Orgien, Lebenslust und wilde Gelage – aber nur für die Kamera

Von Pauline Schwarz | Es ist so weit. Die Corona-Maßnahmen sind weg. Jetzt heißt es: endlich raus auf die Piste, in die Bars, Restaurants und Clubs. Also: Halleluja, wir können wieder leben! Junge Leute können wieder junge Leute sein, das Leben genießen, tanzen, feiern, trinken und lachen. Und das tun sie ausgiebig – zumindest für Social-Media. Heutzutage versucht man sich bei Instagram, TikTok, SnapChat und Co nämlich gegenseitig zu überbieten, wer am meisten Spaß oder den geileren Urlaub hat und wer die fetteste Party macht. Es geht um den perfekten Hintergrund, coole Klamotten, kurze Röckchen, Bikini-Posen, fesche Tanz-Moves und Champagner-Sausen. Das Leben ist schön – doch dann geht die Kamera aus. Plötzlich lacht keiner mehr. Jeder sitzt an seinem Handy, man hat sich nichts mehr zu sagen.
Das Social-Media-Universum war schon immer ein Verein von Selbstdarstellern und Realitätsaufhübschern – deshalb habe ich irgendwann selbst Facebook gelöscht. Ich war noch nie besonders fotobegeistert, hatte keine Influencer-Ambitionen und interessierte mich auch nicht dafür, was irgendein entfernter Bekannter gestern wieder Tolles gegessen hat – geschweige denn, welchen neuen kreativen Fitness-Trick er sich ausgedacht hat. So à la „ich mache Liegestütze mit meinem Hund auf dem Rücken und balanciere dabei einen Grünkohl-Smoothie auf meinem Kopf. Ich bin die Lässigkeit in Person“. Die Heuchelei ist also nichts Neues und bis zu einem gewissen Grad ist das ja auch noch okay, denn: Klar, jeder will ein bisschen cooler wirken als er ist – sei es auf Social-Media oder der Straße, wenn gerade ein interessanter Typ oder ein hübsches Mädel vorbeiläuft. Mit der Post-Corona-Lebensglücks-Darstellung haben wir aber eine neue Eskalationsstufe auf der Seht-mich-alle-an-ich-bin-ach-so-glücklich-und-toll-Skala erreicht. Denn so richtig glücklich scheinen die meisten Leute nicht – im Gegenteil.
Meine Feldstudie im Urlaub
Während meines letzten Urlaubs konnte ich eine kleine Feldstudie an jungen Leuten aus aller Welt durchführen – der Social-Media-Virus ist nämlich wirklich eine nationenüberschreitende Seuche. Und das Ergebnis war heftig. Ich hatte den Eindruck, dass kaum einer mehr ausgeht, um jemanden kennenzulernen, sich ein bisschen was zu trauen und auszuprobieren oder schlicht, um mit seinen Freunden einen schönen Abend zu verbringen. Eigentlich wirkten die meisten jungen Leute verdammt depressiv – sie brauchten immer erst so drei bis vier in einem Affenzahn runtergekippte Drinks, um überhaupt ein paar Worte miteinander zu wechseln. War der Kontakt-Pegel erreicht, startete man langsam, aber sicher, seinen Kampf an der Instagramm-Front. Dafür muss als erstes irgendein cooles Gimmick her, z. B. eine Shisha. Hat man seine Requisiten beisammen, wird ein Video nach dem anderen abgedreht, in dem man lässig den Rauch in die Kamera bläst, während man seine Hüften im Takt der Bässe kreisen lässt und ab und an nochmal den Arm als Party-Statement nach oben schwingt.
Man muss sich das so vorstellen: Da sitzen -zum Beispiel- zwei irische Jungs Anfang zwanzig mit einem blonden Mädel mit ausladendem Dekolleté und mehr als nur kurzen Röckchen am Tisch und trotzdem schenkt keiner der kurvigen Blondine Beachtung. Sie selbst beschäftigt sich auch lieber mit ihrem Handy, als mit einem der Kerle. Jeder macht für sich ein Video oder gleich einen Live-Call mit irgendeinem Freund in der Heimat, dem man zeigen will, wie neidisch er auf den Urlaub des anderen sein sollte. Das Gegenüber wird höchstens als weitere Requisite in das SnapChat-Video eingebaut – und hat damit, allen Ernstes, nicht mehr Relevanz als die Shisha. Zwischen den Videos wird kein Wort gesprochen. Es wird auch nicht mehr getanzt oder auch nur mit dem Kopf zur Musik gewippt. Schaut man sich die Gesichter der aufgestylten Jungs und Mädels genauer an, sehen sie eigentlich ziemlich traurig und fertig aus. Für sie scheint die Lösung ihrer Depression: jede Menge Alkohol und eine kräftige Portion Selbstdarstellung.
