelöscht, denn es gibt für Platon nichts bedeutenderes als jene radikale, jene totale Gerechtigkeit, deren wahre Form sich nur durch die geschulten Augen der Philosophenkönige erkennen lässt. Aus diesem Gedanken lassen sich im Grunde nur zwei Konsequenzen ableiten: zum einen wird der Gerechtigkeitsbegriff damit zu einer übermenschlichen Gottheit verklärt, wodurch jedweder rationale und mit gesundem Menschenverstand geführte Diskurs über politische Probleme zur Farce wird. Zum anderen führt diese Ideologie zwangsweise zur Notwendigkeit einer elitären Diktatur von Fanatikern, die ihre Wahrnehmung der ‚einzig objektiven Realität‘ zum Maßstab jedweden Denkens und Handelns erklären. Platon selbst hat in seinem Werk Politeia bereits verkündet, dass jene Philosophenherrscher die weisesten aller Menschen sein werden und daher selbst das geschrieben Gesetz ihrem gerechten Worte weichen wird: sie sind die unangefochtenen intellektuellen Führer eines Staates und wenn der dumme Pöbel diesen Meistern nicht folgen will, so wird er eben mit dem Tode bestraft.
Die dogmatische Neuausrichtung unseres Landes lässt sich anhand dieser beängstigenden Prinzipien gut verdeutlichen. Es ist zunehmend erkennbar, dass die Deutschen sich schon seit mehr als einem Jahrzehnt von den individualistischen Grundsätzen der Aufklärung entfernt haben und im Prozess einer krankhaften ‚Platonisierung‘ einen religiös-fundamentalistischen Wunsch nach absoluten Wahrheiten entwickelt haben. Dies spiegelt sich vor allem im Klima-Dogmatismus der Grünen wider, die den vermeintlichen Schutz des Klimas zur Essenz der politischen Gerechtigkeit in Deutschland verklärt haben. Wirtschaftlicher Wohlstand und die freie Persönlichkeitsentfaltung spielen in diesem Weltbild keine Rolle mehr, denn sie sind dem ideologischen Ziel einer klimagerechten Zukunft vollkommen untergeordnet und diesem unter Umständen sogar hinderlich. Allerdings ist das Klima nicht das einzige transzendente Prinzip der grünen Politik, welches zur übergeordneten Wahrheit verklärt wurde: auch die bedingungslose Selbstaufgabe des eigenen Wohlbefindens, des privaten Eigentums und der immer häufiger als „Privilegien“ verunglimpften Bürgerechte gehören zu den gottgleichen Idealen der grünen Ideologie.
Die Philosophenkönige Habeck, Baerbock und Kretschmann, um nur einige namhafte Beispiele aus der platonischen Partei zu nennen, haben in den letzten Monaten und Jahren ihren platonischen Anspruch auf totale politische Erleuchtung und juristische Hegemonie in aller Deutlichkeit demonstriert. Denken wir nur zurück an den verstörenden Vorschlag des Baden-Württemberger Ministerpräsidenten, der während der Corona-Pandemie forderte, man müsse ein Regime zur Pandemiebekämpfung einführen, bei dem die Politik auch unverhältnismäßige Maßnahmen gegen den Willen der Judikative durchsetzen könne… Alles zum Wohle der transzendenten Idealvorstellung des Zero-Covid-Fundamentalismus, versteht sich! Auch Minister Habeck, der deutsche Philosophenherrscher der Wirtschaft, sprach bereits früh davon, dass man sich fragen müsse, ob man ein effizientes System zur Erfüllung von politisch erwünschten Staatszielen wie in China oder eine freiheitliche Demokratie mit ihrem Pluralismus in Deutschland wolle, wobei er die irreführende Frage mit einem doppeldeutigen „Ich würde sagen, ja, das wollen wir!“ beantwortete und seinen Zuschauern großen Interpretationsraum ließ. Annalena Baerbock, die Philosophenherrscherin der deutschen Außenpolitik, erklärte erst vor wenigen Monaten, dass sie ihre politischen Entscheidungen nach dem eigenen normativen Gusto gestalten wolle, unabhängig von ihrem eigentlichen Mandat, dem Auftrag des deutschen Souveräns zu folgen, frei nach dem Motto: „Egal, was meine deutschen Wähler denken“.
Die Grünen leben mit ihrem unangefochtenen Anspruch auf totale Moralität in einem gefährlichen Ausmaße vor, wie schnell die Verabsolutierung von einzelnen Werten zu einem Verständnis von Demokratie führen kann, das nicht mehr viel mit dem Wunsch nach Freiheit, Selbstbestimmung und Kompromiss zu tun hat. Daher ist es zu begrüßen, dass immer mehr Personen des öffentlichen Lebens jene Wahrheit aussprechen, die offenbar keiner hören will: die Grünen sind mit Abstand die gefährlichste Partei in Deutschland. Ihre platonische Denkweise macht sie blind für den Pluralismus unserer Gesellschaft und damit zu einem hohen Sicherheitsrisiko für unser freiheitliches Land. Die grüne Partei ist somit nicht die Verfechterin der politischen Gerechtigkeit, sondern eine fundamentalistische Sekte.