Japan – Deutschlands heimliches Vorbild?

Von Laura Werz | In den letzten Jahren hat Japan einen unglaublichen weltweiten Hype erlebt. Auf einmal interessierte sich ein Großteil der hippen Jugendszene für die „Kultur“ des kleinen Landes in Süd-Ost-Asien – zumindest für den Teil, der erfolgreich vermarktet wird. So kam nicht nur Sushi, sondern auch Cosplay, Bubble Tea und Macha Latte als erfolgreiche Exportschlager zu uns. Mit der ursprünglichen Kultur und Mentalität hat das allerdings nicht viel zu tun. Zwar kommen die Trenderscheinungen ursprünglich aus dem Land der Samurai. Doch spiegeln sie nichts der Jahrtausende alten Geschichte des Landes oder des tatsächlichen Lebens in Japan wider. Leider erstreckt sich das Interesse der meisten westlichen Japan-Fans nicht auf das wirkliche Japan – den Alltag, die Geschichte, Politik oder das Zusammenleben der Menschen im Land. Unsere Vorstellung von Japan wird durch einen Hype verklärt, der dem in Wirklichkeit vielseitigen Land in keiner Hinsicht gerecht wird. In dieser verrückten, bunten und schnelllebigen Welt meinen sich orientierungslose und kultur-desinteressierte jungen Menschen der westlichen Gesellschaft heute wiederzufinden. Für mich ist Japan aber mehr als Sushi und Bubble Tea – ich möchte euch einen ganz persönlichen Einblick in das Land der aufgehenden Sonne geben.
Einblicke in die tatsächliche Kultur Japans
Mein eigenes Interesse für Japan wurde wie bei vielen durch einen Anime geweckt. In meinem Fall war es der Anime „Detektiv Conan“. Die Kinder- und Jugendserie handelt von einem Oberschülerdetektiv, der sich durch ein Gift im Körper seines 7-jährigen Ichs wiederfindet und tagtäglich die kniffligsten Kriminal- und Mordfälle löst. Die Fälle sind stets so ausgebufft, dass niemand auf eine vergleichbar geniale Falllösung kommt, wie sie sich der Autor Gosho Aoyama für jede Folge minutiös ausdenkt. Die Serie hat mich lange durch meine Kindheit und Jugend begleitet. Anders als die meisten Kinderserien heute, die sich durch viele Bilder, Szenenwechsel, grelle Farben und rekordverdächtige Sprechgeschwindigkeiten auszeichnen, ist Detektiv Conan eine intelligent gemachte Krimiserie, welche ich mir auch noch 10 Jahre später gerne ansehe. Die Serie ist realitätsnah gestaltet, so werden tatsächlich existierende Orte Japans naturgetreu dargestellt und auch die Kleidung der Figuren und die Schauplätze entsprechen der Wirklichkeit.
Über Jahre hatte ich somit Einblicke in die japanische Welt, den Alltag japanischer Familien und lernte die Kultur des Landes kennen. Musik, Sprache, Darstellungsweise und vor allem die Verhaltensweisen der Charaktere untereinander unterschieden sich sehr stark von meinen eigenen Wirklichkeitserfahrungen. In den Darstellungen der Kinderserie bemerkte ich immer wieder große Verhaltensunterschiede zwischen den Japanern und dem mir bekannten Kulturkreis. Sehr oft konnte ich beispielsweise Reaktionen oder Aussagen meiner Lieblingsfiguren nicht nachvollziehen. Die Menschen schienen distanzierter zu sein, stellten ihre eigenen Bedürfnisse auf mir nicht verständliche Art und Weise zurück und pflegten einen von Grund auf anderen Umgang miteinander in der Öffentlichkeit. Wie authentisch die japanische Mentalität in meinem Lieblingsanime tatsächlich dargestellt wurde, erkannte ich erst später. Mit meinem stetig wachsenden Interesse für das Land, begann ich mich zunehmend mit den kulturellen Unterschieden zwischen Japan und der westlichen Welt zu beschäftigen.
