Michail Gorbatschow: Kein Held, aber auch kein schlechter Verlierer
Von Sarah Victoria | Michail Gorbatschow wurde 91 Jahre alt. Am 30. August starb der ehemalige Staatschef der Sowjetunion, am Wochenende findet seine Beerdigung statt. In die deutsche Geschichte wird er als Wegbereiter der Einheit eingehen – als Visionär, der mit dem zwei-plus-vier-Vertrag den Weg zur Wiedervereinigung ebnete und durch seine Diplomatie das Ende des Kalten Krieges einleitete. Die politische Bühne verließ Gorbatschow schon vor einer ganzen Weile, gerade nach dem Tod seiner Ehefrau Raissa verbrachte er seine Zeit vor allem mit seiner Familie – etwa am Tegernsee, wo Gorbatschow bis vor kurzem das „Hubertus Schlössl“ gehörte.
Während die Nachrufe im Westen Gorbatschow als Helden zeichnen, fallen die Reaktionen im östlichen Europa reservierter aus. In Litauen etwa stößt das Narrativ des friedlichen Staatsmannes auf Widerstand. Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte verhinderte Gorbatschow nicht, dass am 13. Januar 1991 Panzer nach Litauen losgeschickt wurden um Protestbewegungen niederschlagen zu lassen („Blutsonntag von Vilnius“). In der Ukraine wird sich an die Tschernobyl-Katastrophe von 1986 und an Aussagen Gorbatschows erinnert, in denen er die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung kritisiert. Und gerade in Russland wird das Trauma des Zerfalls der Sowjetunion auf Gorbatschow projiziert. Als „Totengräber der Sowjetunion“ soll er Russland endgültig ins Chaos gestürzt und dem Westen ausgeliefert haben. Veranschaulicht wurde dieser Vorwurf unter anderem in diesem legendären PizzaHut-Werbesport, an dem Gorbatschow persönlich mitgewirkt hat:
Während der Werbespot natürlich ein positives Resümee aus der Gorbatschow-Ära zieht, nehmen ihm einige Menschen bis heute den Zerfall der Sowjetunion übel. Die eigentliche Ursache des Problems, eine totalitäre Diktatur mit systematischen Schwächen, wird dabei ausgeblendet und auf eine einzelne Person übertragen – den „Landesverräter Gorbatschow“. Dieses Narrativ nutzten schon jene KpdSU-Funktionäre, die im Augustputsch 1991 verzweifelt versuchten, ihre Macht zu sichern. Und auch Putins Aussagen lassen vermuten, dass er 1991 wohl kein Plakat von Gorbatschow in seinem Petersburger Zimmer hängen hatte.
Gorbatschows Politik wa nicht ohne Schattenseiten. Aber Gorbatschows Reformen schufen auch zumindest ein gewisses Fundament für ein demokratisches Russland, das in der globalen Gemeinschaft verankert sein sollte. Selbst als überzeugter Sozialist blickte er am Ende der Wahrheit ins Gesicht. Er erkannte, dass das sowjetische System zerfiel und versuchte nicht verzweifelt, diesen Zerfall im großen Stil gewaltsam zu verhindern. Er scheiterte politisch – jedoch mit so viel Einsicht, dass genau dieses Scheitern zum Vermächtnis wurde: Aus Satellitenstaaten konnten freie Staaten werden, ein geteiltes Deutschland wurde wieder ganz. Gorbatschow nahm Friedensgespräche auf, stimmte der nuklearen Abrüstung zu und erhielt 1990 sogar den Friedensnobelpreis. Tragisch nun, dass sein Todesjahr einen erneuten Krieg markiert – und dann auch noch mit der Ukraine, dem Herkunftsland seiner Mutter. Das Statement der Gorbatschow-Stiftung zum Ukrainekrieg erschien drei Tage nach Kriegsbeginn. Natürlich wird der amtierende Präsident nicht persönlich erwähnt, die Botschaft ist allerdings eindeutig:
„Im Zusammenhang mit der am 24. Februar begonnenen Militäroperation Russlands in der Ukraine bekräftigen wir die Notwendigkeit einer baldigen Einstellung der Feindseligkeiten und der sofortigen Aufnahme von Friedensverhandlungen. Es gibt nichts Wertvolleres auf der Welt als Menschenleben. Verhandlungen und Dialog auf der Grundlage gegenseitiger Achtung und Anerkennung der Interessen sind der einzig mögliche Weg, um die schärfsten Widersprüche und Probleme zu losen. Wir unterstützen alle Bemühungen, die auf die Wiederaufnahme des Verhandlungsprozesses abzielen.“
Putins Pressesprecher ließ schon verkünden, dass der russische Präsident bei der Trauerfeier nicht anwesend sein wird. Anders als der Tod Schirinowskis ist Gorbatschows Ableben anscheinend nicht mit seinem Terminkalender vereinbar. Ein paar rote Rosen am offenen Sarg und ein distanziertes Kondolenzschreiben des Kremls müssen ausreichen, immerhin hat der Präsident Wichtigeres zu tun. Wie Schulklassen in Kaliningrad zu besuchen und Kindern von einer Spezialoperation zu erzählen – wichtige Staatsaufgaben halt.
Man stelle sich nur vor, wie die Beerdigung wohl ohne Krieg ausgesehen hätte. Vielleicht hätte es ein großes Staatsbegräbnis gegeben, zu dem Politiker und Botschafter aus aller Welt nach Moskau gereist wären. Die Beerdigung hätte ein internationales Großereignis werden können. Stattdessen offenbart sich am Tod Gorbatschows einmal mehr, wie weit sich die politische Elite in Russland vom Reformgeist entfernt hat.
Gerade Gorbatschows Leben lehrt uns, wie wichtig es ist, dass man einsieht, wenn die eigene Zeit an der Macht vorbei ist und der Veränderung nicht im Weg steht – und dass es immer Hoffnung auf Veränderung gibt.