Iraner stehen auf gegen das Mullah-Regime – und im Westen will man ihnen das Kopftuch schönreden

Von Jonas Aston | „Für meine Schwester, deine Schwester, unsere Schwestern“ oder „Dafür, ein normales Leben führen zu können, auf der Straße tanzen zu dürfen“ und weiter: „Für all die vielen Student*innen in Haft“, „Für Frauen, Leben, Freiheit!“. Das singen mutige Mädchen in einer iranischen Schule. Der Kamera sind sie mit dem Rücken zugedreht, aus Angst man könnte sie erkennen. Die sechs Schülerinnen nehmen ein großes Risiko auf sich. Sie solidarisieren sich mit der 22-jährigen Mahsa Amini, die von der iranischen Sittenpolizei angehalten, misshandelt und letztlich getötet wurde. Das alles, weil sie ihr Kopftuch nicht richtig getragen hat. Nun hat das iranische Regime mit Massenprotesten zu kämpfen.

Der Iran ist ein besonderes Land und unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von anderen islamischen Staaten. Das Gebiet des heutigen Irans wurde lange Zeit von Hochkulturen bevölkert. Lange Zeit stand für den Fortschritt der Menschheit der „fruchtbare Halbmond“, ein Gebiet, dass vom Jordantal über den Libanon, Syrien, den Euphrat und Tigris bis zum westlichen Iran und zum Persischen Golf reicht. Dort entwickelte sich vor ca. 11.000 Jahren eine Landwirtschaft mit Getreide- Viehzucht. Der „fruchtbare Halbmond“ lieferte die Grundlage für alle Hochkulturen des Nahen Ostens. Nach einiger Zeit breitete sich die Landwirtschaft von dort erst nach Anatolien und später vor etwa 9000 Jahren breitete sich die Landwirtschaftliche Nutzung von Feldern vom Balkan ausgehend über ganz Kontinentaleuropa aus.

Das heutige Staatsgebiet des Irans ist circa 4-mal so groß wie Deutschland und umfasst das historische Kernland des alten Persiens. Kyros der Große gründete als Schah das erste Weltreich der Geschichte und begründete damit der Herrschaft der Achämeniden. 539 v. Chr. Wurde Babylon eingenommen, 14 Jahre später wurde Ägypten eingegliedert. 490 v. Chr. traf das Reich auf das antike Griechenland und wurde letztlich durch den mazedonischen König Alexander den Großen erobert und zerstört. Nach dem Tod von Alexander folgte das Diadochenreich der Seleukiden und später das Reich der Sassaniden. Das Sassanidenreich fiel jedoch den Arabern in die Hände. Diese hatten in einem schnellen Eroberungszug große Teile der abendländischen Zivilisation geschluckt. Die lateinische bzw. griechische Kultur aus Nordafrika, Syrien und Ägypten verschwand und machte Platz für die Islamisierung bzw. die Arabisierung der Gebiete. 

Persien erwies sich da als widerstandsfähiger. Bis heute spricht man im Iran persisch und nicht arabisch. Zudem übernahmen die Araber anders als etwa von den Syrern übernahmen die Araber viele Elemente der persischen Kultur. Dadurch wurde der Mittelmeerraum nicht nur islamisiert, sondern auch orientalisiert. In der Architektur greift die islamische Welt heute im Kern auf die Persische und Oströmische Baukunst zurück. Eine selbstständige Baukunst hat sich tatsächlich nie entwickelt. Die typischen Kuppelbauten der Moscheen greifen als Vorlage etwa auf die Hagia Sophia zurück. Eine ehemals orthodox-christliche Kirche in Konstantinopel. Überhaupt herrscht im Islam künstlerisch ziemliche öde. In der gesamten islamischen Welt haben sich lediglich die Perserteppiche und (wenn auch nicht sehr ausgeprägt) die iranische Dichtkunst behauptet.

