Soziale Triage in der Jugendhilfe

Von Pauline Schwarz | Die Zahl der psychischen Störungen unter Kindern und Jugendlichen ist seit Beginn der Pandemie und der damit verbundenen Maßnahmen drastisch angestiegen. Die völlige Auflösung einer normalen Tagesstruktur, die soziale Isolation und die fehlenden Freizeitmöglichkeiten haben tiefe Wunden hinterlassen. Es gab einen enormen Anstieg von depressiven Erkrankungen, Ess- und Schlafstörungen, Entwicklungsverzögerungen, Suchtstörungen und sogar von Suiziden. Laut Caritas leidet inzwischen fast jedes dritte Kind unter den Folgen der Corona-Maßnahmen und zeigt psychische Auffälligkeiten. Besonders betroffen sind Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen, die häufig in sehr engen Wohnverhältnissen leben, wenig Unterstützung von ihren Eltern bekommen und auch sonst Schwierigkeiten haben, Anschluss zu finden. Sie brauchen schon unter normalen Verhältnissen besonders viel Hilfe, um ihren Alltag zu meistern. Doch genau diese könnte jetzt erneut wegbrechen. Schon im Mai, als die Zahl der Infizierten wesentlich geringer war als heute, fand eine soziale Triage in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe statt.
Kurz nach dem zweiten Lockdown, dank dem wir ganze sechs Monate auf große Teile unserer Grundrechte verzichten mussten, lagen die Nerven bei vielen blank. Der Ansturm auf Jugendeinrichtungen war dementsprechend groß und die Hilfe besonders nötig. Es gab nur ein Problem: die Hygiene-Maßnahmen. In Einrichtungen wie dem Kinder- und Jugendhaus „Bolle“ in Berlin-Marzahn können unter normalen Umständen täglich bis zu 120 Hilfebedürftige ihrem Familienalltag entfliehen, die Probleme etwas vergessen und mit den anderen Kindern toben, kickern oder bei der Hausaufgabenhilfe mitmachen. Im Mai waren es dann plötzlich nur noch 50 Kinder im Schichtsystem, aufgeteilt in Fünfergruppen. Vivien Rosen, vom zugehörigen Verein Straßenkinder e.V., sagte gegenüber dem Tagesspiegel, dass das schrecklich gewesen sei: „Wir mussten täglich neu entscheiden, welche Kinder und Jugendlichen den größten Betreuungsbedarf haben. Eine Art soziale Triage, denn Bedarf haben sie alle.“
In der Marzahner Plattenbausiedlung rund um die Einrichtung leben 70 Prozent aller Haushalte von Hartz IV, etwa 40 Prozent haben einen Migrationshintergrund und genauso viele sind alleinerziehend. Laut Rosen sind in solchen Familien sehr viele Eltern „nicht in der Lage, ihren Kindern beim Homeschooling zu helfen, auch Freizeitaktivitäten finden zu Hause kaum statt. Zahlreiche Kinder hier würden einfach den ganzen Tag vor dem Fernseher oder Monitor hocken“. Über die Aussage der Sozialarbeiterin hinaus, droht aber leider noch viel Schlimmeres, das weiß ich aus meiner Arbeit für einen Berliner Erziehungsbeistand. Kinder, die Einrichtungen wie das Freizeithaus oder andere, etwa stationäre, Hilfsangebote annehmen, stammen häufig aus Familien, in denen massive Verwahrlosung und Gewalt drohen. Die Kinder sind den psychischen Krankheiten oder Drogenproblemen ihrer Eltern häufig völlig schutzlos ausgeliefert. Und das hat Folgen: Die Kleinen leiden unter Entwicklungsstörungen, sozialen Inkompetenzen, psychischen Krankheiten sowie fehlender Impulskontrolle, nehmen Drogen und geraten nicht selten auf die schiefe Bahn. Ich habe schon Zwölfjährige gesehen, die dickere Strafakten hatten als so mancher 40-jährige Berufsverbrecher und 17-Jährige, die lieber hinter Heizungsrohren schliefen, als wieder nach Hause zu gehen.
Dank der Corona-Maßnahmen brach für viele auch noch das letzte bisschen Halt weg, das sie durch Einrichtungen wie dem „Haus Bolle“ oder der „Arche“ hatten. Auch bei der „Arche“, einem Hilfsangebot des Christlichen Kinder- und Jugendwerks, schrumpfte die Betreuungsmöglichkeit per Dekret von 300 auf gerade mal 40 Kinder und Jugendliche pro Tag. Bernd Siggelkow, Gründer der Einrichtung, beklagte sich damals über die mangelnde politische Unterstützung seiner Schützlinge und anderer Kinder aus bildungsfernen Familien. Er prophezeite sogar „einen 25 prozentigen Anteil an funktionalen Analphabeten nach der Pandemie“ und warnte vor Verwahrlosung und der Zunahme an Verhaltensauffälligkeiten – wie etwa bei einer Achtjährigen, die nachts versuchte, ihre Mutter zu erwürgen oder neun- und zehnjährigen Jungen, die Zigarettenstummel von der Straße aufsammelten und rauchten.
