Putins Propaganda der „Russkij Mir“
Von Sarah Victoria | Seit dem Angriff auf die Ukraine sind viele Europäer ratlos. Ein Krieg, also eine echte militärische Austragung von Konflikten und das auf europäischem Boden? Wie konnte so etwas nur passieren?
Im Nachhinein betrachtet zeigt sich immer mehr, dass es durchaus Anzeichen für einen russischen Angriffskrieg gab. Doch wie bei den meisten Kriegen ist es ein schleichender Prozess, der zu so viel Zerstörung führt. Krieg ist nicht nur durch Kosten-Nutzen-Analysen, geopolitische Strategien oder Statistiken zu erklären. Krieg ist kompliziert, so wie der Mensch an sich. Und gerade der Ukraine-Krieg ist besonders kompliziert, denn er ist noch nicht vorbei. Dennoch lohnt es sich, die unterschiedlichen Facetten eines Krieges genauer unter die Lupe zu nehmen. Etwa die Propaganda, also das politische Werbeprogramm, mit der Menschen dazu gebracht werden, gegen ihr angebliches Brudervolk zu kämpfen. Eines der Narrative, derer sich besonders die russische Elite gerne bedient, ist das der „Russkij Mir“. Aber was bedeutet das überhaupt?
Ein Begriff und seine Geschichte
Hinter „Russkij Mir“ verbirgt sich die Idee einer abstrakten russischen Einflusssphäre, die über die eigenen Ländergrenzen hinausreicht. Da es keine klare Definition vom Begriff gibt, ist er eher als Sammelbegriff zu verstehen. Das ergibt sich aus der sprachlichen Vorbestimmtheit vom Wort „Mir“: Wörtlich übersetzt bedeutet es „russische Welt“, wobei sich „Mir“ aber auch auf „eine Gemeinschaft“ oder gar „Frieden“ beziehen kann. Dadurch ist der Begriff im Sprachgebrauch ziemlich mehrdeutig und kann flexibel angewendet werden. Sei es der Bezug auf ein historisches Bewusstsein, auf die gemeinsame Sprache, Religion, oder einfach auf die russische Lebensrealität – all diese unterschiedlichen Facetten können Teil der Idee einer „Russkij Mir“ sein.
Die Wurzeln des Begriffs reichen weit in die russische Geschichte zurück. Zu Beginn war die „Russkij Mir“ vor allem eine poetische Metapher, die in Gedichten und Erzählungen vorkam. Nikolai Karamsin erwähnte den „russischen Volksgeist“ schon 1818 in seinen Gedichten und läutete damit die Epoche des Sentimentalismus ein. Ursprünglich lag dem Begriff vor allem der Wunsch zugrunde, im nationalen Körper eine Verbindung zwischen einfachem Volk und Elite zu finden. Ähnlich wie die europäischen Literaten des 19. Jahrhunderts, sehnte es auch die russischen Poeten nach dem Gefühl von Gemeinschaft und nationaler Zugehörigkeit. Das französische „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ fand durch Karamsins Schüler Sergej Uwarow ein russisches Pendant, das „Orthodoxie, Zarenherrschaft, Volksverbundenheit!/ Prawoslawije, Samodershawije, Narodnost! “ lautete. Anders als in Frankreich dauerte es allerdings noch, bis das Konzept auch politischen Einfluss fand.
Eine Idee wird politisch
Bis zum 20. Jahrhundert handelte es sich bei der „Russkij Mir“ um ein kulturelles Konzept, das vielleicht Teil von Folkloren war, aber noch nicht ideologisch besetzt war. Das änderte sich schon zu Zeiten der Sowjetunion, in der sich die eurasische Bewegung formte. Die eurasische Bewegung bezog sich häufig auf die metaphysische Einheit des russischen Raumes, der natürlich im Gegensatz zum germano-romanischen Teil Europas steht. Die Bewahrung dieser Einheit wurde oberstes Ziel der Ideologie – die politische und auch wissenschaftliche Bewegung zerfiel jedoch in den 1930er Jahren und fand erst nach dem Zerfall der Sowjetunion eine Rennaissance. Die neue Trias lautete fortan „Isolationismus, Globalisierungskritik und Neoimperialismus!“. Die „Russische Welt“ sollte fortan einen Gegenpol zum Westen darstellen und mutierte zu einem Synonym für die russische Einflusssphäre. Gerade in den letzten 20 Jahren prägte diese Spielart der „Russkij Mir“ immer mehr das ideologische Klima Russlands. Aus dem abstrakten Ideal wurde also erneut ein aktuelles ideologisches Konzept, das seinen Weg in Staat und Kirche fand.
Dieser Trend fällt mit der Präsidentschaft Putins zusammen. Am 12. Juli 2021 veröffentlichte der Kreml einen Artikel namens „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“ (http://en.kremlin.ru/events/president/news/66181 ) der vom russischen Präsidenten persönlich verfasst worden sein soll. Der Artikel beginnt folgendermaßen:
„Als ich kürzlich in Direct Line nach den russisch-ukrainischen Beziehungen gefragt wurde, sagte ich, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind – ein einziges Ganzes. Diese Worte wurden nicht von kurzfristigen Erwägungen getrieben oder durch den aktuellen politischen Kontext veranlasst. Es ist das, was ich bei zahlreichen Gelegenheiten gesagt habe und woran ich fest glaube.“
Alleine in diesem kurzen Abschnitt zeigt sich, wie sich aus einer bloßen Idee ein politisches Narrativ spinnen kann. „Russkij Mir“ bedeutet nun eine geopolitische Einflusssphäre, die nicht nur beliebig erweitert werden kann, sondern militärisch verteidigt werden muss – und bekanntlich ist Angriff ja die beste Verteidigung.