1501 wurde der schiitische Glaube endgültig zur Staatsreligion erklärt. Seit dieser Zeit befindet sich das Gebiet im islamischen Siechtum und nimmt am Niedergang der islamischen Welt teil. Der Iran war so rückständig, dass bis 1914 keine festgelegte Grenze zwischen dem damalig noch Persien genannten Land und dem Osmanischen Reich bestand. Erst dann wurde dies mithilfe der Briten und Russen nachgeholt. Im letzten Jahrhundert wurden Versuche einer Modernisierung gestartet. Ölinteressen und zwei Weltkriege führten zu Interventionen von ausländischen Mächten. Der letzte Schah, Reza Pahlavi, war ein autoritärer Herrscher, der jedoch zugleich von einem Modernisierungsgedanken getrieben wurde. Seine Erneuerungsversuche sollten jedoch scheitern. 1979 in der islamischen Revolution wurde Pahlavi gestürzt. In deren Verlauf besiegten die Islamisten schließlich noch ihre kommunistischen und liberalen Verbündeten, sodass am Ende der Revolution eine theokratische islamische Republik stand.

Diese islamische Republik besteht bis heute fort. Die oberste Herrschaft geht vom Wächterrat aus, die sich als Stellvertreter Allahs auf Erden gerieren. Der oberste Führer des Wächterrats ist der Ayatollah, welcher zugleich das Staatsoberhaupt. Dieser Wächterrat legt die gesamte Politik des Staates fest. Bei Wahlen dürfen nur jene Kandidaten gewählt werden, welche zuvor vom Wächterrat zugelassen wurden. Selbst Eingriffe in das Regierungshandeln ist dem Wächterrat möglich. Meinungs- und Medienfreiheit gibt es nur in dem vom Wächterrat gewünschten Rahmen. Die gesellschaftliche Ordnung und das Recht werden durch die Scharia geregelt. Mädchen dürfen ab 9 Jahren verheiratet werden, Homosexualität kann mit dem Tod bestraft werden. Jährlich gibt es im Iran rund 1000 Hinrichtungen, eine Zahl, die nur noch von China getoppt wird. Nirgendwo auf der Welt sitzen mehr Journalisten Im Gefängnis als im Iran und in der Türkei.

Diese repressive Herrschaft führte zu einem Exodus der iranischen Elite. Insbesondere Christen und Juden, die ausdrücklich verpflichtet sind, ein Kopftuch zu tragen, verlassen das Land. Die Christen tragen einen weit überdurchschnittlichen Anteil zum Wirtschaftsaufkommen des Iran bei. Der Iranische Zensus von 1966 ergab, dass in Teheran, Hauptstadt und wirtschaftliches Zentrum des Irans, zwei Drittel aller Christen und Juden des Landes leben. Dort arbeiten sie als Ärzte, Professoren oder Ingenieure. Der Anteil von Christen und Juden nimmt im Iran jedoch stark ab. Insbesondere wandern sie in den Westen ab. Das lässt sich aus Umfragen ablesen, die in Deutschland erhoben wurden, auch wenn diese sicherlich nicht zu 100 Prozent verlässlich sind. Eine Umfrage des BAMF von 2008 ergibt, dass unter den Zuwanderern aus dem Iran gerade einmal 45% Muslime sind. Unter den Zuwanderern, die zwischen Mai 2011 und Dezember 2015 nach Deutschland kamen, sind es sogar gerade einmal 32%. 

Doch auch im Iran selbst geht der Protest gegen das theokratische Regime weiter. Viele Iraner fühlen sich von ihrer Regierung fremdbestimmt, sie halten ihre Regierung für eine Regierung, die nur durch einen historischen Zufall an die Spitze des Staates kommen konnte. Anders als der Wächterrat möchten die stolzen Iraner nicht mit ihrer Geschichte brechen. Das iranische Volk sieht sich den umliegenden Staaten des Nahen Ostens überlegen und eher auf Augenhöhe mit dem Westen.

Tatsächlich unterscheidet den Iran vieles von den umliegenden Staaten. So gibt es im Iran einigermaßen funktionierende stattliche Strukturen. Das liegt weniger an der theokratischen Staatsform, sondern vielmehr an der vorherrschenden persischen Kultur und Mentalität. Es gibt ein verhältnismäßig leistungsfähiges Schul- und Hochschulsystem. Zudem ist die Bildung von Frauen in islamischen Staaten nirgendwo so weit fortgeschritten wie im Iran. Die Theokratie schöpft die Möglichkeiten, die die Scharia ihnen im Punkt Gleichberechtigung der Geschlechter gibt, tatsächlich aus. Die Besserstellung der Frau ist aber auch ein Versprechen der Revolution, dem das Regime zumindest annähernd nachkommen muss.