Laut statistischem Bundesamt ist die Zahl der Kindeswohlgefährdungen 2020 im Vergleich zum Vorjahr um neun Prozent gestiegen – der höchste Stand seit Beginn der Erhebung im Jahr 2012. Dabei kamen 1,5 Prozent weniger Hinweise von den Schulen, was angesichts der Schulschließungen wenig überraschend ist. Es ist aber durchaus problematisch. Lehrer sind meiner Erfahrung nach mit am meisten an Jugendschutzmeldungen beteiligt, etwa weil sie merken, dass ein Kind im Winter nur mit T-Shirt in die Schule kommt, offene Wunden hat oder sich mit zehn bis zwölf Jahren immer wieder im Unterricht einnässt. Nachbarn oder Fremde müssen die Verwahrlosung oder Misshandlung erst einmal mitbekommen und dann noch den Mut oder überhaupt den Willen aufbringen, eine Meldung beim Jugendamt abzugeben. Ich fürchte also, dass die Zahl an Kindeswohlgefährdungen im letzten Jahr in Wirklichkeit noch deutlich höher gewesen seien könnte. Dank der Schulschließungen, dem folgenden Wechselunterricht und der sozialen Triage in Jugendhilfeinrichtungen, werden einige Kinder wohl keine Möglichkeit gehabt haben, sich einem Erwachsenen außerhalb ihres schädlichen Umfelds anzuvertrauen.
Und diese Sorge wurde durch eine kürzliche Pressemitteilung des statistischen Bundesamtes leider nur bekräftigt. 2020 gab es nämlich nicht nur mehr Gefährdungsmeldungen, sondern gleichzeitig auch fünf Prozent weniger erzieherische Hilfen – also ganze 53.600 Fälle weniger, in denen Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen in Anspruch genommen wurden. Was erstmal gut klingt, ist fatal. Es bedeutet nämlich nicht, dass es weniger Bedarf gab, sondern nur, dass weniger Hilfe angeboten wurde – so wie in den Tagesstätten „Bolle“ und „die Arche“. Es haben also wahrscheinlich über 53.000 Kinder, Jugendliche und Eltern auf Beratung und Betreuung verzichten müssen, weil die Hygienemaßnahmen nur Hilfen für einen kleinen Teil der Schlimmsten aller Schlimmen zugelassen haben oder weil die Angebote dank Lockdown gleich völlig eingestellt wurden.
Umso länger die Corona-Pandemie unser aller Leben bestimmt, desto schlechter wird es Kinder und Jugendlichen gehen – allen, aber denen aus sozial schwachen Familien, die unsere Politik angeblich ach so unbedingt schützen will, besonders. Der Hilfebedarf steigt ins unermessliche, während ungeimpfte Kinder durch 2G-Reglungen vom sozialen Leben und Unterstützungsmaßnahmen ausgeschlossen werden, der nächste Lockdown droht und auch danach wohl wieder soziale Triage in allen möglichen Einrichtungen vorherrschen wird. Das alles wird fatale Folgen auf die Gesundheit, Entwicklung, Bildung und den Werdegang der Kleinsten und gleichzeitig größten Opfer der Corona-Politik haben.
Pauline Schwarz, geboren 1995, ist Senior und Psychotante von Apollo News. Sie studiert Psychologie, um irgendwann nicht mehr nur unter Verrückten zu leben, sondern auch Geld mit ihnen zu verdienen. Schreibt gerne über Autos, Kriminalität und psychische Leiden von Kindern und Jugendlichen, die auch dank unserer (selbst nicht ganz dichten) Regierung zu echten Volkskrankheiten werden. Kennt sich aber auch mit den richtig Bekloppten aus: Bei ihrer Arbeit für ein Berliner Betreuungsbüro hat sie es mit waschechten Aluhüten zu tun – denen, die Stimmen hören und denken, die Aliens oder CIA wären hinter ihnen her. Und dann ist sie zu allem Übel auch noch unter Grünen, Hippies und Linksextremisten in Berlin-Kreuzberg aufgewachsen, über deren Wahnsinn sie sich besonders leidenschaftlich bei Apollo aufregt.