Die Eigenheiten japanischer Umgangsformen
Japaner gelten auch international als sehr höfliches und zurückhaltendes Volk. Wenn wir die japanische Mentalität verstehen wollen, dürfen wir „Höflichkeit“ und „Zurückhaltung“ allerdings nicht nach europäischen Maßstäben messen. Ein Tabu in Japan ist beispielsweise das Wort „Nein“. Man sucht elegantere Wege, seine Abneigung zum Ausdruck zu bringen. Die deutsche Direktheit, die hierzulande untereinander nicht selten geschätzt und sogar erbeten wird, ist in Japan unvorstellbar. Das eigene Anliegen, eine Bitte oder auch eigene Bedürfnisse kommuniziert man subtil und dezent, andernfalls wird man als grob unhöflich wahrgenommen. Die Folge ist nicht selten, dass die eigenen Bedürfnisse nicht berücksichtigt oder gehört werden. Viele Japaner bewältigen ihre Probleme und Ängste mit sich allein. Gefühle zu zeigen, ist äußert unüblich. Sowohl Trauer als auch Ärger oder Wut versuchen Japaner vor der Öffentlichkeit zu verbergen und öffnen sich nur gegenüber ihren engsten Familienangehörigen – wenn überhaupt. Die höchste Tugend ist es, seine Gefühle zu verstecken. Diese Mentalität galt nicht nur zur Zeit der Samurai, sondern überdauert bis heute und drückt sich unter anderem dadurch aus, dass schon Kindern beigebracht wird, sich zu zügeln, Gefühle nicht zu zeigen und Disziplin zu wahren.
In Deutschland wird ganz zum Kontrast eine transparentere und offenere Kommunikation von Gefühlen gewünscht und sogar eingefordert. Nicht nur, dass Männer entsprechend der „toxischen Männlichkeit“ ihre Gefühle angeblich seit Anbeginn der Zeit in westlichen Kulturkreisen unterdrücken mussten und durch neue Verhaltensnormen endlich von diesem Leiden befreit werden. Sondern es wird auch eine allumfassende Rücksicht auf die Gefühle anderer gefordert. Fühlt sich jemand verletzt, diskriminiert oder nicht genug gesehen, dann muss dieses Gefühl kommuniziert und bis ins Bodenlose ausdiskutiert werden. Eine stille Zurückhaltung wie in Japan wäre da manchmal Balsam für jede nicht-woke Seele.
Die Lösung für alles stellt meistens die obligatorische Entschuldigung dar. „Es tut mir leid, ich wollte niemanden verletzen. Jetzt sehe ich es ein. Das werde ich nicht wieder sagen/tun/machen/denken.“ Wie ehrlich diese eingeforderten Bekenntnisse tatsächlich sind, ist fraglich. An dieser Stelle sind wir der japanischen Mentalität wieder einen Schritt näher – auch dort ist eine Entschuldigung à la „Gomen-nasai“ stets gern gesehen. Nebensächlich ist an dieser Stelle, ob man wirklich einen Fehler begangen hat. Solange man sich bei seinem Gegenüber entschuldigt, gilt der gegenseitige Respekt und die Höflichkeit in Japan als gewahrt. Ein wesentlicher Unterschied zu Deutschland ist allerding, dass diese Entschuldigungskultur in Japan über Jahrhunderte gewachsen ist. Obwohl diese Mentalität von den Japanern noch gelebt wird, wird sie doch zunehmend in Frage gestellt und kritisch betrachtet. In Deutschland wiederum führen wir diese Verhaltensnorm selbst herbei und zwingen sie einander auf. Vielleicht sollten wir vorher noch einen Blick auf das Land der aufgehenden Sonne werfen, wo sich eine stetige Sorge, etwas Falsches zu sagen, in der berühmten Zurückhaltung ausdrückt, man sich lieber zwei Mal zu viel entschuldigt und das gesellschaftliche Zusammenleben mehr Schein als Sein ist.
Das japanische Kollektiv
In Japan herrscht ein enormer Gruppenzwang. Schon unter Kindern im Klassenkollektiv, aber auch später unter Kollegen im Berufsleben, spielt die Gemeinschaft eine zentrale Rolle. Man lernt von klein auf sich anzupassen, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen und stets an erster Stelle an das Kollektiv zu denken. Kinder und Jugendliche in Japan sind neben dem sehr hohen Leistungsdruck außerdem enormen sozialem Druck ausgesetzt. Nicht ohne Grund ist ab einem Alter von ca. 10 Jahren Selbstmord in Japan die häufigste Todesursache bei Kindern, Jugendlichen, sowie jungen Erwachsenen. Zunehmend viele Japaner isolieren sich und meiden die Öffentlichkeit, um den Erwartungen und dem enormen Druck zu entfliehen. Die Folge ist nicht selten die absolute soziale Vereinsamung und Isolierung der Betroffenen, wofür es in Japan sogar ein eigenes Wort existiert: „Hikikomori“. Auch die Regierung hat die zunehmende Isolation als Problem der Nation erkannt und möchte sich dieser unter anderem durch die Schaffung eines „Ministers für Einsamkeit“ annehmen. Insgesamt ist die Selbstmordrate Japans eine der höchsten weltweit. Im Oktober 2020 starben in Japan beispielsweise mehr Menschen durch Suizid als insgesamt an Covid-19 bis zu diesem Zeitpunkt. Laut japanischer Polizeibehörden gab es im Oktober 2020 2.153 Suizide und bis Ende Oktober 2020 insgesamt 1.765 Todesfälle aufgrund Covid-19.