Die Aufwertung der Frau hat nun Folgen für den Iran. Im Iran leben rund 80 Millionen Menschen. Nirgendwo im Islam ist die Geburtenrate so niedrig wie im Iran. Auf 10 Frauen kommen in etwa 8 Töchter. Die iranische Geburtenrate entspricht in etwa der Deutschen. Nichtsdestotrotz werden im Iran mit 1,4 Millionen Kindern fast doppelt so viele Kinder geboren wie in Deutschland. Das liegt an der stark unterschiedlichen Bevölkerungsstruktur. In Deutschland liegt das Durchschnittsalter bei über 45, im Iran bei unter 30 Jahren. Die allermeisten Iraner erkennen den Herrscher nicht als den ihren an und leben in innerer Distanz zu dem Regime. In einem Land mit einer Bevölkerung von 80 Millionen liegt die Auflage aller Presseerzeugnisse bei gerade einmal 200.000. Die Iraner hegen großes Misstrauen gegen den Staat und die von ihm kontrollierte Presse. Beim Ranking der Pressefreiheit liegt der Iran auf Platz 178 von 180.

Dieser stille Protest wird jedoch zunehmend laut. Nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini haben Kritiker des Regimes, insbesondere Frauen, den Protest auf die Straße getragen. Sie legen ihr Kopftuch, als das Symbol des islamistischen Staates, ab. Sie kämpfen für die Freiheit und gehen das Risiko ein im Gegenzug ihr Leben oder zumindest ihre Identität, ihre Familie oder ihren Kulturkreis zu verlieren. Sie demonstrieren für die Werte des Westens, ausgerechnet dieser und hier im besonderen Deutschland fällt der Opposition aber in den Rücken. Wenn Salafisten in deutschen Innenstädten Korane verteilen dürfen und im Iran schon der Besitz einer Bibel verboten ist, sehen Politiker hierin kein Problem. Viele Politiker halten das Kopftuch sogar für einen Ausdruck der Emanzipation. Anders ist nicht zu erklären wie man etwa die islamische Gemeinschaft Milli Görus (IGMG) gewähren lassen kann. Diese behauptet: „Sinn dieses Gebotes (dem Tragen des Kopftuchs) ist es nicht die Frau in irgendeiner Form zu unterdrücken, sondern sie dem Diktat des Körperlichen zu entziehen“. Wie das Beispiel Iran zeigt, geht mit dem Kopftuch in aller Regel die Unterdrückung der Frau und/oder ein islamischer Herrschaftsanspruch einher. Mit der Religionsausübung hat das Kopftuch hingegen nur bedingt etwas zu tun. Weder im Koran noch in den Hadithen (Überlieferungen des Propheten Mohammed) wird der Hijab erwähnt.

Wie soll sich die iranische Oppositionsbewegung auf den Westen berufen, wenn dort das Kopftuch über den grünen Klee gelobt wird? Wie sollen sich die Iraner auf den Westen berufen, wenn Politikerinnen wie Claudia Roth, die einer Partei angehört, die vorgibt sich für eine „feministische Außenpolitik einzusetzen, sich im Iran ein Kopftuch überstülpen? Dass es auch anders geht, haben Michelle Obama und Melania Trump in Saudi-Arabien gezeigt, die sich beide nicht an das Kopftuchgebot hielten und stattdessen lieber dem „Diktat des Körperlichen“ unterwarfen. 

Am Ende ist es Aufgabe der Iraner sich ihrem islamistischen Regime zu entledigen, ihr Land zu modernisieren und ein neues Kapitel in ihrer großartigen Geschichte schreiben. Der Westen kann dies von außen nicht leisten. Der Westen sollte es aber tunlichst unterlassen das Kopftuch als ein Symbol der Emanzipation zu feiern. Der iranischen Opposition raubt man damit das Vorbild. Den theokratischen Herrschern liefert man hingegen die besten Argumente an die Hand.