Scholz’ politisches Schutzschild 

Von Sarah Victoria | Er verwirrt, er lügt, er spaltet: Nicht viele Politiker sind so kontrovers wie Karl Lauterbach. Im Zuge der Coronapandemie hat es der SPD-Politiker geschafft, zum prominentesten Mitglied seiner Partei zu werden. Als Gesundheitsexperte und selbsternannter Epidemologe durfte er in keiner Talkshow fehlen. Allein auf Twitter folgen ihm 1 Millionen Menschen, also fast doppelt so viele wie dem amtierenden Bundeskanzler, Olaf Scholz. Doch was könnte Olaf Scholz dazu bewegen, so eine polarisierende Figur im Bundeskabinett zu positionieren?


Hier mein Erklärungsversuch:  

Olaf Scholz ist ein erfahrener Berufspolitiker mit Hang zum Opportunismus. Seine Reden klingen wie von einer künstlichen Intelligenz geschrieben, voller rhetorischer Stilmittel und schöner Metaphern, die sich perfekt fürs Phrasenbingo eignen. In der Vergangenheit war er dafür als  „Scholzomat“ bekannt, zahlreiche Journalisten versuchten vergeblich, ihm menschliche Reaktionen zu entlocken und auch der aktuelle Cum-Ex-Ausschuss verzweifelt an seinen plötzlichen Gedächtnislücken. Kaum ein Politiker wirkt so kalkuliert wie Olaf Scholz. Der Kanzler weiß genau, was er tut. Daher ist auch die Wahl des Gesundheitsministers alles andere als ein Zufall. Zum einen fällt auf, dass die Ernennung von Karl Lauterbach als Gesundheitsminister von der Parteielite gleich in ein Narrativ gespannt wurde. Olaf Scholz selbst verwies nach der Ernennung auf die besondere Kompetenz Lauterbachs – und betonte nebenbei, dass sein Vorgänger Jens Spahn nicht vom Fach gewesen sei.  

https://twitter.com/OlafScholz/status/1467799995806007299?s=20&t=80g_WzYEFsCTb2gRlSzwqw 

Generalsekretär Kevin Kühnert verkündete auf seinem damaligen Twitteraccount erfreut, dass die  Bevölkerung nun ihren Wunsch erfüllt bekommen habe. Damit spielte er wohl auf auf den zuvor kursierenden Hashtag #wirwollenkarl an, unter dem Tausende ihren Wunsch nach dem „Minister  der Herzen“ äußerten. Bestätigt wurde ihr Kalkül noch mit Umfragen, in denen fast 80 Prozent der Befragten angaben, Hoffnungen in den neuen Bundesgesundheitsminister zu setzen. Selbst  Oppositionspolitiker sprachen nach der Ernennung ihre unironische Zustimmung aus, allen voran  Markus Söder.  

https://twitter.com/Markus_Soeder/status/1467801027621662721?s=20&t=HyRXennVI1A7xza51s6_bA

Dabei ist die Wahl des Gesundheitsministers innerparteilich nicht unumstritten gewesen. Viele Parteikollegen schätzen Karl Lauterbach zwar für seine, wenn auch fragwürdige, Fachexpertise, aber nicht für seinen Führungsstil, den er die letzten 20 Jahre unter Beweis gestellt hat. Gerade bei den Kassenärzten und den Krankenhäusern hat er sich schon vor seinem Amtsantritt unbeliebt gemacht, die Glückwünsche zu seiner Wahl fielen nüchtern aus. Auch seine Omnipräsenz in den Medien kam nicht bei jedem gut an. Im Jahr 2020 war Karl Lauterbach 30 Mal in Talkshows zu  sehen, im Jahr 2021 29 Mal. Gerade für einen SPD-Politiker ist so viel öffentliche Aufmerksamkeit ungewöhnlich, beziehungsweise muss sie sich hart erarbeitet werden. Skandale wie im Fall CumEx, die Edathy-Affäre oder eine gefälschte Doktorarbeit bringen zwar Schlagzeilen, aber noch keine  Wählerstimmen. Gerade im Wahlkampf heißt es so viel polarisieren wie nötig und so sympathisch sein wie möglich – gerade bei letzterem hatte die SPD jedoch Schwierigkeiten. Das spiegelte sich die letzten Jahre auch in den Wahlergebnissen wider, phasenweise war man hier schon über ein zweistelliges Ergebnis erleichtert.  


