Nein, wir müssen Karl Lauterbach nichts anrechnen
Von Boris Cherny | In letzter Zeit ist Karl Lauterbach wie verwandelt. Die letzten Winter brachte der Gesundheitsminister damit zu, die Bürger vor der nächsten Killer-Variante des Coronavirus zu warnen. Doch seit Anfang 2022 kippte die Stimmung. Im April scheiterte die Impfpflicht und beendete damit auch vorerst Karl Lauterbachs politischen Aufstieg.
Nun, rund ein Jahr nachdem in Deutschland durch autoritäre Maßnahmen Ungeimpfte in fast allen Lebensbereichen diskriminiert waren, wird der Ruf nach Aufarbeitung immer lauter. Erst stimmten bürgerliche Medien wie die WELT in den Chorus ein, doch auch öffentlich-rechtliche Veröffentlichungen setzten sich zunehmend kritisch mit Impfung und Maßnahmen auseinander. Die Sendung ZDF heute beispielsweise, als diese Ende Mai 2022 in einem Beitrag erstmals deutlich und klar die Maßnahmen in ihrer Wurzel kritisierte. Kritisches Nachfragen war im Mainstream angekommen. Die ersten Politiker, beispielsweise der Ministerpräsident von Sachsen, Michael Kretschmer, gestanden die Fehlerhaftigkeit einiger Maßnahmen und vor allem die Kommunikation mit den Bürgern letztendlich ein.
Karl Lauterbach ist diesen Politikern innerhalb der letzten Wochen gefolgt. Im heute Journal zählte er Ausgangssperren und Maskenpflichten im Freien zu „drakonischen Maßnahmen“, die man jetzt nicht erneut machen würde. Diese Maßnahmen seien durch Studien nie (!) wirklich gut gedeckt gewesen. Lauterbachs plötzliche Konvertierung zum Querdenkertum mutet eigenartig an. Er war das Gesicht des Staates während der Corona-Krise. Als Berater von Merkel und als Gesundheitsminister hat er den meisten eben dieser „drakonischen Maßnahmen“ selbst erheblichen Vorschub geleistet.
Seinen Handlungen haben wir Massen an psychisch geschädigten Kindern, Menschen mit schweren Impfschäden, eine zerspaltene Gesellschaft und ein langfristig zerstörtes Vertrauen in die staatlichen Institutionen zu verdanken. Die Corona-Politik seines „Team Vorsicht“ Lagers war ein Desaster. Lauterbach versucht, sich nun herauszuwinden. Er geht dabei einen Mittelweg. Er gesteht Fehler der Politik ein, doch benennt sich dabei selbst nie als der letztendlich Verantwortliche. Was Lauterbach hier betreibt, ist ein Bilderbuchbeispiel von Gaslighting.
Auch außerhalb des Interviews mit dem heute Journal, beispielsweise im Spiegel-Doppel-Interview mit Christian Drosten oder in Markus Lanz Talkrunde, gibt sich Lauterbach geläutert, doch mehr auch nicht. Die Opfer der staatlichen Maßnahmen werden keine Entschädigungen erhalten, nicht einmal Entschuldigungen. Von einem Rücktritt kann gar nicht die Rede sein.
Doch indessen tritt ein interessantes Phänomen auf. Bürgerlich-liberale öffentliche Personen, die sich während der Corona-Zeit durchaus gegen die staatlichen Maßnahmen engagierten, scheinen Lauterbachs heuchlerische Eingeständnisse abzukaufen. Unlängst tweetete BILD-Journalist Filipp Piatov, man müsse es Lauterbach „hoch anrechnen“, dass er „Fehler aus dem eigenen Corona-Lager offen zugibt und sich nicht scheut, eine öffentliche Diskussion zu verlieren“. Der Tweet kam verhältnismäßig gut an. Likes bekam Piatov unter anderem von Jan Fleischhauer und Jonas Schmidt-Chanasit. Der anonyme Twitter User Liberal Mut, mit fast 19.000 Twitter Followern, nannte Lauterbach eine „ehrliche Haut“.
Diese durchaus vernünftigen Leute begehen damit einen Fehler. Sie gehen auf Lauterbach ein und scheinen seine Entscheidungen zu relativieren. Sie bremsen die öffentliche Debatte um Lauterbachs Person als Gesundheitsminister unwillkürlich aus. Doch diese Menschen machen diesen Fehler aus einem noblen Grund. Bei Deutschlands aktuellen Zustand ist es freilich löblich, wenn eine Seite des politischen Diskurses Fehler eingesteht. Das dann noch zu kritisieren, spaltet die Gesellschaft nur noch weiter, so zumindest die Logik. Doch die Causa Lauterbach bildet eine Ausnahme.
Zu keinem Zeitpunkt während der Corona-Krise hatte der heutige Gesundheitsminister Gegnern Ehrlichkeit angerechnet. Er forderte erbarmungslos und unablässig neue „drakonische Maßnahmen“ und beteiligte sich an der Diskriminierung der Ungeimpften. Er hat die Gesellschaft selbst wie kaum ein anderer gespalten. Wer Spalter kritisiert, ist selbst nie Spalter.
Man denke nur an die zahlreichen einfachen Menschen im Land, die unter den staatlichen Maßnahmen gelitten haben: Krankenschwestern, die sich nicht erpressen ließen und deshalb ihren Job verloren haben. Jugendliche, die zwei Jahre ihrer besten Zeit verloren haben. Senioren, die im Altenheim ohne Familienbesuch vereinsamten. Keiner dieser Menschen, auch nicht Filipp Piatov, muss es Lauterbach anrechnen, dass er die Deutschen zwei Jahre Corona Maßnahmen vergessen lassen möchte.