Der russische Präsident persönlich war es, der die Idee quasi verstaatlichte und 2007 die gleichnamige Stiftung „Russkij Mir“ gründete. Offiziell besteht ihr Ziel darin, die russische Kultur im Ausland zu fördern. Neben Spenden erhält die Stiftung jährlich rund 750 Millionen Rubel aus der Staatskasse. Der Vorsitzende ist Wjatscheslaw Nikonow, der Enkel des bekannten Politikers Wjatscheslaw Molotow. Wjatscheslaw Nikonow ist sehr stolz auf seinen bekannten Großvater, der ein enger Vertrauter Stalins war und übrigens auch der Namensgeber des Molotowcocktails ist. Molotow selbst war es, der neben 383 Hinrichtungslisten von Stalin auch den den berüchtigten Hitler-Stalin-Pakt unterschrieb. Molotow war hingebungsvoller Kommunist. Selbst als Stalin seine Ehefrau wegen ihrer vermeintlichen Verbindung zu jüdischen Nationalisten in ein Straflager schicken ließ, protestierte er nicht. Es verwundert also nicht, dass auch sein Enkel die Nähe zur politischen Elite sucht und ihr Sprachrohr der Wahl ist.
Putins prominentes Sprachrohr
Nikonow war vor seiner politischen Karriere – und seinem Dasein als Dauergast im russischen Staatsfernsehen – in der Wissenschaft tätig. Lange leitete er die historische Fakultät und auch den Lehrstuhl für Neuere Geschichte an einer Moskauer Universität. Er beschäftigte sich insbesondere mit internationalen Beziehungen, reiste dafür auch mehrmals in die USA, auf deren Politik er sich dann spezialisierte. Erst kürzlich wurde ihm der Ehrendoktortitel der University of Edinburgh aberkannt. Für Schlagzeilen sorgte er zuletzt mit seinen Äußerungen in einer russischen Fernsehsendung. Hier nannte er den Krieg gegen die Ukraine einen „ metaphysischen Kampf von Gut gegen Böse“, bei dem Russland natürlich auf der guten Seite stehe und den „heiligen Krieg“ daher unbedingt gewinnen müsse. Dabei bediente er sich den Worten des Patriachen der russisch-orthodoxen Kirche – einem weiteren engen Vertrauten Putins.
Kreml und Klerus, Hand in Hand
Auch die russisch-orthodoxe Kirche hat das Konzept der „Russkij Mir“ in den letzten Jahre aufgegriffen. Ihr Patriach, Kyrill der I., gehört zu Putins wichtigsten Vertrauten. So teilen die beiden neben ihrer Vergangenheit beim Geheimdienst auch die Vorstellung einer besonderen russischen Verantwortung für die Welt. Verantwortung übernehmen ist hierbei ein Stichwort für „den Einfluss des Westens aufhalten“. Im religiösen Rahmen heißt das vor allem, der atheistischen Ideologie zu trotzen, die ihren Weg – ausgehend von Marx, also dem Westen – nach Russland fand. Es sei die göttliche Bestimmug Russlands, ihre Brüder und Schwestern, zu denen alle Menschen der heiligen Rus zählen, von diesem Einfluss zu beschützen. Die „Rus“ ist dabei das gemeinsame Reich im Mittelalter, aus dem sowohl das heutige Russland, als auch die Ukraine und Belarus hervorgehen.
Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche sind 2009 offiziell der Stiftung beigetreten. In ihren Statements beziehen sie sich vor allem auf die religiöse Herkunft, russische Wertevorstellungen und den übernationalen Charakter der russischen Welt. Innerhalb der orthodoxen Kirche kam es durch die fortschreitende Ideologisierung zu Spannungen und durch den Kriegsbeginn auch zu Brüchen innerhalb der Kirche. Erst vor ein paar Monaten sagte sich die ukrainisch-orthodoxe Kirche vom Moskauer Patriarchat los. Ebenso kam es in jüngster Zeit zu Personalwechseln in der Führungsetage der Kirche, Metropolit Hilarion, ehemals rechte Hand von Patricharchat Kyrill, wurde durch Kyrills Sekretär ersetzt. Interessant erscheint dieser Machtwechsel, da es vor allem Hilarion war, der die Idee der „russischen Welt“ nicht nur auf dem kirchlichen Fernsehsender, sondern auch im Staatsfernsehen vertrat. In den wöchentlichen Interviews äußerte er sich im Vergleich zu Kyrill wenig politisch und verwies auffällig häufig auf die Bedeutung des Friedens – nun wird jemand anderes die russisch-orthodoxe Zuschauerschaft auf politischer Linie halten müssen.
Gerade den Ukrainern ist das Konzept der „Russkij Mir“ nur allzu gut vertraut. Alleine in der Präambel der Verfassung der Volksrepublik Donezk, die nach dem Euromaidan 2014 ausgerufen wurde, findet man das Wort „Russkij Mir“ fünf Mal. Zudem reichten Putins Sprachrohre auch bis in die Ukraine herein – bislang jedenfalls. Seit dem 24. Februar diesen Jahres dürfte sich das geändert haben. Es bleibt abzuwarten, was die Zukunft bringen wird. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt – und damit auch die Hoffnung, dass sich die „Russische Welt“ möglichst bald aus dem Narrativ des Kremls befreien kann.
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Danke, sehr informativ!