Ich hoffe, ihre Mütter sind zu alt, um das Internet zu benutzen
Ein anderes Musterbeispiel kam aus Italien: Ein Kerl Anfang dreißig betrat die Bar, in der ich gerade die ulkigen Iren beobachtete, mit einem Kamera-T-Shirt – ja richtig gehört. In das T-Shirt des Typen war eine Kamera integriert. Und das war nicht nur ihm, sondern auch seinen zwei torkelnden Komparsinnen, sehr bewusst und wichtig. Die Frauen konnten keine drei Meter weit laufen, ohne ihren Hintern mindestens einmal in die Kamera zu halten und ihn kräftig zu schütteln – ich dachte nur: hoffentlich sind ihre Mütter, Väter und Omas zu alt, um zu wissen, wie man das Internet benutzt. Und das dachte ich in diesem Urlaub wirklich oft, denn am Strand war es mindestens genauso schlimm, wie abends in der Bar.
Die jungen Leute können und wollen anscheinend selbst dort überhaupt nicht mehr entspannen – nicht mal bei Sommer, Sonne, Sonnenschein und 30 Grad am Meer. Aber wie soll das auch gehen, eine gute Story zu posten ist harte Arbeit und die Jugend von heute arbeitet wirklich rund um die Uhr. Ohne dass noch so etwas komisches, wie Schamgefühl in den Leuten hochkommen würde, wird in aller Öffentlichkeit kräftig rumposiert. Der Hintern wird über Stunden in jeder erdenklichen Pose vor dem Meer in die Kamera gestreckt, während der rekrutierte Fotograf Anweisungen gibt, wie kleine Speckröllchen am Bauch verschwinden oder der Allerwerteste noch ein bisschen runder und voluminöser aussieht. Ist unter den siebenhunddertfünfundachtzig Bildern eines, das gefällt, wird vielleicht nochmal das Gesicht abgebildet – am besten mit einem Cocktail. Bei dreißig Grad in der Sonne wird um 12 Uhr nämlich nicht selten schon das vierte Bier, die zweite Flasche Schampus oder der obligatorische Sex on the Beach geköpft.
Eigentlich ist es nicht lustig, sondern traurig
Solange das nicht in lautem Grölen, Gekotze und dem unerlaubten Tanz auf meinem Handtuch endet – have fun. Und ja, ich geb‘s zu: Die angesüffelt-süffisanten Instagrammer und Influencer belustigen mich bis zu einem gewissen Grad – wenn die junge spanische Chica beim Posen im Wasser über einen Stein stolpert und mit dem Gesicht voran hinein plumpst, sieht das schon ziemlich witzig aus. Und lästern tu ich als stolze Vertreterin der weiblichen Spezies eh gerne. Die ganze Sache an sich ist aber eigentlich nicht lustig, sondern traurig. Die jungen Leute von heute, vom Schulalter bis in die Dreißiger, wissen überhaupt nicht mehr, wie man im hier und jetzt, also in der Realität, lebt. Sie essen komische Dinge, die nicht schmecken und quälen sich so lange im Fitness-Center, bis sie den vermeintlich perfekten Körper haben. Den stellen sie dann im Internet zur Schau – freilich nicht, ohne noch drei Filter drauf zu klatschen, so dass man sie am Ende überhaupt nicht mehr wiedererkennt. Und dabei tun sie dann unter Zuhilfenahme von Alkohol auch noch so, als hätten sie nach dem heißersehnten Ende der „Pandemie“ nun die Zeit ihres Lebens.
In Wirklichkeit scheinen viele junge Leute ihre Lebenslust und Freude, sofern sie nicht schon durch Körper- oder Klimawahn ausgetrieben wurde, in den letzten zwei Jahren sozialer Isolation und Panikmache völlig verloren zu haben. Darüber täuscht auch kein aufgesetztes Lächeln, keine Bootstour auf Santorini und keine Champagner-Sause hinweg.