Film „Tenor“ – Die Suche nach dem Gefühl in der Stimme

Von Larissa Fußer | Gefühle mit der Stimme transportieren – das ist die große Kunst eines Sängers. Und damit meine ich nicht, dass Billie Eilish wütend in Happier than ever „Just fucking leave me alone“ ins Mikrofon schreit – es gibt auch Musiker, die nur durch ihre Stimme, nicht durch ihre Worte, den Zuschauer berühren können. Opernsänger haben diesen gefühlvollen Gesang perfektioniert. Auf der großen Bühne singen die stimmgewaltigen Performer über Stunden allein auf italienisch – obwohl der deutsche Zuschauer kein Wort versteht, begreift er trotzdem sofort, worüber gesungen wird. Die Traurigkeit, die Freude, die Wut oder der Hass – alles überträgt sich durch die Stimme.
Dieses Phänomen hat ein französischer Filmemacher nun in einem Film festgehalten. In „Tenor“ wird ein Rapper aus den Pariser Vororten zufällig von einer Opernsängerin entdeckt und daraufhin von ihr überredet, an einer Ausbildung für Operngesang teilzunehmen. Zugegeben: die Story ist nicht gerade das gelbe vom Ei – zwei Welten treffen aufeinander, der Rapper steht zwischen ihnen und kann sich nicht entscheiden, denn seine Kumpels interessieren sich mehr für illegale Boxkämpfe als für Arien von Pavarotti. Aber es gibt Szenen, die jedem Gesangsliebhaber das Herz aufgehen lassen. Da steht zum Beispiel der Protagonist auf dem Dach seines abgerockten Vorstadt-Hochhauses und hört die Opern-CD, die ihm seine neue Lehrerin mitgegeben hat. Er ist aufgebracht, weil seine Familie und Freunde ihm Stress machen, doch die Musik tröstet ihn. Der vorlaute Rapper, der gerade noch einen „Deine Mutter“-Witz nach dem anderen rausgehauen hat, guckt plötzlich still und besonnen in die Ferne. Am nächsten Tag sagt er zu seiner Lehrerin: Glauben Sie, das ich dieses, dieses.. auch so rüber bringen kann?“ „Dieses Gefühl?“, fragt sie. „Ja“.
Daraufhin stürzt sich der Nachwuchssänger in die Opernmusik. In der Opern-Akademie singt er auch Duette. Einmal schlunzen er und seine Partnerin völlig umenthusiastisch „Libiamo ne’lieti calici“ aus La traviata dahin. Völlig entnervt unterbricht die Lehrerin das Trauerspiel. „Wisst ihr, was ihr da singt?“, fragt sie. „Lasst uns Lust empfinden – also empfindet Lust!“ Nach einem peinlich berührten Zögern sind die Sänger wie ausgewechselt. Freudig schmiegt sich die junge Frau singend an die Schulter des Protagonisten und er reagiert auf eine Weise, die schließlich dazu führt, dass die beiden ein Date haben. Dort müssen sie dann reden, statt singen – das Gefühl ist schnell futsch und die Anziehung dahin. Bissi blöd gelaufen, aber auch egal. Die Dame scheint nämlich nur dafür zu leben, dass ihr reicher Papi sie lieb hat. Da kann der Vorstadt-Rapper, der überhaupt keinen Vater mehr hat, nicht viel mit anfangen.
Doch nicht nur Hochgefühle spiegeln sich in der Rapper-Stimme wieder. Als er eines Tages zunehmend in der Krise ist, weil seine Ghetto-Verwandten langsam spitz kriegen, dass er irgendwas vor ihnen geheim hält, zeigt sich das auch in seinem Vorsingen in der Opern-Akademie. Erst kommt er zu spät, dann hat er sämtliche Gesangstechniken vergessen und presst die Töne mit Willen statt Gefühl durch seine verkrampften Stimmbänder. Seine Lehrerin ist sauer und bricht seinen Auftritt ab. „Das wird schon!“, schreit er. Doch sie lässt sich nicht auf seinen Terror ein.
Am Ende steht der Rapper auf der großen Bühne und singt mit vollem Herz und Gefühl „Nessun dorma“ aus Turandot. Es gibt Gerüchte, dass ich im Kino eine kleine Träne vergossen haben soll, als „Vinceeeeeeeeeeroooooooooo“ durch den Saal hallte. Ich habe keine Ahnung, was da gesungen wurde, aber ich glaube, ich habe es verstanden.