Hat jeder Wohlstand ein Ende? Deutschlands Parallelen zu Japan

Von Simon Ben Schumann | Die Corona-Krise scheint sich langsam zu verflüchtigen. Mit ihr fallen weltweit starke Einschränkungen von Grundrechten, Hass gegen Andersdenkende ist zumindest momentan weniger zu vernehmen. Der digitale Impfnachweis als Voraussetzung zur Teilnahme am alltäglichen Leben ist vorerst keine Realität mehr, auch die allgemeine Impfpflicht wurde abgelehnt.
Doch wo Mitternacht vorbei ist, muss noch lange nicht die Sonne scheinen. Unsere Gesellschaft steht vor großen Problemen – und das, obwohl so vieles nach Besserung aussieht.
Die Spaßgesellschaft
„Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“ – das soll Mark Twain einmal gesagt haben. Und tatsächlich: Zivilisationen, Kriege und sogar Dekaden lassen sich manchmal gut vergleichen. Mit den Goldenen Zwanzigern haben wir z. B. eine Pandemie Anfang des Jahrzehnts, steigende Inflationsraten und technischen Fortschritt gemeinsam. Kommt euch bekannt vor? Aber hallo!
Eine Parallele, in der wir heute den Menschen in der Weimarer Republik in nichts nachstehen, ist der Hedonismus. Für alle, die im Philosophie-Unterricht zufällig auf der Toilette waren: Das bedeutet Streben nach Lustbefriedung und Schmerzvermeidung als höchster Lebenszweck. In den „Roaring Twenties“ gab es viel davon: Luxus verbreitete sich, Nachtclubs mit Tänzerinnern à la Josephine Baker öffneten, teure Autos befuhren die Alleen der Großstädte. Ein krasser Gegensatz zur prüden monarchischen Gesellschaft.
Heute findet das alles in weit größerem Rahmen statt: Sei es die Hook-Up-Culture auf Tinder & Co, „Blackout Saufen“ am Wochenende, starke Sexualisierung und Gewaltverherrlichung in der Pop-Kultur, Ehe- und Kinderlosigkeit etc. Auch der Hype um gewisse Themen kann als ein Merkmal einer „Spaßgesellschaft“ betrachtet werden: An der Börse wird oft in das investiert, was im Reddit „Wallstreetbets“ angesagt ist (wobei ich keine Ausnahme bin). Die neueste Diät, der neueste Sneaker, die neueste Uhr – iced out, versteht sich. All das macht das öffentliche Leben immer mehr aus – und den Alltag junger Leute Stück für Stück belangloser.
Die Kirchen als althergebrachte Kulturstifter haben oft ausgedient. Man könnte sagen, unsere Zivilisation steht am Zenit ihrer Entwicklung, aber wie lange wird sie sich dort halten können?
Golden Twenties forever?
Ein gutes Beispiel dafür, wohin eine zwar wohlhabende, aber perspektivlose Gesellschaft abdriften kann, ist das Land Japan.
Früher bekannt für brutalste Kriegsführung und Expansionismus an der Seite der Nazis, hat sich das Land nach dem 2. Weltkrieg mit dem Westen versöhnt. Innerhalb einiger Jahrzehnte boomte die Wirtschaft, Japan war auf dem Weg, die USA zu überholen. Doch in den späten 1980er Jahren und besonders in den 1990ern platzte die Seifenblase. Der Leit-Börsenindex Japans ist der Nikkei 225. Er stand 1989 bei fast 40.000 Punkten. Danach stürzte er ab und hat sich seitdem nie mehr erholt. Heute steht er bei noch knapp 27.000 Punkten.
Genauso verhält es sich mit der Bevölkerungsentwicklung in Japan. Wir in Deutschland diskutieren seit Jahrzehnten über das Thema demographischer Wandel – ein Blick nach Japan zeigt, wie es bald bei uns aussehen könnte. Die Bevölkerungspyramide dort hat bereits die gefürchtete „Urnenform“ angenommen. Die Geburtenrate lag 2016 bei 1,44 – bei uns beträgt sie aktuell ca. 1,5. Das heißt, Rentner und ältere Arbeitnehmer stellen den Großteil der Menschen, während deutlich weniger Kinder als früher nachkommen. Die Belastung liegt bei den Jüngeren, die mit immer mehr Druck, Stress und Abgaben zu kämpfen haben. Logisch: Um Renten zu zahlen. In Japan gibt es sogar ein Wort dafür: „Karōshi“, was sinngemäß „zu Tode gearbeitet“ bedeutet. Wohlstandsverlust ist weit verbreitet. Um das System aufrechtzuerhalten, sind die Zinsen schon lange im Nullbereich; die japanische Zentralbank kauft Staats- und Unternehmensanleihen auf.
Die einzig boomende Branche ist der Unterhaltungssektor. Manga, Videospiele, Karaoke und Co. sind willkommene Ablenkung. Und auch wir beobachten bei uns immer mehr Eskapismus in Entertainment aller Art, wobei Moral und Realität oft auf der Strecke bleiben, siehe Corona.
Erwartet uns also eine Zukunft wie in Japan? Ich hoffe doch nicht. Und wenn es einer in der Hand hat, dann wir jungen Leute.