Laufende Nasen und Ungeteste müssen draußen bleiben!

Von Marikka Wiemann | „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Alle? Das sieht die Kirche derzeit etwas anders. Man sollte diesen Bibelvers aus Matthäus 11,28 umformulieren in: Kommt her zu mir, alle, die ihr geimpft, genesen oder getestet seid – der Rest muss draußen bleiben. Denn genau dieses Vorgehen ist derzeit in Deutschlands Kirchen gang und gäbe und kaum im Sinne der christlichen Nächstenliebe. Ich habe mir den Orientierungsplan der evangelisch-lutherischen Kirche Sachsen angeschaut und muss ehrlich gestehen: Ich bin verwirrt. Regelungen sind Empfehlungen und es wird nur auf die derzeit geltenden allgemeinen Maßnahmen hingewiesen. Die tatsächliche Ausführung obliegt den einzelnen Gemeinden. Getestet werden soll auch erst ab der Überlastungsstufe (3G+!).

Außer in Sachsen ist man in Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Thüringen verpflichtet, den Impfstatus abzufragen. Ich bin gespannt, in wie vielen Gemeinden Ungeimpfte dieses Jahr den Weihnachtsgottesdienst besuchen dürfen. Da die Gemeinden selbst entscheiden dürfen, ist 2G oder 2G+ für einige eine Option. Mich persönlich erschreckt der Umstand, dass so etwas überhaupt möglich ist. Momentan scheint man dieser Idee noch abwartend gegenüberzustehen. Dabei müsste doch eigentlich klar sein: In einem Gottesdienst ist 2G ein offensichtlicher Verstoß gegen das Recht zur freien Religionsausübung. Das Tragen einer Maske, eine Testpflicht oder eine Anmeldung sind natürlich nicht unbedingt angenehm, hindern aber nicht am Gottesdienstbesuch. Mit 2G aber werden nicht nur diejenigen ausgeschlossen, die sich nicht impfen wollen, sondern auch diejenigen, die es nicht können. Es bleibt zu bezweifeln, ob dieses Verhalten ein Zeichen der christlichen Nächstenliebe ist. Die Nächstenliebe wird gleichgesetzt mit absoluter Solidarität.

Am Nikolaustag hat Beatrice von Weizsäcker (Tochter von Richard von Weizsäcker) auf der Internetseite evangelisch.de einen Kommentar veröffentlicht, der vor Aggression und Wut nur so überschäumt. Die Überschrift „Schluss mit der Nächstenliebe!“ hätte sie nicht besser auswählen können. Sie schimpft auf die „Impfgegner“, die das Leben anderer Menschen gefährden würden. Sie fühle sich „wie Moses, dessen Zorn entbrannte, als er vom Berg Sinai herabgestiegen war, um den Israeliten die Gesetzestafeln Gottes zu bringen… und sie beim Tanz um das Goldene Kalb sah: Er schleuderte die Tafeln fort und zerschmetterte sie am Fuß des Berges. (2. Mose 32,19)“. Um Gottes Willen! Das Goldene Kalb war eine Ersatzgottheit der Israelis und hat wirklich nichts mit einer Ablehnung oder Skepsis gegenüber der Impfung zu tun. Ich würde es eher umdrehen: das goldene Kalb ist die Hoffnung auf die Erlösung von der Pandemie in Form einer Impfung.

Es ist wirklich zum Fürchten, dass die Dame Ungeimpfte als Mörder hinstellt und ihnen die Schuld an der Situation in der Pflege sowie an den Coronatoten zuschiebt. Weitere Details erspare ich euch lieber. Nur noch so viel: am Schluss fordert sie einen Lockdown für Ungeimpfte – im drastischsten Fall sogar für alle – und natürlich eine allgemeine Impfpflicht. Ich habe zunehmend den Eindruck, dass vorauseilender Gehorsam und unbedingte Staatstreue zum Kennzeichen der evangelischen Kirche in Deutschland geworden sind. In der Heimatgemeinde meiner Eltern hing zum Beispiel ein Schild, auf dem stand, man müsse den Mund-Nasen-Schutz unbedingt die ganze Zeit aufbehalten – auch beim Niesen, Husten oder Nase putzen. Beim Niesen oder Husten leuchtet mir noch ein. Aber beim Nase putzen? Wie ekelhaft ist das bitte? Am Schluss noch ein kluger Hinweis: zur Not solle man nach draußen gehen, um die Nase zu putzen. Oh herzlichen Dank! Darauf wäre ich von allein nie gekommen.

Doch wie sollen sich die Kirchen am besten verhalten? Auf der einen Seite können sie sich glücklich schätzen, dass Gottesdienste überhaupt noch stattfinden dürfen – zumindest angesichts der aktuellen staatlichen Agenda und des erhöhten gesellschaftlichen Drucks. Auf der anderen Seite wäre das die Chance der Kirche zu zeigen, dass sie eben nicht weltlich orientiert ist und andere Maßstäbe besitzt. Dadurch würde sie sich Feinde schaffen und möglicherweise auch Spaltung innerhalb von Gemeinden provozieren. Ein Effekt dieser Reaktion wäre aber auch das Provozieren der allgemeinen Aufmerksamkeit. Die große Chance der Kirche besteht darin, als einzige größere Institution in der Lage zu sein, einen öffentlichkeitswirksamen Unterschied zu machen. Aber genau das scheint nicht zu passieren. Eher das Gegenteil ist der Fall.

Der MDR berichtete vor Kurzem, dass Pfarrer aus dem Erzgebirge, wie z.B. aus Schneeberg oder aus Zwönitz, zur Impfung aufrufen und es sogar Impfaktionen der Kirche gebe. Private Einstellungen der Pfarrer sind mir persönlich egal, aber als Kirchenoberhäupter tragen sie Verantwortung und sollen das Wort Gottes verkündigen. Menschen von einer Impfung zu überzeugen, liegt definitiv nicht in ihrem Aufgabenbereich. Ich habe keine Interesse an einer Kirche ohne Rückgrat, die sich nur noch am weltlichen Geschehen orientiert und keine eigenen bibeltreuen Werte vorzuweisen hat.

Die Kirche als Institution hat mehr Macht, als man vermuten könnte. Es ist noch gar nicht solange her, dass sich die Oppositionellen zu Friedensgebeten in der Kirche versammelt haben. Vielleicht wäre Deutschland ohne diese Gebete und die anschließenden Demonstrationen immer noch geteilt. In der DDR haben sich die Regierungsskeptiker in der Kirche versammelt, weil sie der einzige Ort war, an dem ein offener Austausch möglich gewesen ist. Wenn meine Eltern mir von der Wende erzählen, kann ich mir kaum vorstellen, dass in der Kirche Diskussionen und Debatten geführt werden konnten, ohne dass man Angst haben musste, etwas „Falsches“ zu sagen. Ich würde mir wünschen, dass die Kirche wieder ein Ort wird, an dem es möglich ist, seine Meinung frei zu äußern. Es wäre schön, wenn sie sich nicht mehr als politisches Organ, sondern wieder als Zufluchtsort für Regierungskritiker verstehen würde.