Die Gruppendynamik in Japan, welche Menschen zu Marionetten des gesellschaftlichen Konsenses degradiert oder bis in die Vereinsamung drängt, ist beispiellos und ebendiese adaptiert Deutschland zunehmend. In letzter Zeit konnte mit Worten wie „Solidarität“ und „Gemeinschaft“ nahezu alles gerechtfertigt werden. Während einerseits Selbstverwirklichung und Individualismus schon in den Grundschulen gepredigt wird, wurde der übermächtige Kollektivgedanke längst durch die Hintertür eingeführt. Diese Doppelmoral existiert so nicht mal bei den Japanern.
Abweichende Meinungen werden nicht zugelassen
Aber nicht nur das Gemeinschaftsgefühl schauen wir uns von den Japanern ab, sondern auch die Intoleranz gegenüber anderen Meinungen. Japan ist kein Land, das für seine Toleranz bekannt ist. Es gilt seit jeher als konservatives und zurückgezogenes Land, in dem man lieber unter sich bleibt und andere Völker und Kulturen meidet. Diese Mentalität zeigte sich besonders deutlich in der außenpolitischen Abschließung Japans welche von 1630 bis ins Jahr 1853 andauerte. Ziel war es, das Handelsmonopol in Japan zu schützen und dem wachsenden westlichen Einfluss und der Verbreitung des Christentums entgegenzuwirken. Über Jahrhunderte hinweg hat sich Japan isoliert von der restlichen Welt entwickelt und so sind bis heute Eigenarten und eine gewisse Fremdenfurcht im Land präsent. Die Japaner blieben lange weitgehend vor anderen Weltanschauungen und kritischen Stimmen verschont und bauten ihr Land gewissermaßen in einer Blase auf, die erst durch die erzwungene Öffnung 1853 zum Platzen gebracht wurde. Eine Debattenkultur, in der Schubladendenken und Schwarz-Weiß-Malerei peu-à-peu verabschiedet wird, wurde in Japan nie etabliert.
Deutschland wird Japan immer ähnlicher
Die japanischen Verhaltensmuster, welche mir als Kind, als ich meinen Lieblingsanime schaute, noch so fremd erschienen, bemerke ich inzwischen täglich in Deutschland. Ähnlich wie es in Japan schon seit Jahrhunderten gepflegt wird, haben heute viele Menschen auch in Deutschland eine private und eine öffentliche Meinung. Intoleranz wird in Deutschland konsequent unter dem Deckmantel des Minderheitenschutzes getarnt. So ist es kaum noch salontauglich, berechtigte Kritik zu äußern oder eine kritische Frage zu stellen, da sich stets jemand findet, der diese zum Anlass nimmt, sich in der Opferrolle in den Mittelpunkt zu spielen.
Wir laufen Gefahr, ähnliche Fehler wie die japanische Gesellschaft zu machen, indem wir den kritischen Diskurs abschaffen und es nur „die richtige Meinung“ gibt, wodurch Menschen entweder in eine Spirale der Abhängigkeit des Gemeinschaftsgefüges getrieben werden oder in die Einsamkeit bis hin zur Isolation. Nach Sushi und Matcha ist nun also auch die japanische Mentalität samt ihres Kollektivdenkens, der Intoleranz und Scheinheiligkeit in Deutschland angekommen. Hätten wir nicht bei der Begeisterung für Animes bleiben können?
Nichts sagen ist eine Blume –Japanisches Sprichwort
Wow. Toller Artikel. Ich war öfters in China und habe ähnliche Kulturunterschiede erfahren. Japan selbst kenne ich nicht, aber sollte ich dort mal aufschlagen wird es sicher helfen diesen Beitrag gelesen zu haben. Ihr seid ein tolles Team. Macht weiter. Es braucht junge Leute wie euch. Tragt eure Gedanken in die junge Generation. Verzagt nicht und lasst euch nicht einschüchtern
Schön ist es immer, wenn man beim Lesen etwas dazulernt. Das ist bei diesem Text der Fall.