Meine Reise durch Dunkeldeutschland
Von Leon Hendryk | Als verantwortlicher Bürger dieses Landes konsumiere ich ausschließlich unsere deutschen Qualitätsmedien. Qualitätsmedien sind die Medien, die dafür sorgen, dass der Zuschauer oder Leser immer die richtige Meinung hat und niemals die falsche. Falsche Meinungen sind nämlich gefährlich. Nur was von unserem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den anderen großen Mainstreammedien veröffentlicht wird, kann uneingeschränkt Glauben geschenkt werden. Alle anderen Medien sind hingegen gefüllt mit rechten Verschwörungstheorien und sonstigen dummdreisten Unwahrheiten. Woher ich das weiß, obwohl ich sie gar nicht lese? Na, aus unseren Qualitätsmedien natürlich!
Die Qualitätsmedien leisten einen wichtigen Beitrag zum Schutz der Demokratie des besten Deutschlands aller Zeiten. Als Westdeutscher lebe ich in diesem besten Deutschland aller Zeiten und bin sehr froh, dass meine Demokratie geschützt wird. Denn leider gibt es auch noch ein anderes Deutschland: Dunkeldeutschland. Dunkeldeutschland, wie es unser ehemaliger Bundespräsident nannte, umfasst ganz Ostdeutschland, mit Ausnahme von Berlin, und ist ein erschreckender Ort. Bevölkert wird es von springerstiefeltragenden Nazihorden, die nicht nur dumm, sondern auch faul sind. Nachdem sie gegen elf Uhr morgens ihr Bett verlassen haben, gönnen sie sich ein paar Dosen Billigbier als Frühstück und fahren dann im Dieselauto zur nächsten Nazi-Demo, auf der sie lauthals „Ausländer raus!“ grölen. Warum sie dies tun ist mir nicht ganz klar. Schließlich soll es in Dunkeldeutschland ohnehin keine Ausländer geben, denn auf diese werden regelmäßige Hetzjagden veranstaltet, so wie etwa in Chemnitz. Woher ich all das weiß, obwohl ich dort noch nie war? Na, aus unseren Qualitätsmedien natürlich!
Trotz all dem hatte ich den Entschluss gefasst, dieses mir fremde Land einmal zu bereisen. Das 9-Euro Ticket bot mir daher die perfekte Gelegenheit den „braunen Sumpf“, wie Vice Dunkeldeutschland in einem Artikel nannte, zu besuchen. Vice nimmt es zwar mit der journalistischen Qualität eigentlich nicht so genau, ist aber sehr links und deshalb ohne Zweifel ein Qualitätsmedium, zu dem ich vollstes Vertrauen habe. Im gleichen Artikel wurde vor „Horden von Glatzköpfen, die durch ostdeutsche Kleinstädte marschieren“ gewarnt. Ein bisschen mulmig war es mir nach dieser Beschreibung schon, aber ich nahm all meinen Mut zusammen als ich an diesem Tag in die erste von vielen überfüllten Regionalbahnen stieg und mich in Richtung Osten aufmachte. Allzu schlimm würde es schon nicht werden. Vielleicht wäre es mir sogar möglich den ein oder anderen Dunkeldeutschen zu den Qualitätsmedien zu „bekehren“. Möglicherwiese könnte ich sie sogar davon überzeugen, die „Zeit“ zu abonnieren. Konnten Dunkeldeutsche eigentlich überhaupt lesen? Nun ja, ich würde es herausfinden.
Die ersten Tage meiner Reise verbrachte ich in Gotha, einer schmucken Kleinstadt im Westen Thüringens. Trotz ihrer relativ geringen Bevölkerungszahl hat Gotha eine große Geschichte als ehemalige Residenzstadt. Selbst das englische Königshaus hat Vorfahren aus Gotha und trug bis 1917 noch den Titel „von Sachsen-Coburg und Gotha“.
Was mich wunderte, als ich am frühen Abend vom Bahnhof kommend durch Gotha schlenderte war, dass ich nirgendwo braune Horden erblicken konnte, die samt Baseball-Schlägern und Hakenkreuzflaggen über das mittelalterliche Kopfsteinpflaster marschierten. Lediglich ein paar andere Touristen irrten wie ich in der fast leeren Innenstadt herum, während sich eine uralte Straßenbahn rumpelnd und quietschend die Hauptstraße entlang schob. „Nun ja, vielleicht sitzen die Nazis gerade in einer heruntergekommenen Kneipe am Stammtisch und versaufen ihr Arbeitslosengeld“, dachte ich mir. Stammtische, das hatte ich in den Qualitätsmedien gelernt, sind Orte in denen sich „das Pack“ (frei nach Sigmar Gabriel) abends versammelt und gegen Ausländer, Frauen und andere Minderheiten hetzt.

