Hörsaalbesetzungen an deutschen Unis: Auf dem Weg zu einem neuen 1968?
Von Marius Marx | Rückblick. Göttingen, den 24. Oktober 2022. Zentrales Hörsaalgebäude, kurz nach 22:00 Uhr.
Der bekannte deutsche Kriminalbiologe Mark Benecke hat soeben seinen Vortrag im größten Hörsaal der Universität Göttingen beendet. Etwas mehr als 90 Minuten sprach er dort zu hunderten interessierten Studenten unter dem Motto „Strom sparen, Müll trennen, imkern? Was gegen CO2-Bomben und das Artensterben wirklich hilft“ über die Auswirkungen des Klimawandels und was aus seiner Sicht dagegen zu unternehmen sei. Die Veranstaltung befindet sich gerade – so scheint es zumindest – in ihren letzten Zügen: Eine Vertreterin der Universität steigt mit dem Mikrofon in der Hand den Mittelgang des Hörsaals hinab, verweist auf die bereits fortgeschrittene Uhrzeit und setzt zu den üblichen Abschiedsfloskeln an: „Im Namen der Studentenschaft und der Universität möchte ich mich ganz herzlich bedanken“ und so weiter. Die ersten Zuhörer sind schon im Aufstehen und Zusammenpacken, das Publikum im Auseinanderstreuen begriffen, da durchschneidet von den oberen Rängen her eine männliche Stimme den Hörsaal: „Was wir brauchen ist Bewegung“. Dann Jubel und Applaus.
Ein junger Mann – offensichtlich Urheber des Zwischenrufs – läuft nun ebenfalls den Mittelgang hinunter. Auf den letzten Stufen angekommen wendet er sich an die Anwesenden: „Der Streik fängt an – Ihr könnt gerne gehen, aber ihr könnt auch bleiben, weil wir diesen Hörsaal besetzen.“ Von der Uni-Vertreterin bekommt er rasch das Mikrofon überreicht. Und während sich auf dem rechten Gang ein riesiges grünes Plakat, auf dem in roten Lettern das Wort „Besetzt!“ prangt, mitsamt seinen zahlreichen menschlichen Trägern nach unten bewegt, schwingt er sich auf das Podium, von dem aus er sich dem Publikum zuwendet und ausführt: (…) Wir sind zwar die Ersten, aber wir werden mit hunderten in 20 Ländern, mit Hunderten in Deutschland und der ganzen Welt Schulen und Unis besetzen und den Klimastreik wiederbringen.“ Dann erneute tosender Beifall, der nur von „Climate-Justice“-Sprechchören unterbrochen wird. Die Stimmung ist euphorisch und die Atmosphäre von revolutionärem Pathos getränkt.
Mehrere Dutzend Zuhörer folgen schließlich dem Aufruf des jungen Mannes und schließen sich spontan der Besetzung an: Wildfremde Menschen teilen sich fremde Schlafsäcke und übernachten auf dem kalten und zugigen Boden des größten Hörsaals der Uni. Die Sache ist ihnen wichtig. Nein, sie ist ihnen geradezu heilig.
So begann Ende Oktober in Göttingen die erste Besetzung einer deutschen Hochschule durch Studenten und Aktivisten der Organisation „End Fossil: Occupy!“. Nach einer Woche voller öffentlicher Debatten, Podiumsdiskussionen, Vorträgen und Zoom-Meetings mit Gleichgesinnten in Lissabon oder Pakistan endete sie erst als das Zentrale Hörsaalgebäude für eine der legendären ZHG-Partys in Beschlag genommen wurde.
Und ähnliche Szenen spielen sich seit Ende Oktober deutschlandweit regelmäßig ab. Denn wie angekündigt blieb es nicht bei einer einmaligen Aktion. Viel mehr markierte die Besetzung in Göttingen nur den Startschuss im Rahmen einer groß angelegten internationalen Kampagne. Seither kam es beinahe täglich in einer Vielzahl von Städten in Deutschland, aber auch weit darüber hinaus zu solchen Besetzungen.
Besetzte Hörsäle unter anderem in Berlin, Marburg, Karlsruhe und Nürnberg
Mitte November wurden so unter anderem Hörsäle der Universität Marburg, des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und der Hochschule Nürnberg für Musik besetzt. Darauf folgten etwa Hörsäle an den Universitäten Regensburg, Erlangen und Duisburg-Essen. Die Universität Köln stellte Klimaaktivisten vom 7. bis 18. November einen Saal in ihrem Hauptgebäude zur Verfügung, wo diese nach eigenen Angaben ein „Klimabildungsprogramm“ durchgeführt hätten.
