Geschichtsfälschung à la Netflix. Jane Austen ist jetzt woke

Von Anna Graalfs | Netflix hat es mal wieder geschafft. Mein geliebter Jane Austen Roman „Persuasion“ ist auf der Streaming-Plattform brandneu als wokes Feministen-Drama zu sehen. Der Video-Schuppen ist mittlerweile ja dafür bekannt, die Crème de la Crème in Sachen Wokeness zu produzieren, aber dass sie jetzt auch noch schöne Romanklassiker in den Dreck ziehen, geht mit als Leseratte gehörig zu weit! Doch eins nach dem anderen:
Die Schönheit von Persuasion
In „Persuasion“, zu deutsch „Überredung”, geht es um Anne Elliot, die vor Jahren von ihrer Patentante überredet wurde, den Heiratsantrag des mittellosen Marineoffiziers Frederick Wentworth abzulehnen. Doch acht Jahre später kehrt der mittlerweile wohlhabende Captain zurück und die beiden treffen sich wieder… Wie alle Bücher von Austen ist auch Persuasion unfassbar fortschrittlich für seine Zeit und das auch noch in wunderschönem Englisch:
„I hate to hear you talk about women as if the were fine ladies instead of rational creatures. We none of us expect to be in smooth water all our days.” (Mrs. Croft)
Es liegt nahe, warum ich Austens Werk gerne als „den wahren Feminismus” bezeichne, oder? In Persuasion geht es um nicht weniger als die Selbstbestimmung der Frau. Anne Elliot realisiert im Laufe des Buches, dass Rat von Freunden und Familienmitglieder wertvoll ist, sie jedoch letztendlich nur selbst die besten Entscheidungen für ihr eigenes Leben treffen kann. Viele Menschen lesen das Buch heute, ohne sich in die Lage der Frau zu dieser Zeit hineinzuversetzen. Zur Info: Das Buch wurde 1818 veröffentlicht. Damals war es geradezu revolutionär, dass Jane Austen lieber selbstständig Geld mit Romanen verdienen wollte, als sich nach einem Ehemann umzusehen. Dass die meisten Menschen zu blöde sind, um Geschichten in ihrem historischen Kontext zu lesen, haben die Macher der „Persuasion“-Verfilmung sichtlich für sich ausgenutzt. Der Film wurde hypermodernisiert – und der alte Feminismus Austens in den heutigen Woke-Feminismus übersetzt.
Persönlichkeitswendung um 360° – mit welchem Ziel?
Beispielsweise gibt es eine Szene, in der sich Frederick bei Anne für seine „Überfürsorglichkeit” entschuldigt – 10.000 Meilen weit weg von der Buchvorlage und abgesehen davon: historischer Unsinn. Kein Mann hätte sich 1818 dafür entschuldigt. (Gott sei Dank!) Aber was mich viel mehr aufregt: Die Filmfutzis haben die Hauptfigur Anne charakterlich so sehr verändert, dass sie kaum wieder zu erkennen ist. Anstatt zu zeigen, dass Romanheldinnen auch ruhigerer Natur sein können (so ist Anne nämlich im Buch), haben sie Anne zur frechen 2022-Feministin gemacht. Allein dass Anne im Film eine Art Erzählerrolle einnimmt, passt überhaupt nicht zum eigentlichen Charakter: Anne ist passiv, selbstaufopfernd und selbstlos. Oft behält sie ihre Meinung lieber für sich, was keineswegs bedeutet, dass sie keine hat, und genau das ist es, was sie zu einem interessanten Charakter macht und von anderen Frauencharakteren unterscheidet.
Die Netflix-Adaption übersieht das komplett: Auf dem Bildschirm sieht man eine laute, links-grüne Rotzgöre im 1818-Kostüm, von der wahren Anne Elliot ist fast nichts übrig geblieben. Und wenn man genauer überlegt, ist damit nicht nur der Charakter ruiniert, nein, die ganze Story macht auch keinen Sinn mehr. Wäre Anne schon immer so vorlaut und selbstsicher gewesen, hätte sie sich doch niemals überzeugen lassen, Wentworth nicht zu heiraten.
Geschichte modernisieren zu wollen, ist Schwachsinn
Kultur kann in zwei Bereiche unterteilt werden. Oberflächliche Kultur: Traditionen, Kleidung, Essen – das was man von einer Kultur sieht. Und tiefergehende Kultur: Werte, Normen, Klassenunterschiede oder zum Beispiel die Rolle von Mann und Frau. Das Hauptproblem der Persuasion-Adaption ist, dass die tiefe Kultur des Buches vollständig ins Jahr 2022 übertragen wurde. Allein die oberflächliche Kultur von 1818 wurde versucht aufrechtzuerhalten (Betonung auf „versucht”, die Kostüme sind nämlich historisch schmerzhaft ungenau). Und da liegt der Haken: Die oberflächliche Kultur steht in direktem Zusammenhang mit der tieferen Kultur. Es macht absolut keinen Sinn, dass die Frauen die langen Kleider der Regency-Ära tragen, sich aber gleichzeitig wie freche Feministinnen geben. Will man dem Zuschauer ersthaft verkaufen, dass sich die Denkweise schon ach so sehr verändert hat, die Klassengesellschaft und äußere Gegebenheiten aber nicht? Liebe Persuasion-Macher – das ist doch reine Verarsche!
Ihr hättet es ganz anders machen können!
Dabei hätte es für das ganze Dilemma eine so einfache Lösung gegeben: Macht doch einfach einen Film, der inhaltlich von Austens „Persuasion” inspiriert ist, aber heutzutage spielt. Die Charaktere könnten dort von mir aus so woke sein wie sie wollen – wäre ja leider wahr und diese peinliche Geschichtsverzerrung bliebe einem erspart. Was mir aber noch viel besser gefallen würde: Macht doch mal einen Film, der dem Buch getreu ist! Aber vielleicht sind das nur unerfüllbare Leseratten-Träume…