Immerhin kann man als Bundeskanzler neben Lauterbach nur moderat und besonnen wirken.


Dann kam die Bundestagswahl 2021, die neue Galionsfigur Olaf Scholz wurde geboren und setzte  diesem Abwärtstrend ein Ende. Genau diese Figur verschwindet jetzt gerne hinter dem Talkshow König von 2020. Aus dem Mann mit der Fliege wurde über Nacht ein Schutzschild für den Bundeskanzler, das ihn vor Negativschlagzeilen und politischer Verantwortung abschirmt.  Immerhin kann man als Bundeskanzler neben Lauterbach nur moderat und besonnen wirken. Sollte sich der Wind irgendwann drehen und das Schutzschild entweder unbeliebt oder zu ehrgeizig werden, kann man es einfach entsorgen.  

Dieses Phänomen ist in der internationalen Politik unter dem Begriff der MadMan-Strategie bekannt. Bekannt wurde die Theorie insbesondere durch die Außenpolitik des US-Präsidents Richard Nixons, zurück geht sie jedoch auf die Amtszeit Eisenhowers. Ziel der Madman-Strategie war es, Nixon als irrationalen Entscheidungsträger dastehen zu lassen, der unberechenbar handelt und zu allen politischen Manövern fähig ist. Der Gegner soll durch dieses Spiel mit der Angst in  seinem Handeln eingeschränkt werden. Im Falle Nixons war es vor allem der kommunistische  Block, der dadurch von Provokationen abgehalten werden sollte. Auch Präsident Trumps Verhandlungsstil mit Nordkorea wird oftmals mit dem MadMan-Ansatz verbunden. So ein Bluff  funktioniert nicht auf Dauer und ist ein ständiger politischer Interessenskonflikt. Realpolitisches  Kalkül trifft dabei auf innenpolitische Probleme, die dadurch entstehen, wenn sich das Land durch  die Aufrüstung etwa verschuldet oder viele Soldaten bei Abschreckmanövern sterben. Es ist ein schmaler Grad, weswegen die Strategie auch nicht oft angewendet wird. Der Vorteil einer polarisierenden Persönlichkeit liegt allerdings darin, dass sich der Rest des Gefolges als moderat verkaufen und hinter der Exzentrik des Entscheidungsträgers verstecken kann.  

Um wieder auf Scholz und sein Schutzschild zurückzukommen: An Exzentrik fehlt es dem Mann  mit der Fliege sicherlich nicht. Beim neuen Infektionsschutzgesetz saß natürlich Karl Lauterbach am Verhandlungstisch und verkaufte der FDP sein Abweichen von der ein oder anderen  Extremposition als Kompromiss. Olaf Scholz verkündete pflichtgemäß seine Zustimmung und tauchte danach wieder ab. Dadurch hält er sich politisch alle Türen offen: Sollte die nächste Coronawelle monsunartig über Deutschland hereinbrechen und innerhalb seiner Wählerschaft der Wunsch nach Maßnahmen wieder laut werden, war es die FDP, die ihn vom Handeln abhielt. Bei Kritik an den Maßnahmen war es Lauterbach, der den Gesetzesentwurf anfertigte. Journalisten  hören dann ein „Kein Anschluss unter dieser Nummer, bei Fragen zur Pandemie wenden Sie sich  bitte an den verantwortlichen Minister namens Karl Lauterbach“. Macht sich Lauterbach im  Gesundheitswesen zu unbeliebt, ist es auch ein leichtes, ihn als Bösewicht dastehen zu lassen und wieder auf die Erinnerungslücken zu verweisen. Olaf Scholz und sein Umfeld dürften gemerkt haben, dass jede weitere Krise eine zu viel für seine Kanzlerschaft sein könnte. Neben Skandalen wie CumEx oder Wirecard und einer nahenden Energiekrise scheint es sinnvoll, bei der Coronakrise Outsourcing zu betreiben. Auch wenn das heißt, dass Karl Lauterbach Gesundheitsminister ist.