In Marburg beteiligten sich etwa 30 Studenten an der Besetzung des großen Hörsaals der Philipps-Universität. Etwa zeitglich besetzten Aktivisten der Berliner Ortsgruppe von „End Fossil Occupy“ auch einen Hörsaal der Technischen Universität. Erst kürzlich wurden auch Hörsäle an den Universität Augsburg von Klimaaktivisten in Beschlag genommen.
Besetzungen auch in zahlreichen anderen Ländern
Auch im Ausland werden derzeit Hörsäle besetzt. Laut der österreichischen Zeitung „Der Standard“ besetzten Aktivisten der Gruppe „Erde brennt“, die sich ebenfalls der Kampagne „End Fossil“ zuordne, einen Hörsaal der Universität Wien. Auf der Webseite von „End Fossil: Occupy!“ sind darüber hinaus weitere internationale Standorte von Besetzungen an Universitäten und Schulen angegeben, etwa in Rotterdam, Paris, London, Lissabon, Barcelona und Kopenhagen sowie in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Konkretes Ziel der zahlreichen Hörsaalbesetzungen sei die Mobilisierung einer „Massen-Klimagerechtigkeitsbewegung“, die neben der Verkehrswende auch für ein schnelles Ende der Nutzung fossiler Energieträger eintritt. Die Besetzung von Universitäten diene dabei als Mittel im Kampf um „unsere Gegenwart und Zukunft“, schreibt die Berliner Ortsgruppe von End Fossil auf ihrer Website. Neben den üblichen Forderungen nach mehr und schnellerem Klimaschutz und der Vergesellschaftung bestimmter Industriezweige, wird allerdings auch die Einführung verpflichtend – von jedem Studenten unabhängig seines Studiengangs – zu besuchender Lehrveranstaltungen zur “Bewältigung der Sozial-Ökologischen Transformation” und zu “gesellschaftlichen und naturwissenschaftlichen Aspekten der Klimakrise” gefordert.
Hochschulen glänzen durch Nichtstun
Das Muster der Besetzungen ist dabei häufig sehr ähnlich. Im Anschluss an meist recht gut besuchte offizielle inneruniversitäre Veranstaltungen schnappen sich die Aktivisten das Mikro, proklamieren die Okkupation des Hörsaals und nisten sich dann tagelang dort ein. Für die Dauer der Besetzungen veranstalten sie in den betreffenden Räumlichkeiten dann meist umfangreiche inhaltliche Programme mit Vorträgen, (Podiums-)Diskussionen und internationalen Meetings.
Und die Unis? Die tun – ja was eigentlich? – im Grunde überhaupt nichts. In Marburg bspw. sollten die Besetzer eigentlich ursprünglich nach einem Tag wieder abrücken. Nach Gesprächen mit den Aktivisten entschied sich das Präsidium dann allerdings dazu, die Duldung um drei weitere Tage zu verlängern. Weil die Auflage und Forderung, dass der reguläre Vorlesungsbetrieb nicht gestört werde, eingehalten worden sei, so dass alle geplanten Veranstaltungen in dem Raum hätten stattfinden können, sah man sich zu keinem energischerem Vorgehen veranlasst.
Auch bei der Besetzung des Audimax des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) übte sich die Hochschulleitung in Zurückhaltung. Zunächst wurde mit den Aktivisten zwar eine enge zeitliche Befristung vereinbart, aber auch als diese längst verstrichen war, wurden die Protestierenden weiterhin geduldet anstatt rausgeschmissen zu werden. Zu Beginn des Protestes hieß es vom KIT, dass es keinen Anlass sehe, den Protest der Studierenden zu beenden, weil der Lehrbetrieb nicht beeinträchtigt sei. Schließlich könnten Vorlesungen auch in Anwesenheit der Aktivisten problemlos stattfinden. Außerdem gehörten erneuerbare Energien sowieso zu den großen Forschungsthemen des KIT.
Vergleichbar vorauseilend affirmative Töne konnte man auch aus Nürnberg hören. Der Hochschulpräsident der Hochschule für Musik in Nürnberg, Professor Rainer Kotzian, erklärte dort in Reaktion auf eine Hörsaal-Besetzung lapidar, dass Klimaschutz eine gesellschaftliche Aufgabe sei, der sich auch die Hochschule widme.