Seltsamerweise konnte ich auch in den kommenden Tagen keine Nazis in Gotha entdecken. Ganz im Gegenteil, die Menschen in Gotha sahen eigentlich ganz normal aus und waren freundlich und zuvorkommend. Als ich eines Abends an einer großen Gruppe junger Afrikaner vorbeiging die sich, dem Geruch nach zu urteilen, gerade ein paar Joints widmeten während sie mich mit feindseligen Blicken musterten, fühlte ich mich sogar fast wie zuhause im Westen. Wie konnte es sein, dass diese Fachkräfte noch keiner Hetzjagd zum Opfer gefallen waren? Vielleicht war Gotha einfach die Ausnahme, sozusagen ein heller Fleck mitten in Dunkeldeutschland. Und das, obwohl in Gotha ein AfD Politiker als Direktkandidat in den Bundestag gewählt worden war. Verwundert und fast ein wenig enttäuscht machte ich mich einige Tage später auf den Weg nach Erfurt.

Erfurt ist nicht nur die Hauptstadt Thüringens und bekannt für seine malerische Altstadt, sondern auch Schauplatz des größten Tabubruchs der deutschen Geschichte seit 1945. Jeder, der regelmäßig unseren Qualitätsmedien folgt weiß jetzt natürlich wovon ich rede: Der Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten. Dieser war zwar FDP Politiker, hatte aber alles Ernstes die Dreistigkeit besessen, sich von der AfD mitwählen zu lassen. Der „Skinhead Kemmerich“ (so die TAZ) hatte damit ganz klar rote Linien überschritten. Wo kämen wir denn hin, wenn Politiker einfach so Wahlen annehmen, ohne ihre Wähler davor einen Gesinnungstest zu unterziehen? Demokratie bedeutet schließlich Herrschaft des Volkes, nicht Herrschaft des rechten Pöbels.

Glücklicherweise ließ Angela Merkel, die beste Kanzlerin die das beste Deutschland aller Zeiten je hatte, die Wahl kurzerhand rückgängig machen und rettete so unsere Demokratie. Dadurch wurde wieder ein echter Menschenfreund zum Ministerpräsidenten, nämlich Bodo Ramelow. Der stammt aus einer absolut demokratischen Partei, genauer gesagt der Linken. Früher hieß die Linke mal PDS und davor „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“, kurz SED. Ramelows Partei hatte früher die Menschen in Ostdeutschland, noch bevor es Dunkeldeutschland hieß, durch einen antifaschistischen Schutzwall vor widerlichem Nazi-Gedankengut geschützt. Gut, dass so jemand nun wieder an der Spitze des Staates Thüringen steht!

Vermutlich war es Bodo Ramelow und seinen edlen Regierungsgenossen aus SPD und Grünen auch zu verdanken, dass ich in Erfurt nicht einen einzigen grölenden Neonazi zu Gesicht bekam. Selbst als ich mich für einen Tagestrip aus der Stadt wagte, um das südlich von Erfurt gelegene Freilichtmuseum Hohenfelden zu besuchen, konnte ich keine derartigen Umtriebe entdecken. In meiner lokalen Tageszeitung, einem echten Qualitätsmedium, hatte ich allerdings gelesen, dass der Osten „abgehängt und verunsichert“ sei und die Menschen dort oft arbeits- und perspektivlos. Wo, wenn nicht in der thüringischen Provinz würde ich dies nun endlich beobachten können? Leider wurden meine Hoffnungen, in Ruinen hausende und nach Bier stinkende Hartz-4-Ossis zu Gesicht zu bekommen, bitterlich enttäuscht. Stattdessen, schaukelte sich der Linienbus, der mich durch das ländliche Dunkeldeutschland beförderte, durch schöne Dörfer voller gepflegter Einfamilienhäuser.

