Pädagogischer Spielraum und Machtmissbrauch

Von Laura Werz | Die „mündliche Mitarbeit“ ist ein Dauerbrenner, wenn es zu einer Diskussion um das Schulsystem in Deutschland kommt. Sie stellt nicht nur das wesentliche Bewertungssystem in unseren Schulen dar, sondern bestimmt maßgeblich den schulischen Alltag und begründet ein untragbares Abhängigkeitsverhältnis zwischen Lehrern und Schülern. Mindestens 50% der Gesamtnote hängt davon ab, wie oft man seinen Finger in einer 45-minütigen Stunde in die Luft hält. Nicht selten sind es sogar 70%, welche der Willkür des Lehrers unterworfen sind. Ich habe die Schule vor nunmehr fast einem Jahr, mit dem Abitur in der Tasche, verlassen können und bin jeden Tag glücklich, diesen Ort der blinden Willkür, Anbiederung und Abhängigkeit nie wieder betreten zu müssen. Schon zu Schulzeiten war es für mich unbegreiflich, warum den Lehrern diese Form der Macht über die Schüler gegeben wird.

Die Folgen, Konsequenzen und vermeintlichen Vorteile habe ich 7 Jahre lang auf dem Gymnasium täglich beobachten und selbst erfahren müssen. Aber was spricht überhaupt dafür, Lehrern einen so großen subjektiven Bewertungsspielraum einzuräumen? An erster Stelle wird gerne angeführt, dass es in der Schule nicht nur um Wissensvermittlung geht, sondern auch menschliche Komponenten berücksichtigt werden müssen, wie die Sozialkompetenz, die Teamfähigkeit, oder das Engagement. In meiner Schulzeit habe ich wohlbemerkt zu jedem Zeugnis noch ein zusätzliches „Sozialzeugnis“ bekommen, in welchem eben diese Kompetenzen bewertet wurden – und trotzdem durfte sich mein Physiklehrer 70% meiner Fachnote ertanzen. Dabei zeigen gerade die schriftlichen Leistungen am besten, ob der Schüler das nötige Fachwissen aufweist und im entscheidenden Moment abliefern kann. Grundsätzlich stimme ich zu, dass auch menschliche Aspekte in der Schule Berücksichtigung erfahren sollten. Allerdings sollte dabei keinesfalls vergessen werden, was schlussendlich der wesentliche Auftrag der Schulen ist: das Lehren und Lernen. Die Erziehung und Sozialisierung ist in allererster Linie Aufgabe der Eltern – auch wenn unsere Regierung konsequent versucht, sich dieses Privileg der Eltern peu à peu durch absurde Lehrpläne zu eigen zu machen.

Die Bewertung der „sozialen Mitarbeit“ führt zu einer bodenlosen Vernachlässigung des Lehrauftrags, sowie der Lernwilligkeit der Schüler. Schüler merken schnell, ob die notwendige Sympathie von Seiten des Lehrers vorhanden ist, um die gewünschte Note zu erzielen. Es ist demensprechend frustrierend, wenn man von vorherein weiß, dass man seine hart erarbeitete schriftliche Note nie auf dem Zeugnis bewundern wird, weil die Chemie zwischen Lehrer und Schüler einfach nicht stimmt. Ich möchte Lehrern nicht generell unterstellen, ihre Lieblingsschüler zu gut und andere extra schlecht zu bewerten – wobei auch das keine Seltenheit ist. Das ein subjektiver Eindruck des Lehrers von dem jeweiligen Schüler allerdings immer Ausschlag in der mündlichen Note findet, ist nicht von der Hand zu weisen. Menschen können nicht absolut objektiv sein und es ist närrisch absolute Objektivität von ihnen zu fordern – doch ebendiese Objektivität setzt das schulische Bewertungssystem voraus. Darüber hinaus ist zweifelhaft, wie fundiert der Eindruck eines Lehrers von einem Schüler überhaupt sein kann, welchen er 45 Minuten in der Woche in einem Meer von 30 weiteren Schülern zu Gesicht bekommt. Da ist es nicht sonderlich verwunderlich, dass er am Ende des Jahres von dem ein oder anderen noch nicht einmal den Namen kennt.

