Generation G8: Schüler als Laborratten?


Von Simon Ben Schumann | G8 spaltet die Gemüter – sollte die Schullaufbahn aus Grundschule und Gymnasium 12 Jahre dauern, oder doch lieber altbewährte 13? Weder unter Schülern noch unter Eltern gibt es einen eindeutigen Konsens, die Mehrheit tendiert zu G9. Mittlerweile wurde G8 in mehreren Bundesländern wieder abgeschafft.

Ich hatte 12 Jahre Schule, davon 8 am Gymnasium – und habe eher negative Erfahrungen gemacht. Klar, es ist cool, ein Jahr früher das Abi zu bekommen. Doch dafür habe ich, nach eigenem Empfinden, weniger Bildung ins spätere Leben mitgenommen.


Warum eigentlich 12 Jahre?

Ab dem Jahr 2003 wurde in Deutschland bundeweit die Abiturzeit an Gymnasien auf 8 Jahre verkürzt. Was vorher nur im Nationalsozialismus und der DDR gegolten hatte, war vor allem in Westdeutschland eine große Neuerung; dort waren seit Kriegsende 13 Jahre Gesamtschulzeit die Regel.
Die Gründe werden kontrovers diskutiert und kritisiert. Denn hinter der Schulzeitverkürzung steckte nicht etwas das Wohl der Schülerschaft, sondern wirtschaftliche Motive. Stiftungen und Gremien wiesen darauf hin, dass die Schulzeit deutscher Gymnasiasten länger als im Ausland sei. Der demographische Wandel bot einen weiteren Grund, Abiturienten schneller auf den Arbeitsmarkt bringen zu wollen.

Eine längere „Lebensarbeitszeit“ sollte die Nachwuchsprobleme der deutschen Bevölkerung abfedern. Wer früher die Schule beendete, würde im Schnitt länger arbeiten und Leistung für die Wirtschaft bringen. Der Nebeneffekt: Mehr Steuern und Sozialabgaben für Staat und Rentenkasse. Diese Argumentation wirkt auf mich ein bisschen wie aus einer Dystopie entnommen; in einem Film sollte an dieser Stelle wohl jemand aufhorchen und sagen „Das ist absolut keine gute Idee.“
Auch damals schon gab es Kritiker, die das Offensichtliche ansprachen: Muss ein Jahr Schulzeit nicht irgendwie kompensiert werden, ohne dass die Schüler deswegen Probleme bekommen? Die Antwort darauf war, die Wochenstunden zu steigern. Besonders der Nachmittagsunterricht würde dafür sorgen, dass kein „Stoff“ unterginge. Mehr Ganztagsschulen mit Mensa und Freizeitangeboten würden ihr Übriges tun, damit die ohne Not eingeführte Reform glatt ginge. Schließlich hätte das Ganze in der ehemaligen DDR auch funktioniert.


Der Abiturient: taugliche Arbeitskraft?

Trotz warnender Stimmen ging die bundesweite Reform an den Start. Sie wurde auch zur Zeit der Einführung als Experiment begriffen; was passieren würde, war unklar. Bald fingen die Probleme an. Schüler und Lehrer klagten darüber, dass Jugendliche einfach keine Lernmaschinen seien, die man nur bis zum Nachmittag in den Unterricht schicken müsste, um den Bildungsstand zu heben. Ich erinnere mich selbst noch gut, wie an meiner Schule in der 6. Und 7. Klasse „ausgesiebt“ wurde – so bezeichneten das sogar die Lehrer. Statt individueller Förderung und wirklicher, intrinsisch motivierter Bildung hieß es: Wer nicht paukt, fliegt raus. Manche meiner Mitschüler überstanden das nicht und ernteten dafür nur wenig Verständnis. Mehrmals in der Woche gab es damals schon Nachmittagsstunden, die Schule dauerte öfter bis 15:10 Uhr. Das hieß auch weniger Freizeit; gegessen wurde in der Mensa, später durften wir auch in die Innenstadt zum Dönermann.


Schlimm wurde es für viele G8-Versuchskaninchen, als sie in die Oberstufe kamen. Die Wochenstunden erhöhten sich. Bei uns war es so, dass die Schule jetzt immer lange dauerte, mit 34 bis 36 Wochenstunden. Meistens hatten wir bis 16:00 oder 16:50 Uhr Schulzeit – im Winter war es dunkel, wenn man in die Schule kam, und dunkel, wenn man sie wieder verließ. Ebenso düster waren die Aussichten, auf diesem Weg eine tiefsitzende, humanistische Bildung zu erhalten. Manche Lehrer gaben sich viel Mühe – Sternstunden waren unser Geschichts-Leistungskurs – aber meistens plätscherte der Unterricht vor sich hin. Das Curriculum wurde in vielen Fächern durchgepeitscht.


Die Wendung „Wir müssen mit dem Stoff weiterkommen!“, die viele G8ler kennen, drückt ein Grundproblem des Feldversuchs aus. Statt sich der wirklichen Förderung der einzelnen Menschen zu widmen, war das System schon intentionell darauf ausgerichtet, Arbeitskräfte mit Abiturzeugnis zu „produzieren“. Meine Freunde und ich bestätigten uns gegenseitig, dass der für Klausuren gepaukte Stoff das Gehirn danach fluchtartig verließ. Eine Bindung an den Inhalt gab es nicht; eher schon an die Note unter dem Erwartungsbogen.

Rückblickend ist es aus meiner Sicht schade, dass die G8-Reform in Deutschland eingeführt wurde. Viele Schüler waren oft gestresst, erfuhren qualitativ unzureichende Bildung und wurden manchmal sogar ihrem Abitur beraubt, weil Interessenvertreter aus Wirtschaft und Politik nur an sich selbst dachten.
Für die Zukunft können wir aus dieser Erfahrung aber etwas mitnehmen. Als junge Leute und irgendwann als Eltern müssen wir darauf Acht geben, was unsere Vertreter in Berlin und den Landeshauptstädten mit den Schulen und unseren Kindern vorhaben. Denn die Verantwortung und die Konsequenzen solcher Entscheidungen werden im Endeffekt nicht von Politikern oder Wirtschaftsvertretern getragen, sondern von uns Bürgern.

1 Antwort

  1. Cookie Monster sagt:

    Das erinnert mich an eine Story in der Zeitschrift „Men‘s Health“. Motto: „Halbiere alles!“ Um die Zeit effektiver zu nutzen, sollte Mann alles in der Hälfte der Zeit bzw. doppelt so schnell tun, angefangen beim Essen bis zum Vorspiel mit der Freundin … Die Idee, die Schulzeit einfach ein Jahr zu verkürzen, ist genauso bekloppt.