Ich muss schon sagen, dass mich diese Reise bis jetzt ein wenig irritiert hatte. Nichts von alldem was ich über Dunkeldeutschland gelernt hatte schien zu stimmen. Konnte es etwa sein, dass die Qualitätsmedien mich belogen hatten? „Nein!“ sagte ich mir schnell und erschrak, dass mir dieser Gedanke überhaupt in den Sinn gekommen war. Möglicherweise hatte Dunkeldeutschland schon auf mich abgefärbt? Medienkritik war bekanntlich rechts, und so gesehen war schon der Gedanke die Unfehlbarkeit unserer Qualitätsmedien in Frage zu stellen, ein erster Schritt auf dem Weg ins Vierte Reich.
Mir gruselte es davor, doch es blieb mir nur ein Weg um endlich die glatzköpfigen Nazi-Horden zu finden die mir in den Qualitätsmedien versprochen wurden. Ich musste in den dunkelsten Teil Dunkeldeutschlands, das „Herz der Finsternis“ um es in den Worten von Joseph Conrad zu sagen. Nach Sachsen. Und nicht irgendwo in Sachsen, sondern nach Bautzen. Bautzen ist als Stadt nicht nur für ihren Senf und ihr ehemaliges Stasi-Gefängnis bekannt, sondern wurde vom ARD Monitor kürzlich als „Hochburg der Verschwörungsmythen“ bezeichnet. Gemeint sind dabei natürlich die Verschwörungsmythen der Corona-Leugner, die ihrerseits moralisch so in etwa zwischen Klima- und Holocaust-Leugnern rangieren, wie ich aus anderen Sendungen unserer Qualitätsmedien wusste. Es musste sich also um eine durch und durch rechtsextreme und wahrscheinlich völlig verwahrloste Stadt handeln.
Der Leser kann sich also meine Enttäuschung vorstellen, als ich in Bautzen ankam. Nicht ein einziger Neonazi lief mir über den Weg, als ich mir meinen Weg durch die baumgesäumte Hauptstraße in Richtung Stadtzentrum bahnte. Versteckten sich die Nazis vor mir? Gab es möglicherweise zwei Bautzens in Deutschland und ich war mit meinem 9-Euro Ticket ausversehen ins falsche gefahren? Doch nein, ein kurzer Blick auf Google Maps bestätigte meine Befürchtungen. Ich war tatsächlich im sächsischen Bautzen, dem Herz der dunkeldeutschen Finsternis (die seltsamerweise gar nicht so finster war).

Was mir am nächsten Morgen auffiel war, wie sauber die Stadt war. Und dies, obwohl in Bautzen laut Wikipedia nur 3% der Einwohner keine deutschen Staatsbürger waren. Ich hatte in den Qualitätsmedien gelernt, dass großangelegte Migration für das Überleben Deutschlands absolut notwendig war. Schließlich brauchte man fleißige Ausländer, die die Jobs erledigen, die faule Deutsche nicht machen wollen, zum Beispiel Müllwerker. Wobei ich mich dabei fragte, wie es möglich war, dass in Deutschland vor dem Beginn der ersten Einwanderungswellen in den 1960er Jahren überhaupt irgendetwas funktioniert hatte? Oh nein, da waren sie wieder die Zweifel am System! Schnell öffnete ich die ZDF-Mediathek App, und schaute mir eine Folge der Heute-Show an. Dabei konnte ich förmlich fühlen wie mein IQ sank und das Vertrauen in die Qualitätsmedien wieder stieg. „So“, dachte ich mir, „irgendwo in dieser Stadt wird doch ein verdammter Nazi zu finden sein!“ und begann Bautzen systematisch zu durchkämmen.
Ich startete mit der Altstadt – schön war es ja, dieses Bautzen, aber eigentlich war ich auf der Suche nach Nazi-Mobs vor verfallenden Plattenbauten. Doch die Passanten die durch das idyllische Stadtzentrum Bautzen schlenderten sahen ganz und gar nicht nach arbeitslosen Wutbürgern aus. Trotzdem beschloss ich zwei von ihnen anzusprechen und zu fragen wann denn die nächste Hetzjagd stattfinden würde. „Hetzjagd?“ erwiderten sie mit fragendem Gesichtsausdruck. „Naja, auf Ausländer, so wie in Chemnitz“ führte ich weiter aus und sah wie sich der Gesichtsausdruck meines Gegenübers ins ungläubige veränderte. „Ich hoffe, dass sie das nicht ernst meinen…“ sagte der Herr mit dem ich sprach, während seine Frau neben ihm energisch nickte. Auch ich war nun verwirrt. Am leichten Sächseln in der Stimme der beiden hatte ich erkannt, dass es sich um Einheimische handeln musste. Warum taten sie so, als gäbe es nicht mindestens ab und zu mal eine Hetzjagd in Bautzen? Was ging hier eigentlich vor sich? Machte sich irgendjemand ein Spiel daraus, mich zu täuschen? War ich in eine Folge der Sendung „Verstehen Sie Spaß?“ geraten?