Kritik an Besetzungen von christlichen und liberalen Hochschulgruppen
Während sich die Hochschulleitungen und Studenten also bislang weitgehend unterstützend gegenüber den Aktionen zeigten, kam immerhin aus Richtung christlich-konservativer und liberaler Hochschulgruppen Kritik an den Besetzungen auf. So kritisierte beispielsweise der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) Baden-Württemberg die Besetzung des Hörsaals des Audimax am KIT „aufs Schärfste“, da er sich gegen jede Störung der freien Lehre stelle. Zurecht prangerten sie nicht nur die Aktivisten, sondern auch die Hochschulleitung an und betonten, dass es eine Schande sei „schon wieder zusehen zu müssen, wie eine Universitätsleitung sich von einer Minderheit von Klima-Extremisten gängeln lässt.“ In Göttingen äußerte vor allem die Liberale Hochschulgruppe (LHG) Kritik an den Besetzungen. In einer Pressemitteilung vom 25. Oktober heißt es unter anderem: „Es ist inakzeptabel, dass mit solchen Mitteln in den universitären Regelbetrieb eingegriffen wird, vor allem jetzt zu Semesterbeginn. Gerade die Bildung ist ein sensibles Gebiet, das es zu schützen gilt – als Demokraten und Verfechter guter Bildung für alle sehen wir die Besetzung als untragbar.“
Potenzial für eine neue 68er-Bewegung?
Mit einem baldigen Ende der Kampagne ist allerdings nicht zu rechnen. Für Deutschland hat „End Fossil Occupy“ bis in den Dezember hinein weitere Uni- und Schulbesetzungen in über 20 Städten angekündigt. Auf ihrer Website heißt es zu ihrer favorisierten Methode offen „Besetzen bis zum Erfolg“. Mit anderen Worten: Erpressen bis zum Erfolg. Die deutschen Uni-Leitungen scheinen das bislang weitgehend unproblematisch zu finden. Entweder scheinen sie nichts gegen Erpressungen einzuwenden zu haben, oder – was wahrscheinlicher ist – empfinden die Besetzungen überhaupt nicht als solche, weil sie – was in einer Vielzahl an Äußerungen ja mehr als deutlich wurde – die Forderungen grundsätzlich unterstützen. Deswegen darf das Gewährenlassen der Klimaaktivisten durch die Hochschulleitungen auch nicht als Akt grundsätzlicher Toleranz gegenüber studentischen Formen des zivilen Ungehorsams missverstanden werden. Toleranz zeigt sich nämlich gerade nicht durch die affirmative Haltung zu Gleichgesinnten, sondern viel mehr in der Haltung zu Aktionen und Einstellungen, dessen Intention man nicht teilt. Aber kann sich irgendjemand ernsthaft vorstellen, dass deutsche Hochschulleitungen tatenlos zugesehen hätten, wenn deutschlandweit freiheitliche Studenten während der Hochphase der Pandemie Hörsäle besetzt hätten, um für eine Rückkehr zur Präsenzlehre, eine Abschaffung der Maskenpflicht oder dem Ende der unbegründeten Ausgrenzung ungeimpfter Kommilitonen zu protestieren? Wohl kaum.
Und genau darin liegt auch die Gefahr der gegenwärtigen Hochschul-Besetzungen: Es gibt schlichtweg niemanden, der sich dazu berufen fühlt, sich solche Aktionen in den Weg zu stellen. Stattdessen sind von allen Seiten die gleichen unterwürfigen Töne zu vernehmen, um ja keinen noch so kleinen Konflikt zu produzieren. Im Schoße passiver oder aktiv unterstützender Universitätsleitungen und Studentenschaften wächst so aktuell eine „Klimagerechtigkeitsbewegung“ heran, der zur Erreichung ihrer mit absolutem Wahrheitsanspruch untermauerten Zwecke zunehmend alle Mittel Recht zu sein scheinen. Denn was passiert, wenn sich – wie es sich mancherorten schon abzeichnet – herausstellen sollte, dass die Besetzungen nicht zum gewünschten Erfolg führen? Wird dann mit anderen Mitteln „bis zum Erfolg“ erpresst?
Noch fehlt es der Bewegung zwar an Dynamik und Massencharakter, aber das Potenzial und die ideologischen Voraussetzungen für eine neue 68er-Bewegung sind an deutschen Hochschulen allemal gegeben. Was den Aktivisten bislang fehlt, ist weniger die Sympathie oder Unterstützungsbereitschaft der Studentenschaft als ein konkreter Anlass, ein Ereignis, das den Funken von ihnen auf breitere Teile überspringen lässt und das Fass schließlich zum Überlaufen bringt. Vielleicht reicht dafür schon der nächste Hitzesommer, ein Waldbrand in Brandenburg, ein Hochwasser oder eine Naturkatastrophe in Pakistan. Fest steht bislang nur, dass sich die Professorenschaften und Hochschulleitungen – zum Teil selbst Alt-68er – einer Neuauflage der 68er-Proteste in Form einer Klimagerechtigkeitsbewegung überwiegend eher anschließen, als entgegenstellen würden.