Die allermeisten Schüler werden bei der obligatorischen Notenbesprechung vor den Zeugnissen folgenden Satz gehört haben: „Du bist leider ein wenig zu still“, oder „Ich gebe dir dieses Mal nur eine drei, um dich für nächstes Jahr zu motivieren“. Was maßen sich die Lehrer eigentlich an, Schülern aufgrund ihres Bewertungsspielraums, eine schlechtere Note zu geben – zur Motivation?! Ganz abgesehen davon, dass diese Motivationsstütze ihren vermeintlichen Zweck in den seltensten Fällen erfüllt. Früher oder später geht es allerdings nicht mehr nur um die Frustrationsgrenze der Schüler, sondern um die Bewerbung an einer weiterführenden Schule, oder einer Universität. An dieser Stelle entfalten die 50% oder 75% Bewertungsspielraum ungeahnte Möglichkeiten der nachhaltigen Diskriminierung von ruhigen und zurückhaltenden Menschen.

Das System geht zu Lasten der „zu stillen“ Schüler, von welchen der Großteil sich schlichtweg nicht in übertriebener Selbstdarstellung und Aufmerksamkeitserregung selbstverwirklichen kann und will. Es gib nun einmal extrovertierte und introvertierte Menschen. Warum muss die eine Gruppe in der Schule konsequent und systematisch benachteiligt werden? Wir erziehen in Schulen Labertaschen, Schleimer und Ichdarsteller heran. Das meistedessen, was im Unterricht von den großen Mitarbeitern zum Besten gegeben wird, bringt weder den Unterricht noch sie selbst in fachlicher Weise oder sonst irgendjemanden weiter, denn Quantität geht vor Qualität und wird mit guten Noten belohnt. Ziel der Schüler ist es dementsprechend, eine Dauerpräsenz aufrecht zu erhalten, damit der Lehrer sich am Ende des Schuljahres doch noch an ihren Namen erinnert.

In den letzten beiden Schuljahren, die ja für das Abitur zählten, habe ich ein mir zuvor völlig unbekanntesBuhlen um die Zuneigung der Lehrer erleben müssen. Mich selbst kann ich an dieser Stelle fairerweise nicht ausnehmen. Wie die meisten meiner ehrgeizigen Freunde, hatte ich einen bestimmten Notenschnitt zum Ziel, den ich für mein Wunschstudium erreichen musste und gute Noten sind bekanntermaßen gleichbedeutend mit der Beliebtheit bei den Lehrern. Schriftlich eine 5 zu schreiben ist kein Problem, solange der Lehrer dich aufgrund herausragender mündlicherBeteiligung noch auf eine Gesamtnote von 2 emporheben kann. Da erscheint es effizienter, seine Zeit und Energie in die Meinung des Lehrers, statt in das Pauken von Fachwissen zu stecken. Es war nie so leicht, ein sehr gutes Abitur zu machen, ohne jemals den Dreisatz verstanden- oder Faust gelesen zu haben.

Ehrgeizige Schüler glänzen vorrangig nicht mehr durch Wissen oder Leistung, sondern dadurch, zu wissen, was der Lehrer hören möchte und die Meinung des Lehrers stets schmeichelnd zu bestätigen. Und jene uninteressierten und auch schlechten Schüler, welche früher als Zappelphillips und Quatschtanten in die Geschichte eingingen, profitieren heute von ihrer extrovertierten Natur und werden auf Kosten der Lernwilligen trotz unterdurchschnittlicher Leistungen von unserem Schulsystem mitgetragen. Das Ergebnis sind Massen von Abiturienten aus einerseits ungebildeten Dauerquatschernund andererseits anbiedernden autoritätshuldigenden jungenMenschen, welche allesamt zu den Universitäten pilgern, um unbedingt zu studieren.

Wir haben aus unseren Schulen vor vielen Jahren den Leistungsgedanken verbannt und züchten obrigkeitshörende unreflektierte und unkreative Menschen heran, denen nie gelehrt wurde, selbstständig zu denken und zu hinterfragen. Es ist daher mehr als überfällig, die Gewichtung der mündlichen Noten stark zu reduzieren und irgendwann ganz abzuschaffen, sodass eine Abhängigkeit der Schüler von den Lehrern die Lehrer nicht mehr von ihrer Lehrpflicht befreit und den Schülern nicht mehr die Lernbereitschaft raubt.