Ich war in der dunkelsten Stadt Dunkeldeutschlands, und alles schien ganz normal. Die Straßen waren sauber, die Menschen freundlich und gut gekleidet, in den Cafés tranken die Einheimischen tatsächlich Kaffee und kein Dosenbier. Nicht einmal eine einzige Hakenkreuzschmiererei war an den Gebäuden zu entdecken. Vielleicht hatte die Corona-Epidemie einfach allen Nazis und Verschwörungstheoretikern den Gar ausgemacht? Schließlich war in den Kommentarspalten der Qualitätsmedien schon lange unverhohlene Freude darüber geäußert worden, dass sich die ungeimpften „AfD-Wähler und Covidioten“ durch ihre Impfverweigerung nun allesamt selbst ausrotten würden. Aber auch das konnte kaum sein, denn noch vor wenigen Monaten hatte die AfD hier fast 34% der Stimmen bei der Bundestagswahl erzielt.

Es war zum Verzweifeln. Ich war doch nicht nach Dunkeldeutschland gereist, um auf romantischen Marktplätzen Pizza zu essen und barocke Kirchen zu besichtigen. Ich war hier um mein Überlegenheitsgefühl gegenüber den Dunkeldeutschen zu bestätigen. Warum war hier alles so normal? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast denken, dass Dunkeldeutschland eigentlich gar nicht so dunkel ist. Möglicherweise konnte ich als privilegierter weißer Mann aber einfach nicht erkennen, wie schlecht es wirklich um Dunkeldeutschland bestellt war. Ich nahm mir vor, sobald wie möglich ein paar Dokumentationen der Qualitätsmedien über „White Privilege“ zu schauen und schämte mich innerlich. Auf der anderen Seite – konnte meine Sicht auf die Realität überhaupt so verschoben sein? Am nächsten Tag beschloss ich frustriert, genug von Dunkeldeutschland gesehen zu haben und entschied mich meine Reise zu beenden. Es war schlimm genug, dass die Reise mein westdeutsches Überlegenheitsgefühl ins Wanken gebracht hatte. Jetzt auch noch mein Vertrauen in die Qualitätsmedien zu verlieren kam gar nicht in Frage. Es würde mein gesamtes Weltbild in Frage stellen, denn andere Informationsquellen hatte ich nie genutzt. Und, seien wir mal ehrlich – was war wahrscheinlicher: Dass sich 46.000 Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks irren, oder dass ich mich irrte?
Außerdem war da noch eine Sache. Sollte ich öffentlich das Narrativ des Naziverseuchten Hetzjagd-Ostens anzweifeln, würde das wohl Konsequenzen für mich haben. Wer die Qualitätsmedien anzweifelte, wurde selbst zum Feind. Siehe Hans-Georg Maaßen. Denn, so hatte ich es oft gehört: Wer Nazis verharmloste, der war im Zweifel selbst einer. Wobei ich ja gar nicht vorhatte sie zu verharmlosen, sondern nur keine gefunden hatte. Naja, egal. Im besten Deutschland aller Zeiten legt man sich besser nicht mit den Qualitätsmedien an.
Ja, wo sind sie denn, die bösen Nazis? Habe auch schon lange keine mehr gesehen … danke für diesen schönen Text 👍
Wunderbar. Danke für diese Beitrag.
Ein großartiger satirischer Beitrag, bei dem einem das mit Tränen erstickende Lachen häufig im Halse stecken bleibt.
Bin auch Wessi und froh, dass es dieses „Dunkeldeutschland“ gibt.